Steffen Dietzsch
Tabu und Verrat

Die Demokratie ist das Tabu des Westens.
Nicolás Gómez Dávila

1.

Ein Tabu will – wie das Recht – akzeptiert werden. Bei Hofmannsthal (1911, S. 45) lesen wir den Imperativ: »Verbotenes laß lieber unberedet sein!«

Im Tabu erkennen wir ein frühes symbolisches Strukturelement, das unseren Zusammenhalt als Menschen mit formt. Mit ihm entwerfen wir die für unsere Selbsterhaltung (zunächst in der Gemeinschaft) erforderliche Symmetrie von Nähe und Distanz im Verhältnis zueinander. Im Tabu, durch seine Akzeptanz, wandeln wir uns aus Naturwesen in Gemeinwesen. Denn der Einzelne wird dadurch aus dem natürlichen Raum des Kreislaufs von Lebewesen (Nähe=Beute und Distanz=Flucht) in einen regelakzeptierten artifiziellen Raum (Gemeinschaft) versetzt, in dem Nähe und Distanz neu geregelt sind.

Tabus sind mehr als »phémomènes sociaux« (Marcel Mauss), sie sind Bedingungen der Möglichkeit sozialer Existenz überhaupt. Sie verkörpern eine ›mystische Autorität‹ (Jacques Derrida), – um dreierlei zu garantieren:

(a) die Handlungskompetenz in der Leitung der Gruppe zu gewährleisten (also: Immunisierung bzw. Unantastbarkeit des Häuptlings, Priesters, Schamanen), sowie
(b) die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten, und schließlich
(c) ihre alltäglichen Verkehrsverhältnisse zu garantieren (Eigentum, Sexualität, Ernährung, Bewegungsfreiheit).

Es geht also insgesamt um den Schutz der Gruppenintegrität.

2.

Der Leipziger Völkerpsychologe Wilhelm Wundt (1912, S. 192) nennt das Tabu den ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodex der Menschheit; es sei älter als die Götter und reiche in die Zeit vor jeder Religion. Es braucht das Tabu aber eine Vergegenständlichungsform: Wundt identifiziert als sein frühestes Objekt das Totemtier. Das Berührungsverbot des Tabus (als seine oberste Regel im Umgang mit ihm) wird hieran jedem anschaulich.

Auch für Ernst Cassirer (1994, S. 97) gehören Tabus zur »Urschicht des mythisch-religiösen Bewusstseins« überhaupt. Und natürlich vermutete auch eine seelenkundliche Autorität wie Sigmund Freud (1989, S. 346), »daß die Aufklärung des Tabus ein Licht auf den dunklen Ursprung unseres eigenen ›kategorischen Imperativs‹ zu werden vermöchte.« Allerdings waren schon viele mythos-theoretische Zeitgenossen Freuds skeptisch hinsichtlich der Reichweite seiner Aufklärungen: »denn selbst wenn seine Erklärung in einigen Fällen haltbar wäre, so würde doch damit noch nicht das Tabu überhaupt verständlich gemacht sein.« (Clemen, 1928, S. 186).

Es »vereinigen sich in dem Begriff des Tabus zwei entgegengesetzte Vorstellungen: die des Heiligen, das man wegen seiner Heiligkeit, und die des Unreinen (…), das man wegen seiner hässlichen oder schädlichen Eigenschaften scheuen soll.« (Wilhelm Wundt, 1912, S. 192). In allen gegenwärtigen Empfindungen von Ehrfurcht und Abscheu gehört das noch bis heute zu unserem (humanen) Gefühlshaushalt. Und: »das Attribut heilig sanktioniert … kollektive Nutzungsrechte und schloß private Aneignung aus. […] Heilig und verboten waren … miteinander verknüpft.« (Kippenberg, 1997, S. 115f ) Der Aspekt des Heiligen im Tabu markiert seinen öffentlichen Status, keiner Privatperson war irgendein privates Nutzungsrecht darüber eingeräumt. – Es hatte also eine ursprünglich politisch-theonome Funktion.

Die Sacré-Zuschreibung war ursprünglich mit der der menschlichen Grundwahrnehmung von Reinheit/Unreinheit verknüpft. Diese ursprüngliche Tabukultur definiert die Besonderheit des Menschen im Stammbaum des Lebendigen.

3.

Aber: Im Prozess des Wandels der Vorstellungen zum Tabu relativiert es sich besonders in unserer Gegenwart, und zwar wohl unter dem Eindruck lebensalltäglicher, sozusagen naturalistischer Lebenspraktiken und hedonistischer Weltaneignung. Mit der Folge: »Vor allen Dingen vermochte die naturwissenschaftliche Objektivität die durch das Tabu der Superiorität geheiligte Idee des Menschen der Idee eines Naturwesens überhaupt anzunähern.« (Carl Gustav Jung, 2006, S. 120)

Der ehedem – bloß(!) – ›spirituelle‹ Aspekt des Sacré wird jetzt vom Schreckens-Aspekt beim Verletzen des Tabus dominiert. Das ›Unberührbare‹ des Tabus wird in der Praxis des hoffärtigen Umgangs mit dem Tabuierten mehr und mehr irrelevant. Es geht zugunsten einer (physiologisch evidenteren) Lust am Unreinen und des Häßlich-Schädlichen unter. Mit dieser – technisch gesprochen – Unwucht beginnt das gewissermaßen›halbierte Tabu‹ eine Karriere in der Moderne.

Es kommt zu einer Resurrektion des Dämonischen (parareligöse, esoterische Religionssubstitute) und einem Verfall von Hochreligionen. Denn das Dämonische, Hässliche, Verachtenswerte ist bildbar, organisierbar, visualisierbar, handgreiflich, aber eben auch elementar hassenswert und vor allem – auch privat bekämpfbar (– von selbsternannten, wie von konfessionellen Schreckensmännern, die allesamt an einer »Tabukrankheit« (Sigmund Freud, 1989, S. 350) leiden). – Es verliert also auch modern nichts von seiner alten Funktion als Gemeinschafts-Stiftung. – Allerdings: Damit wird ›Menschheit‹ als Inklusions-Problem verabschiedet.

Zwei Wahrnehmungen dazu aus unserer Gegenwart:
Der jüngste Kindermord von Oslo (ca. 70 Opfer) hat wohl ›tiefere‹, nicht mehr verhandelbare Überzeugungsgründe. Die sind ihrerseits allerdings gar nicht so neu. Sie verkörpern einen Typus von Abwendung gegenüber der jeweiligen sozialen, kulturellen Lebens-Gegenwart, den es in der Moderne seit den letzten hundert Jahren immer gegeben hat. Dieser Abwehrgestus gegenüber der Moderne bedient sich zeitübergreifend hygienischer Metaphorik.

So hat bereits vor einem Jahrhundert ein schwäbischer Massenmörder (17 Opfer), der Lehrer Ernst August Wagner in Degerloch (1913) bekannt: »Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke« und »Man redet so viel von Rassenhygiene, ich habe gehandelt« – folgerichtig: er sei »der erste Nationalsozialist.« (Der Tagesspiegel, Berlin, v. 28. Juli 2011).

Die ganze politische und technologische Gegenwart sei (so hören wir seit dem Vormärz!) ein schmutziges Massiv, unrein, hybrid, verdorben, lebensfeindlich, über- und entfremdet. Das alles zusammenfassende Symbol dafür: Geld – dem, wie wir ja noch mit Marx zu wissen glauben, Fetisch-Charakter zukomme. Dies ist eine nur bestimmten stofflichen Trägern zukommende Eigenschaft, um sich herum eine Aura zu erzeugen. Also im Fetisch schaue (staune) ich – in den Bann gezogen – die Faszination eines Äußerlichen (unbegriffen Dinglichen) an! – Diesen Fetisch-Einfall scheint Marx von Benjamin Constant übernommen zu haben, demzufolge Fetische unmittelbaren unbestimmten Bedürfnissen entspringen, ihrer Erfüllung dienen und deshalb affektive unregelbare Energien der Fetischgläubigen an sich binden (vgl. MEGA IV/1, 342-67); ein Gedanke, der auch noch im Kapital zum Tragen kommt. Auch hier ist der Geld-Fetischismus eine (entfremdete, also überwindbare) Form der emotionalen Bindung an ein Objekt naturhaften Begehrens. Diese Bindung des Begehrens von Individuen oder Kollektiven an Fetische (materielle Objekte, aber auch Idole, Räusche, Chimären) ist ebenfalls eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts.

4.

Kurzum: Reinheit sei gegenüber einer solchen Kultur pluralen Begehrens (Konsumallmacht) also das zuallererst Gebotene, – in der Nation, in der Familie, in der Kultur, in der Sprache, in der Technik, in der Religion, in der Person (Rasse oder Klasse). Die wirkungsmächtigen Zivilisations- und Kapitalismuskritiker – allesamt Tabu- und Fetisch-Kritiker(!) – beanspruchten für sich, so gegensätzlich sie untereinander auch waren, immer dieses Reinheits-Postulat: als die erlösende Reinheit der Eigentumslosen (im Bolschewismus, Pol-Potismus, Maoismus), die arische Reinheit (des europäischen Nationalsozialismus), die völkische und konfessionelle Reinheit (in Theokratien), bis hin zur Reinheit des Blutes (in Familien). Gerade dagegen hat Nietzsche schon seine Warnung erhoben, nämlich dass der Begriff reines Blut das Gegenteil eines harmlosen Begriffs sei.

Im Wortgebrauch der Lustration, »mit dem die Römer Reinigungsriten bezeichneten« (Wilhelm Wundt, 1912, S. 199), finden wir diesen Tabuaspekt just in der politischen Kultur unserer Gegenwart wieder. Und zwar als Strukturelement unserer Erinnerungskultur [als Lustrationsgesetze werden in Polen die rechts- bzw. strafrechtsförmigen Dispositionen bei der Personal- und Sach-Selektionen aus dem Vergangenheitsmaterial bezeichnet].

Ein Tabu ist nicht einfach kommunikationstechnisch verfügbar (es entzieht sich dem Code ›Gefällt mir/gefällt mir nicht‹) eben weil es eine eigene Aura hat. Tabus sind »Träger jener geheimnisvollen und gefährlichen Zauberkraft, die sich wie eine elektrische Ladung durch Berührung mitteilt und dem selbst nicht durch eine ähnliche Ladung Geschützten Tod und Verderben bringt.« (Sigmund Freud, 1989, S. 386 f).

5.

Um eine solche existenzielle Dimension geht es auch beim Verrat. – Auch um den Verrat ist immer eine Aura, – je nachdem, von Abscheu oder Bewunderung. Das liegt wohl daran, dass mit dem Verrat eine besondere Transzendenz-Leistung des Menschen verbunden ist. Man übersteigt hierbei – sozusagen in Selbsttranszendenz – alle seine bisherigen mentalen und emotiven Dispositionen. Es ist ein Akt der Negation, den man gegen sich selbst kehrt. Man verlässt die bisherige Identität und gewinnt eine andere dazu; tauscht sie aber nicht aus, sondern verdoppelt sie. Das steigert das – verräterische – Selbstbewusstsein. Nicht Einheit sondern Widerspruch ist sein Form- und Identitätsprinzip. Als zwielichtig und unaufrichtig erscheint das aber, wenn es denn einst offenbar würde, den Anderen. Mit dem Verrat trägt man – schon wortwörtlich – zum Unheimlichen bei. Der Verräter stülpt das Heimliche um ins Nicht-mehr-Heimliche; das erscheint dann als Unheimlich. Mit dem Verrat wird nicht nur fremde Geborgenheit aufgebrochen, auch der Verräter verlässt – innerlich – seine soziale und mitmenschliche Umwelt, er wird sich selber unheimlich …

Verrat erfordert eine ›letzte‹ unumkehrbare Entscheidung: ›danach‹ ist man ein Anderer als ›davor‹. Und als Unheimlicher bleibt der Verräter immer sozial geächtet und erniedrigt, zumindest ein Außenseiter, dem auch der nicht mehr völlig vertraut, zu dessen Nutzen der Verrat einmal begangen wurde; wie beispielsweise Benedict Arnold (1740 - 1801, ursprünglich ein antibritischer Rebell und später General in der Kontinentalarmee (Continental Army) der 13 rebellierenden Kolonien der nordamerikanischen Ostküste. Er lief zu den Briten über und gilt darum in den Vereinigten Staaten als Urbild eines hinterhältigen Verräters. Ihm wurde von den Briten niemals wieder ein bedeutendes Kommando übertragen. Dschings Khan beispielsweise ließ selbst Verräter hinrichten, die ihm gesuchte Feinde auslieferten, denn Illoyalität war ihm absolut unverzeihlich, und von General Anton I. Denikin ist in einer für Russland dramatischen Stunde – Sommer 1917 – das Wort überliefert: »Es gibt noch einen Weg, den Weg des Verrats. Es würde unserem gemarterten Lande vorübergehend Erleichterung bringen. Doch der Fluch des Verrats bringt kein Glück.«

Der Verräter also bleibt einsam – »Die Mitmenschen verstoßen dich: schicksalsergeben wanderst du ins Zuchthaus oder besteigst das Schafott.« (Emil Cioran, 2008, S. 743)

6.

Der Verrat am Tabu ist – je nachdem – Bloßstellung, Preisgabe oder Kenntlichmachung von Strukturen oder Funktionen des Abstandgebietenden, er ist damit der Grenzfall von Aufklärung. Doch während Aufklärung – schon aus methodischen Gründen – mindestens vor dem (sei es Gott, das Sacré oder das Intime) stillhält, will Verrat monomanisch gerade dieses Innere offenlegen. Wohl deshalb setzte auch Dante den Verräter in den tief untersten Grund der Hölle, wo der Satan selbst sich aufhält. (Dante, Göttliche Komödie, Inferno 11, 61-66).

Das Tabu gehört – als Geheimnis – zum inneren Kern von Macht; es ist nicht nur volksfrömmige Gebrauchsform mit je begrenzter Reichweite. Denn: Es anzutasten, gar zu brechen, würde tief eingreifen in die Formen der Selbsterhaltung, und nicht nur althergebrachte Gewohnheiten ändern. Tabus sind also nicht nur »bloße flatus vocis.« (Ernst Cassirer, 1994, S. 33).

Das wird u.a. deutlich an dem, was Cassirer »Tabu-Vorschriften« nennt, etwa in der Jagdpraxis, wo Jagd gebunden ist an Jagdtänze, die »nicht nur Spiel und Maske, sondern ein integrierender Teil des ›wirklichen‹ Jagdzuges« (Ernst Cassirer, 1994, S. 218) sind und den Erfolg der Jagd ursächlich bestimmen.

Tabus sind, wie Cassirer sie wahrnimmt, Transformatoren, die sogenannte »kritische Phasen« in Lebensprozessen beherrschbar bleiben lassen. Sie minimieren Akkommodationsprobleme beim Ineinandergreifen unterschiedlicher, auch asymmetrischer Formbestimmtheiten.

7.

Was aber soll dem Verräter geraten werden? Reue? – Die frühe europäische Aufklärung war da skeptisch: »Poenitentia virtus non est, sive ex ratione non oritur, sed is, quem facti poenitet, bis miser seu impotens est.« (Spinoza, 1987, S. 265) Denn, so Spinozas Argument, erst lässt sich der Mensch von seiner bösen Begierde (prava cupiditate), dann zudem noch von seiner Trauer (tristitia) besiegen.

Und auch Kant hielt sie für »rein verlorene Mühe« mit der »schlimmen Folge, bloß dadurch sein Schuldregister für getilgt zu halten.« (Immanuel Kant, 1980, S. 162)

Kurzum: Man widerstehe – wenn es nicht das Leben kostet – dem Verrat! Es kostet sonst das Leben.

Also insgesamt: Tabus werden nicht verletzt – Verrat wird nicht begangen.

Literatur:

Ernst Cassirer (1994), Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, Darmstadt.
Èmile Cioran (2008), Der vorbildliche Verräter. Werke, Frankfurt/M.
Carl Clemen (1928), In: Krisis der Psychoanalyse, Bd. 1: Auswirkungen der Psychoanalyse in Wissenschaft und Leben, hrsg. v. Hans Prinzhorn, Leipzig.
Siegmund Freud (1989), Essays I, hrsg. von Dietrich Simon, Berlin.
Hugo von Hofmannsthal (1911), Idylle. In: Gedichte und kleinen Dramen, Leipzig.
Carl Gustav Jung (2006), Zivilisation im Übergang. Gesammelte. Werke, Bd. 10, Düsseldorf.
Immanuel Kant (1980), Anthropologie, Hamburg.
Hans G. Kippenberg (1997), Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München.
Baruch Spinoza (1987), Ethik, Leipzig [Reue ist keine Tugend oder entspringt nicht der Vernunft; sondern der, der eine Tat bereut, ist doppelt elend und ohnmächtig].
Wilhelm Wundt (1912), Elemente der Völkerpsychologie, Leipzig.

Die Demokratie ist das Tabu des Westens. Nicolás Gómez Dávila