›Scham‹ und ›Schande‹ haben etymologisch den gleichen Ursprung, und sie hängen im allgemeinen Sprachverständnis bis heute zusammen. Man schämt sich, weil bzw. wenn man etwas als Schande (oder harmloser: als Peinlichkeit) empfindet, mit dem man selbst direkt oder indirekt verbunden ist, sich identifiziert oder identifiziert wird. Persönliche Schuldgefühle sind dafür nicht unbedingt die Voraussetzung, auch wenn es in Deutschland nach 1945 derselbe Diskurs war, der um Schuld und Scham geführt wurde. Es liegt auf der Hand, dass Scham desto stärker empfunden wird, je persönlicher Schuld oder Versagen zugerechnet werden können. Entsprechend stark sind die Abwehrmechanismen. Es sollte deshalb nicht verwundern, dass die meisten wirklichen Täter weder Reue noch Scham zeigen konnten, gerade wegen der Monstrosität der Verbrechen.
Mit Abwehr reagierte auch die Masse der Mitläufer und Unbelasteten, wenn sie sich von den Siegern des Zweiten Weltkriegs kollektiv auf die Anklagebank gesetzt fühlten. Eine offizielle alliierte These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes gab es nicht, allerdings manche Verlautbarungen und Maßnahmen der Besatzungsmächte, die von den Betroffenen so verstanden werden mussten oder zumindest konnten. Bei der Zurückweisung von Vorwürfen, die man als ungerecht und deren Urheber man mangels Erfahrungen in einer terroristischen, totalitären Diktatur als inkompetent ansah, neigten die Deutschen dazu, ihr Volk als erstes Opfer einer bewusst nie gewollten Zwangsherrschaft zu sehen. (Das war nicht völlig falsch, aber gewiss eine Vereinseitigung und insofern eine Verharmlosung.) Der Genozid an den Juden, (dessen quantitativer Umfang inzwischen mit der oft in Frage gestellten Zahl von sechs Millionen als Mindestziffer zweifelsfrei feststeht: Benz 1991) – und gar der an den Sinti und Roma – wurde als Vorgang nicht übersehen, verschwand aber fast im umfassenderen Begriff der Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Ähnlich verfuhren, auch aus dem Motiv der nationalen Identitätssicherung, übrigens auch die alliierten und ehemals deutsch besetzten Länder, wo die Kollaboration mit Hitler-Deutschland in ihrer Breite und Tiefe erst Jahrzehnte später öffentlich thematisiert wurde.
Der deutsche Widerstand, eine potentiell beachtliche Legitimationsressource, war hierzulande zunächst nicht sehr populär, weil er Fragen nach dem eigenen Verhalten geradezu provozierte. Er musste in Gestalt der (überwiegend konservativen) Männer des 20. Juli 1944 von oben, seitens der Regierenden, in den Traditionsstand der jungen Bundesrepublik implantiert werden. Ungeachtet der Fragen, wie groß der Kreis der Täter und ihrer unmittelbaren Helfer war und inwieweit die Massenverbrechen des ›Dritten Reiches‹ der Bevölkerung vor 1945 bekannt geworden sind – die Feststellung, sehr wenige hätten alles und sehr wenige gar nichts gewusst, ist so richtig wie banal – ist die mentale Situation des deutschen Volkes bei Kriegsende pauschal eher als Schockzustand, als Verwirrung und Orientierungslosigkeit denn als nazistische Verstocktheit oder gar Indoktriniertheit zu charakterisieren.
Wer die diffuse und vielfach widersprüchliche Haltung der deutschen Bevölkerung nach 1945 verstehen will, muss sich nicht nur den Einfluss von Terror und Manipulation in den Jahren davor vergegenwärtigen, sondern auch die Leidenserfahrungen der nichtjüdischen Deutschen. Sie bildeten jetzt eine Haftungsgemeinschaft – unabhängig davon, ob und in welchem Maß sie als Individuen, Altersgruppen oder soziale Klassen den Nationalsozialismus gestützt hatten. Wie auch immer im einzelnen begründet: Die Schrecken der Bombennächte von Hamburg über Berlin und Dresden bis Stuttgart, die Flucht und die alles andere als »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« (Potsdamer Abkommen) vor sich gehende Aussiedlung der östlich von Oder und Neiße lebenden Deutschen, die Übergriffe von Angehörigen der vorrückenden alliierten Truppen, namentlich der Sowjetarmee, gegen die Zivilbevölkerung, der Leidensweg vieler Kriegsgefangener, nicht nur im Osten, Hunger, Besatzungsherrschaft und Teilung – alles das waren reale Erfahrungen von Menschen, die ganz überwiegend keine persönliche Schuld traf.
Diese damit angedeuteten Erlebnisse konnten zu einer kritischen Besinnung führen: Gab es ein vernichtenderes Urteil über einen Führer, eine Partei und ein Regime, als die europäische und eben auch nationale Katastrophe, die 1945 offenbar wurde? In der Regel bewirkten die erwähnten Kriegs- und Nachkriegsereignisse jedoch eher eine Fixierung auf die eigenen Leiden, eine reflexartige Aufrechnung des Unrechts, eine trotzige Abwehr bohrender Fragen. Für die Masse des Volkes wurde es erst mit der Zeit möglich, das volle Ausmaß des Geschehenen zu erfassen. Auch das gilt nicht nur für Deutschland.
Dazu kam der sich schon bald zuspitzende Ost-West-Konflikt. In den Bemühungen der USA um die kapitalistische Rekonstruktion Westeuropas im Rahmen der Erneuerung eines liberalisierten Weltmarktes kam den Westzonen Deutschlands ein zentraler Stellenwert zu. Ohne eine westdeutsche Staatsgründung unter weitgehender Verwendung der traditionellen Eliten schien das nicht möglich, ebenso wenig der spätere Aufbau der Bundeswehr in der Konfrontation mit der Sowjetunion. Es ist nicht zu übersehen, dass der irrationale Antibolschewismus der deutschen Rechten aus der Zeit bis 1945 – zwar inhaltlich verändert, aber in seiner Intensität kaum gebrochen – im Kalten Krieg seine Fortsetzung fand. Die scharfe Gegnerschaft zum Sowjetkommunismus seitens eines breiten politischen Spektrums galt unter der Fahne des Antitotalitarismus geradezu als Beherzigung der Lehren aus der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass die Bereitschaft der westdeutschen Gesellschaft, sich konsequenter ihrem nationalsozialistischen Erbe zu stellen, mit der zögernd beginnenden Entspannung zwischen den Blöcken während der 1960er Jahre zunahm.
Fanden zum Beispiel die Nürnberger Prozesse zu Anfang noch einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung, gingen unmittelbar nach Kriegsende noch zahlreiche Anzeigen aus der Bevölkerung ein gegen Personen, die man NS-Verbrechen für schuldig hielt, setzte doch bald eine gewisse Entnazifizierungsmüdigkeit ein. Die Kritik basierte zum Teil auf der Praxis der massenhaften Überprüfungen, bei denen es zwangsläufig auch zu Ungerechtigkeiten kam; sie setzte zudem an der Tatsache an, dass angesichts der schieren Masse die Säuberungstätigkeit (nämlich eine ganze Bevölkerung individuell im Hinblick auf ihre politischen Aktivitäten während der NS-Herrschaft zu untersuchen und gegebenenfalls zu bestrafen) in der Hälfte stecken blieb. Während die vorgezogenen ›leichteren‹ Fälle noch in den speziell mit Beteiligung deutschen Personals eingerichteten Spruchkammerverfahren abgeurteilt wurden, kamen die zunächst zurückgestellten Schwer- und Schwerstbelasteten gar nicht mehr zur Verhandlung.
»Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen«, war bald der Kommentar zu den Säuberungsanstrengungen der Alliierten, wobei die Auffassungen, was ein ›großer‹ und ein ›kleiner Nazi‹ gewesen sei, nicht einheitlich waren. Für Kommunisten und auch Sozialdemokraten ging es darum, neben den Leuten des NS-Partei- und des Verfolgungsapparats, auch darum, die Angehörige der staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen auszuschalten, selbst wenn sie persönlich nicht für Verbrechen verantwortlich gemacht werden konnten. Doch die Kritik an der westalliierten Entnazifizierung umfasste alle politischen Lager. Die allgemeine Kritik führte bald zu einer Massensolidarisierung der sogenannten Leichtbelasteten und sogar völlig Unbelasteter; es dauerte nur einige Jahre, bis die Säuberungsmaßnahmen der Alliierten unter Generalverdacht standen und als aufgezwungene Siegerjustiz bzw. Siegerunrecht interpretiert wurden.
Eine Entsprechung dazu gab es auch in der SZB/DDR, wo die führende Partei dem ostdeutschen Teilvolk schon früh das Angebot machte, sich auf die Seite der ›Sieger der Geschichte‹ und des ›Weltfriedenslagers‹ zu stellen und ›die Faschisten‹ nahezu vollkommen zu externalisieren. Es gab einen radikalen Elitentausch, fundiert durch die – antifaschistisch begründete – frühzeitige Enteignung des Großgrundbesitzes und des Großkapitals. Neben teilweise willkürlichen und chaotischen Verfolgungsmaßnahmen gegen tatsächliche und vermeintliche Nationalsozialisten auch in der Breite gab es schon seit 1946 Integrationsangebote an nominelle NSDAP-Mitglieder und sogar an unbelastete, bekehrte Funktionsträger des NS-Regimes. 1948 entstand die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) als enge Bündnispartnerin der SED und Auffangbecken für frühere Nationalkonservative und Nationalsozialisten, und die ostdeutschen Parteien traten mit den westdeutschen politischen Kräften unvermeidlicherweise in einen regelrechten Wettstreit um die Gewinnung der Millionen Kriegsteilnehmer und sogar der ehemaligen Anhänger der NSDAP.
Diese Linie erhielt einen zusätzlichen Schub durch die die letzte stalinistische Säuberungswelle 1949-53 begleitende ›antizionistische‹ Kampagne mit durchaus antisemitischen Tendenzen. In der DDR gipfelte sie Anfang 1953 in der Flucht mehrerer führender Repräsentanten der Jüdischen Gemeinden und weiterer Gemeindemitglieder, darunter SED-Funktionäre und Träger staatlicher Ämter, nach Westen sowie in der Auflösung der relativ eigenständigen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).
Die SED-Propaganda des demonstrativen Schulterschlusses aller ›deutschen Patrioten‹ gegen das ›Adenauer-Regime‹ und die ›imperialistischen Besatzungsmächte‹ im Westen wich seit Mitte der 50er Jahre – mit der Verfestigung der Zweistaatlichkeit und der relativen Stabilisierung der DDR – sukzessive wieder dem Primat des Antifaschismus: die DDR als deutscher ›Antinazi-Staat‹ gegenüber dem Wiederentstehen des deutschen Imperialismus und Militarismus in der Bundesrepublik unter maßgeblicher Beteiligung von NS-Verbrechern. Es entwickelte sich jener ritualisierte Antifaschismus, der sich in Massenappellen und –demonstrationen, etwa in Buchenwald, manifestierte und einen Schuld- bzw. Schamdiskurs nach dem Muster der frühen Nachkriegszeit ausschloss. Allerdings änderte sich im Gefolge der großen NS-Prozesse in Jerusalem (1961) und in Frankfurt (1963-65) die Praxis des Redens namentlich über den Judenmord, der vermehrt und weniger dogmatisch eindimensional in seiner Spezifik thematisiert wurde. Peter Weiss' dokumentarisches Schauspiel Die Ermittlung (1965) über den Auschwitz-Prozess, gemeinsam uraufgeführt auf sechzehn deutschen Bühnen, wurde auch in der DDR gezeigt. Wie in den meisten anderen Bereichen setzte sich auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1990 die Bundesrepublik nahezu vollständig durch, wo sich diesbezüglich allerdings inzwischen Gravierendes verändert hatte.
Zurück zum Ausgangspunkt: Es fällt auf, dass es namentlich Unbelastete und NS-Gegner, Politiker und Intellektuelle waren, die sich gleich nach Kriegsende vehement gegen die Annahme einer kollektiven Schuld zur Wehr setzten. Es war die »geistige Elite« unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung, die darauf bedacht war, eine »Blockade gegen vermeintlich Kollektivschuld-Vorwürfe« zu errichten (Kämper 2010, 119). Der Linkskatholik Walter Dirks verlangte 1946, »die Schuld muss konkret bestimmt, klar umrissen und genau unterschieden werden« (zit. nach Dutt 2010, 9). Für den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der zehn Jahre im KZ gesessen hatte, handelte es sich nicht zuletzt um die Zurückweisung von weitgehenden territorialen und finanziellen Reparationsforderungen seitens der Sieger und damit auch um die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Demokraten. Auch deshalb stemmte sich Schumacher gegen die Nivellierung von Schuld und Verantwortung. Das »Wort von der Gesamtschuld« ermögliche es den Antidemokraten, den Steigbügelhaltern und Nutznießern des NS-Regimes in den gesellschaftlichen Oberschichten, sich »hinter dem breiten Rücken der Kämpfer für die Demokratie«, namentlich der Sozialdemokraten, zu verstecken. Zugleich betonte Schumacher die Mitschuld »großer Volksteile« wegen ihres »Diktatur- und Gewaltglaubens«. Das NS-Regime habe eine »moralische Zersetzung und Deklassierung unseres Volkes« bewirkt (zit. nach Groh/Brandt 1992, 234).
Noch deutlicher und mit der offenkundigen Intention, die Klientel und Wählerschaft der SPD nicht ungeschoren zu lassen, hob anfangs Konrad Adenauer die falsche »Geisteshaltung« der »breiten Schichten des Volkes« hervor (in Bucher 1990, 140), wozu er neben der preußisch-autoritären Staatsanbetung auch den marxistischen Materialismus zählte. Die Rückkehr zum christlichen Glauben einerseits, zu den Werten der klassischen Kultur andererseits gehörte in der frühen Nachkriegszeit zu den verbreitetsten Therapievorschlägen konservativer und liberal-konservativer Protagonisten.
Es war 1946 mit Karl Jaspers nicht zufällig ein Philosoph, der sich um die Systematisierung der Kategorie ›Schuld‹ bemühte. Vielfach einseitig als Bußpredigt oder umgekehrt als pauschale Ablehnung der Kollektivschuldthese verstanden, unterschied Jaspers' Schuldfrage (Jaspers ²1996) kriminelle von politischer und politische von moralischer Schuld. Indem er die Kategorie einer »metaphysischen Schuld« hinzufügte, wollte er das schwer Fassbare der industriellen Massenvernichtung auf einen Begriff bringen, der auch die ansonsten völlig unschuldigen ›normalen‹ Deutschen (und weiter gedacht, nicht nur sie) einschloss. Trotz des Beharrens auf individueller Zuschreibung aller vier Ebenen von Schuld akzeptierte Jaspers eine Schuld des nationalen Kollektivs als Haftungsgemeinschaft, also im Sinne dessen, was später meist als kollektive Verantwortung bezeichnet worden ist.
Bestimmend wurde stattdessen das Wort von der »Kollektivscham«, das der erste Bundespräsident Theodor Heuss im Dezember 1949 in einer Radioansprache anlässlich der Gründung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit prägte. »Man hat von einer Kollektivschuld des deutschen Volkes gesprochen. Dieses Wort und was dahinter steht, ist aber eine Umdrehung der Art, wie die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen: dass die Tatsache, Jude zu sein, bereits das Schuldphänomen in sich eingeschlossen habe. – Aber etwas wie eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat – und er hat uns viel angetan, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen.« (Heuss 1949, 100f) Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, dass die höchst allgemeine und schwammige Annäherung an das Problem über die Scham auch eine persönliche Komponente besaß. Heuss hätte Grund gehabt, über sein Verhalten als Reichstagsabgeordneter der auf wenige Mandate reduzierten liberalen Deutschen Staatspartei am 23. März 1933 selbstkritisch zu reflektieren. Damals stimmte die Restgruppe der Staatspartei wie alle anderen Fraktionen mit Ausnahme der SPD (die Mandate der KPD waren bereits faktisch annulliert) dem Ermächtigungsgesetz zu, das die Diktatur im Deutschen Reich legalisierte, wenn Heuss auch intern für Ablehnung plädiert hatte. Eine solche Auseinandersetzung hat Heuss nach 1945 aber nie geleistet.
Mit der ›Kollektivscham‹ war eine Formel gefunden, die, außer bei der nicht ganz kleinen Schar der Unbelehrbaren, in der Gesellschaft wie in der Politik auf breiter Ebene als akzeptabel, ja als befreiend angenommen wurde. Das lag auch daran, dass Heuss an eine gängige Vokabel anknüpfen konnte. So hatte die KPD in ihrem Gründungsaufruf vom 1. Juni 1945 anlässlich der Wiederzulassung zunächst in der Sowjetzone und in Berlin, gemahnt, »in jedem deutschen Menschen« müsse »das Bewusstsein und die Scham brennen, dass das deutsche Volk einen bedeutenden Teil Mitschuld« trage (Dokumente und Materialien 1959, 14ff). Selbst die eigenen Leute nahm die KPD im Hinblick auf die Unfähigkeit, die Machtübernahme des Hitler-Faschismus zu verhindern oder diesen zu stürzen, nicht von einer gewissen Mitschuld aus.
Während es im KPD-Aufruf aber darum ging, Scham und Schuld zu verknüpfen, bestand der Kern der Heussschen Definition gerade in der Trennung beider. Die Ablehnung, die die KPD außerhalb (und gelegentlich sogar innerhalb) ihrer Partei mit ihrer abgestuften, doch universellen Anklage erfuhr, hatte auch damit zu tun, dass sie einen Blanko-Scheck für alliierte Strafmaßnahmen zu enthalten schien. Auf kaum größere Zustimmung, namentlich auch intern, stieß das von dem am wenigsten belasteten und teilweise verfolgten Teil der Kirche durchgesetzte, von Martin Niemöller entworfene Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands vom 19. Oktober 1945, das das Hauptgewicht auf die Selbstkritik oder besser: Selbstanklage legte (Kirchliches Jahrbuch 1945-1948, S. 26).
Die durch Heuss offiziös vorgenommene Sprachregelung der Kollektivscham, flankiert von einer noch nachdrücklicheren Abweisung einer kollektiven Schuld durch Bundeskanzler Adenauer, passte zum Klima der 50er Jahre, das durch ein »kollektives Beschweigen« (H. Lübbe) gekennzeichnet war. Nachdem die von den Alliierten in Gang gesetzte Entnazifizierung – auch auf amerikanischen Druck hin – zu Ende gebracht und die Strafverfolgung komplett an die deutsche Gerichtsbarkeit übergegangen war, sank die Zahl der NS-Verfahren und, mehr noch, die der Verurteilungen beinahe auf Null. Wenngleich es dafür auch prozedurale Gründe gab – wie den Zugang zu in Osteuropa lagerndem Beweismaterial, geringere Bereitschaft zu Zeugenaussagen angesichts des allgemeinen Bedürfnisses nach Befriedung und mangelnde präzise Kenntnisse über Organisationsformen und die Mechanismen von Verfolgung und Vernichtung – war die Hauptursache in der Veränderung der politischen Atmosphäre gegenüber der zweiten Hälfte der 40er Jahre zu suchen.
Entnazifizierung und Nürnberger Prozesse wurden in den 50er Jahren weithin als Ausweis bereits empfangener Sühne und Strafe angesehen, wobei die offenkundigen Ungerechtigkeiten, vor allem des Entnazifizierungsverfahrens, als Beleg für die Verfehltheit des gesamten Vorhabens dienten und das dabei begangene ›Unrecht‹ mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gewissermaßen verrechnet wurde. Solche pauschalen Exkulpationsversuche waren allerdings meist verbunden mit einer grundsätzlichen und ernst gemeinten Absage an den Nationalsozialismus, wobei allerdings der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs sich immer mehr verengte und schließlich nicht selten auf eine Handvoll NSDAP- und SS-Führer beschränkte.
Ein wichtiges Indiz für die veränderte Mentalität war die Verabschiedung des Gesetzes betreffend Artikel 131 des Grundgesetzes im Jahr 1951, das die Versorgung der im Verlauf der Entnazifizierung ›verdrängten‹ Beamten und deren Wiedereinstellung in den Staatsdienst regelte, sowie die Straffreiheitsgesetze aus den Jahren 1949 und 1954, die unter bestimmten Bedingungen eine Amnestie sogar für untergetauchte NS-Funktionäre zusicherte. Alles das geschah in bemerkenswerter Einmütigkeit. Während frühere Widerstandskämpfer und Exilanten in die Defensive gerieten, überschwemmten Memoiren hoher Wehrmachtoffiziere und andere apologetische Schriften, auch über die Presse, den publizistischen Markt. Eine regelrechte Gnadenlobby organisierte Kampagnen für die Amnestie als NS- oder als Kriegsverbrecher Inhaftierter, die nun, ungeachtet ihrer Vergehen meist neutral als ›Kriegsinhaftierte‹ oder ›Kriegsverurteilte‹ bezeichnet wurden.
Die Grenzen dieser reaktionären Entwicklung markierten die westdeutschen Autoritäten 1952 und 1953 mit dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) als Nachfolgeorganisation der NSDAP durch das Bundesverfassungsgericht und die Verhaftungsaktion der britischen Militärpolizei gegen eine Gruppe ehemals der NSDAP angehörender Funktionäre der FDP Nordrhein Westfalens um den früheren Staatsekretär im Reichspropagandaministerium Werner Naumann. Im Jahr 1952 setzte Adenauer – gegen erhebliche Widerstände aus den eigenen Reihen – zudem die Ratifizierung des Luxemburger Abkommens mit dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference über westdeutsche Entschädigungszahlungen durch, eine Entscheidung, die indessen mit ihren Implikationen von der breiten Bevölkerung kaum wahrgenommen und von der Politik kaum kommuniziert wurde.
Etwa um 1960 bekam die westdeutsche Schweigegesellschaft Risse. Antisemitische Schmierereien an der neu eingeweihten Kölner Synagoge in der Silvesternacht 1959/60 und etliche Nachahmungstaten rüttelten die Öffentlichkeit auf. Der akademische Nachwuchs setzte in den Universitäten erstmals Vorlesungsreihen zum Nationalsozialismus durch. Die Aufnahme der Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle läutete eine Wende in der Praxis und der öffentlichen Wahrnehmung des Umgangs mit den NS-Tätern ein. Nach dem Ulmer Ersatzgruppenprozess 1958 erregte der 1961 in Jerusalem beginnende Eichmann-Prozess große Aufmerksamkeit in den deutschen Medien. Die Erneuerung des Ahndungswillens kam in Deutschland dann in den großen Frankfurter Auschwitz-Prozessen der Jahre 1963 – 1965 am eindrucksvollsten zum Ausdruck, für die die Vorermittlungen 1959 begonnen hatten. Die großen Prozesse gaben auch der inzwischen begonnenen professionellen zeithistorischen Erforschung des NS-Systems entscheidende Impulse.
Insbesondere der jüngeren Generation wurde durch die intensive Medienberichterstattung erstmals das Ausmaß der Verbrechen und der Verstrickung nicht weniger Deutscher darin vor Augen geführt. Auschwitz wurde von da an zum Synonym für die NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass hiermit eine Wende in der justiziellen wie auch geistigen Aufarbeitung eingeleitet wurde, kann man auch an gesetzgeberischen Maßnahmen ablesen. Die großen Verjährungsdebatten des Bundestages aus den Jahren 1965, 1969 und 1979, in deren Folge die Verjährungsfristen für Mord im Zusammenhang von NS-Verbrechen verlängert und schließlich aufgehoben wurden, zeugen genauso davon. Zum Umschwung in der Vergangenheitspolitik trugen ferner die gezielt durch die DDR eingesetzten biographischen Enthüllungen über hohe Repräsentanten der Bonner Demokratie bei, die in Ostberliner Schauprozessen gegen den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer (1960) und den Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke (1963) gipfelten; beide mussten schließlich zurücktreten.
Es begann eine an Heftigkeit stetig zunehmende Auseinandersetzung, die während der Studentenrevolte der späten 60er Jahre einen ersten Höhepunkt erreichte. Nun war die Jugend- und Studentenradikalisierung ja kein spezifisch deutsches, sondern ein internationales Phänomen, bei dem in generationeller Konfrontation die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Erbe der Väter geführt wurde. Die Generation der ›Achtundsechziger‹ in Deutschland identifizierte sich mit den Opfern der NS-Gewaltherrschaft, die sie in gewisser Weise als Opfer der Vätergeneration des Bürgertums deutete. Dass in Westdeutschland die Debatte über die NS-Vergangenheit in den Sog der Protestbewegung geriet, trug zur Forcierung und Radikalisierung der Debatte bei. Gleichzeitig hat sie diese aber zugleich entkonkretisiert und – unter dem Vorzeichen, teilweise recht gehaltvoller, kapitalismuskritischer Faschismus-Theorien – auf die Ebene politischer Systeme und gesellschaftlicher Strukturen gehoben. Wenn den Achtundsechzigern bisweilen die Wiederbelebung eines Art Kollektivschuld-Vorwurfs gegen das deutsche Volk attestiert wird, trifft dieses nicht zu, noch weniger zeigten sich kollektive oder individuelle Schamgefühle, jedenfalls nicht beim hochpolitisierten Kern der Bewegung. Eher lässt sich von der Vorstellung einer großbürgerlichen kollektiven Klassenschuld im Sinne einer politischen und sozialen Schuld sprechen, die den Repräsentanten des Staates und der Gesellschaft in entlegitimierender Absicht vorgehalten wurde.
Neigten die Faschismus-Debatten der späten 60er Jahre dazu, die ›Besonderheiten‹ des Nationalsozialismus, namentlich den Judenmord, zu vernachlässigen, so drehte sich der als ›Historikerstreit‹ bezeichnete, Mitte der 80er Jahre von dem Ideenhistoriker Ernst Nolte und dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas vom Zaun gebrochene, wissenschaftlich wenig ergiebige Meinungskrieg in den Feuilletons zentral um die Frage der ›Singularität‹ der NS-Verbrechen, genauer: des Genozids an den Juden. Es handelte sich eher um einen Kulturkampf, in dem historische Argumente als geschichtspolitische Waffen dienten und Unterstellungen dominierten. In einer sachlichen Diskussion hätten sich vermutlich die meisten, wenn nicht sogar alle Beteiligten auf die epochale und zentrale Bedeutung des Judenmords, auch für das nationale Selbstverständnis der Nachkriegsdeutschen, ebenso verständigen können wie darauf, dass selbst dieser Vorgang nicht losgelöst von den nationalen wie übernationalen Zeitumständen analysiert werden kann.
Stattdessen gelang es den linksliberalen Philosophen und Historikern, bei der Abwehr der als nationalkonservativ charakterisierten Gruppe (die keine Gruppe war) mit deren unbefriedigenden Antworten und Insinuationen zugleich wichtige und berechtigte Fragen unter Verdacht zu stellen. So war der Gedanke, den Faschismus Hitlers wie den Mussolinis als konterrevolutionäre Antwort auf den Bolschewismus und die im Innern drohende soziale Revolution zu verstehen, ursprünglich eher auf der sozialistischen Linken als rechts beheimatet gewesen. Historisch ›einzigartig‹ war der Judenmord in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht. Das Dogma der Singularität ohne Wenn und Aber – so als ob das Geschehen andernfalls weniger schlimm wäre – dient bis heute dazu, anderen (nicht gleichen) Massakern der modernen Geschichte – wie dem an den im Osmanischen Reich lebenden Armeniern während des Ersten Weltkriegs – ein genozidales Wesen abzusprechen und sie im Zuge der die Erinnerungskultur der vergangenen Jahrzehnte zunehmend beherrschenden Opferkonkurrenz herabzustufen.
Jede neue Umdrehung der Aufarbeitungs-Schraube seit 1967/68 hat ihre relative Berechtigung gehabt, so in den 80er Jahren die Erweiterung struktureller Analysen in die Erfahrungswelt der normalen Menschen unter der Diktatur hinein. Doch die Kehrseite der immer intensiveren Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus war eine zunehmende Tendenz zum permanenten Alarmismus, gespeist durch die Erscheinungsformen des neuen Rechtsextremismus, eine Tendenz zur öffentlichen Hysterie, zur Einengung der politischen und wissenschaftlichen Debatte sowie zur gezielten Instrumentalisierung von ›Auschwitz‹. Martin Walser wurde aufgrund seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998, in der er die rituelle »unaufhörliche Präsentation unserer Schande« kritisierte, eine Schlussstrich-Mentalität unterstellt, obwohl Walsers ganzes Werk eine Auseinandersetzung mir der deutschen Vergangenheit auch in ihren schrecklichen Seiten beinhaltete. Die Kritik von Ignaz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, drehte die anfangs überwiegend zustimmende, bei den Zuhörern euphorisch zustimmende Reaktion, jedenfalls auf der Linken und in der linken Mitte des politischen Spektrums, ins Gegenteil.
Walser sprach von der Schande der Deutschen. An dieser Stelle klang dieselbe Melodie an, die Heuss ein halbes Jahrhundert zuvor intoniert hatte. Wer Schande sagt, schließt die Scham als deren Folge mit ein, und wenn er von der Schande des deutschen Kollektivs spricht, dann macht das nur Sinn über die nationale Identifikation. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, dass gerade dieser Aspekt der – in der Tat provozierenden und in manchen Formulierungen problematischen – Frankfurter Rede, meist wohl eher unbewusst, die nachträgliche Empörung zusätzlich speiste. Denn gerade diese Identifikation, obwohl sie logisch eine zwingende Voraussetzung des Gedankens kollektiv-nationaler Verantwortung für die NS-Verbrechen (im Sinne von deren bewusster, freiwilliger Übernahme durch die heutigen Deutschen) ist, fehlte schon vor anderthalb Jahrzehnten weitgehend, oder eine solche Vorstellung galt in der linksliberalen Öffentlichkeit sogar regelrecht als degoutant.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus maßgeblich mitbestimmt hatte, und mit dem ersten Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak 1991 traten mit den ›Schurkenstaaten‹ und, besonders nach dem 11. September 2001, mit dem islamistischen Terror neue ›Mächte des Bösen‹ in den Vordergrund, als deren Ahnherr Adolf Hitlers ›Drittes Reich‹ erscheinen sollte. Der Kriegseintritt der USA gegen die Achsenmächte 1941, umgedeutet zu einer Art humanitärer Intervention, bot sich als historisches Vorbild der zunehmend interventionistischen Außen- und Sicherheitspolitik namentlich, aber nicht allein der USA an. ›Holocaust‹ und ›Auschwitz‹ dienten dabei zur – vorsichtig gesagt – Neudefinition und Dehnung des tradierten Völkerrechts.
Die Änderung der politischen Rahmenbedingungen schuf Raum für eine Universalisierung des Themas, zumindest in der westlichen Welt, die ihren Ausdruck sogar in einer gesamteuropäischen Holocaust-Konferenz Ende Januar 2000 fand, zu der sich 22 Regierungschefs und weitere hochrangige Politiker in Stockholm versammelten. Gegenstand der Reden war naturgemäß nicht die geschichtswissenschaftliche Behandlung des Judenmords als eines europäischen Projekts (was er in zweiter Linie auch war), sondern die Abgabe von Reue-Bekenntnissen und Versicherungen künftiger Wachsamkeit. »Es fand die Inszenierung einer politisch-sakralen Weihe und eines Schwurs statt«. (Jeismann 2001, 142)
Dieser Vorgang wurde möglich, weil in etlichen Staaten Europas sowohl die Versäumnisse im nationalen Gedenken, das die Juden lange marginalisiert hatte, als auch die alten Widerstandsmythen inzwischen kritisch hinterfragt wurden. Auch die eigenen originären Untaten außerhalb des NS-Komplexes, so im Algerienkrieg Frankreichs, wurden immer ungehemmter thematisiert. Ähnlich wie schon zuvor in Deutschland drohte die überfällige wissenschaftliche und öffentliche Aufarbeitung der dunklen Flecken des historischen Erbes in einen abstrakten, zwanghaften Moralismus umzuschlagen, wenn etwa die schwierige Situation eines neutralen Landes wie Schweden, seit 1932 sozialdemokratisch regiert, das während des Zweiten Weltkriegs inmitten des deutschen Machtbereichs lag, in manchen Diskussionen offenkundig unterschätzt wurde. (Von den deutschen antinazistischen Flüchtlingen waren Anklagen gegen die mit Anpassungsleistungen erkaufte Neutralität auch nach 1945 aus gutem Grund nicht erhoben worden.) Trotz der Annäherung der Vergangenheitspolitik und der Gedenkkultur in den Staaten des Westens mit dem expliziten Ziel ihrer Europäisierung sind Zweifel angebracht, ob das in sprachlicher und ästhetischer Hinsicht vielfach stark sakralisierte Holocaust-Gedenken auf europäischer Ebene dieselbe Funktion wird erlangen können wie in Deutschland, scheint doch die (wie immer definierte) nationale Identität in der Mehrzahl dieser Länder, insbesondere im Osten des Kontinents, noch intakter als hierzulande.
Für die politische Elite der Bundesrepublik eröffnete diese knapp skizzierte Entwicklung die Chance, ihre ›Vergangenheitsbewältigung‹ (ein nicht mehr üblicher, aber hier durchaus passender Ausdruck) im Einklang mit ihren Verbündeten und Partnern weiter zu pflegen und unausgesprochen sogar als Vorbild für andere anzubieten. Nicht ohne sachliche Berechtigung wird die deutsche wissenschaftliche wie nichtwissenschaftliche NS-Aufarbeitung seit den 60er Jahren von Kennern weltweit schon seit Längerem als einzigartig und insofern vorbildlich verstanden. Zu den Voraussetzungen dieser neuen Konstellation gehört der Generationswechsel: Die Erlebnisgeneration war schon in den 90er Jahren beinahe nicht mehr als Akteure vorhanden. Eine kollektive Schuld, die sich auf faktisch ausgestorbene Alterskohorten bezog, schien nun durchaus erträglich. Statt den Schuldvorwurf abzuwehren oder das Thema zu verdrängen, konnte er uneingeschränkt und nachdrücklich angenommen werden, wenn man die Nachkriegsgeschichte als glückliches Ergebnis eines langen Weges der Deutschen nach Westen und die bundesdeutsche Demokratie als Ausbruch aus dem deutschen Dilemma interpretierte.
Diese Optik wurde schlagartig klar, als Daniel Jonah Goldhagen mit seinem nach allen Regeln der Kunst gepuschten Buch Hitlers willige Vollstrecker in Deutschland 1996 auf Lesereise ging, dessen These von einem ›eliminatorischen Antisemitismus‹ der Deutschen, lange vor 1933, von den Fachhistorikern, nicht nur den deutschen, ganz überwiegend als falsch bis absurd eingeschätzt wurde. Ein vorwiegend jüngeres Publikum reagierte hingegen euphorisch und feierte geradezu den Verkünder dieser für die Eltern- und Großelterngeneration vernichtenden, doch allzu schlichten Behauptung. In einer bezeichnenden Volte lobte Goldhagen die Gegenwartsdeutschen und ihre (damals noch Bonner) Republik. Ähnlich wie das Buch des Amerikaners wirkte die noch viel breiter aufgenommene Foto-Ausstellung zu Verbrechen der Deutschen Wehrmacht, die seit 1995 gezeigt wurde. Das Publikum nahm in vergröberter Form und unzulässig verallgemeinernd den in der Wissenschaft längst gängigen Befund zur Kenntnis, dass die Wehrmacht keineswegs ›sauber‹ geblieben, sondern in Teilen tief in die Verbrechen des Regimes verstrickt, bisweilen aktiv und initiativ dabei hervorgetreten war.
Beginnend mit den späten 70er Jahren – für die allgemeine Öffentlichkeit gab die amerikanische Fernsehserie Holocaust einen sehr wichtigen Anstoß –, war die »gesellschaftliche Etablierung des Holocaust als zentrales Bezugsfeld der Erinnerung« (Knoch, 69) Deutschlands an den Nationalsozialismus inzwischen weit fortgeschritten. Bei der höflichen Vorsicht, mit der auch die professionellen Kritiker meist mit Goldhagen umgingen, kam offenkundig der jüdischen Herkunft des Autors eine gewisse Bedeutung zu. Die verbreitete und verständliche, wohl auch unvermeidliche Befangenheit fast aller Deutschen gegenüber nahezu allen Handlungen und Äußerungen von Juden (wobei Befangenheit von Kritiklosigkeit nicht begleitet sein muss, aber häufig ist) verschleiert den in der Gesamtbevölkerung über die Jahrzehnte verbreiteten, seinerseits durchaus bedenklichen Überdruss an Aufklärung und Belehrung über das ›Dritte Reich‹. Diese manchmal krasser hervortretende, manchmal abgemilderte Schieflage fördert eine doppelbödige Haltung der politischen Führungskräfte im Umgang mit der NS-Vergangenheit, bei der obligatorische verbale Verbeugungen und Bußrituale nicht mehr ›zu Herzen gehen‹ können. Die Zustimmung so mancher Bundestagsabgeordneter zu dem – m. E. am Ende durchaus gelungenen – Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins erfolgte wohl nicht aus innerer Überzeugung, sondern aus dem Gefühl heraus, nach der jahrelangen Debatte keinen anderen Ausweg zu erkennen, ohne dass man sich dem Vorwurf der Geschichtsvergessenheit ausgesetzt hätte. Der damit angedeutete Opportunismus koexistiert heute mit einem verbreiteten Bekenntnis »zur kollektiven Schuld in der Vergangenheitsform« (Jeismann 2001, 153). Das eine wie das andere ist im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn schamlos.
PS: Es gibt in Deutschland seit Jahrzehnten eine qualitativ hochstehende umfangreiche NS-Forschung, die heute namentlich die Massenverbrechen in den Blick nimmt, sowie eine niveauvolle, differenzierte Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur.
Literatur:
Götz Aly, Susanne Heim, Die Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
Uwe Baches/Eckard Jesse/Rainer Zitelmann (Hgg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, Berlin 1990.
Wolfgang Benz (Hg.), Dimensionen des Völkermordes. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991.
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