In seinem Buch L´homme et le sacré (Der Mensch und das Sakrale, 1939) erinnert Roger Caillois den Leser daran, dass Marcel Mauss dazu prädestiniert gewesen wäre, die große Monographie über dieses Thema zu schreiben, aber der Meister hatte keine Zeit dazu gefunden beziehungsweise keine Lust. Der Schüler unternimmt diese Aufgabe auf der Basis der Schriften und der direkten Hinweise von Mauss. Caillois schreibt dazu: »Wenn der Begriff des ordo rerum im vorliegenden Werk eine so zentrale Stelle einnimmt, so ist das Verdienst dafür allein Marcel Mauss zuzuschreiben.« (Caillois, L´homme et le sacré, Paris 1939, S. 19.) Denn es ist gerade die Ordnung der Dinge und die Ordnung der Menschen, welche im Grunde entweder Verbot und Respekt oder Überschreitung bestimmen. Das Sakrale hängt nach Mauss mit dem ordo rerum zusammen. Caillois verfolgt in seiner Monographie die moderne Evolution des Gegensatzes rein und unrein und er stellt bereits in der antiken Zivilisation eine zunehmende Moralisierung beider Begriffe in der profanen Relation Gesetz und Verbrechen fest. Zur Konzeption von Caillois gehört die Vorstellung einer modernen »Topographie des Reinen und Unreinen«: Das Zentrum manifestiert sich als der Sitz des Reinen, die Peripherie hingegen als das düstere Reich des Unreinen. An der Anlage moderner Städte sei das teils Mythische, teils Objektive dieser Vorstellung erkennbar: Im Stadtzentrum befinden sich die Kathedrale, das Rathaus und die Denkmäler der Helden der Nation, in der Peripherie befinden sich das Elend, die Gesetzlosen, die Landstreicher und die Prostituierten.
In der Festlegung eines Prinzips des sakralen Respekts (sacré de respect) und eines Prinzips der sakralen Überschreitung (sacré de transgression) besteht der theoretische Kern des Konzeptes von Mauss in der Formulierung von Caillois. Das Konzept des sacré stellt eine historisch determinierte Kategorie dar. Durch sie kann man die so genannten Primitiven Gesellschaften, in denen das sacré eine konstituierende Funktion ausübt, von den modernen Gesellschaften unterscheiden, in denen die menschliche Existenz scheinbar fast vollständig profan geworden ist, und die in gewissem Sinne als post-sacrée bezeichnet werden kann. Das sacré fällt nach Bataille nicht mit den traditionellen Grundbegriffen der Metaphysik und der Ethik (wie das Schöne, das Wahre oder das Gute) zusammen. Diese langwierige Suche nach einer anderen Form des sacré, die in der Moderne oft einen literarischen Charakter angenommen hat, war weder auf eine substanzielle Realität, noch auf die Transzendenz gerichtet. Es war eher eine Suche nach einer unpersönlichen Realität, die sich in der Kommunikation zwischen den Menschen offenbaren sollte. Mauss und Bataille haben das Problem der Beziehungen von Verbot und Überschreiten des Verbots analysiert und die Frage der Gewalt und ihrer Verminderung durch soziale Maßnahmen reflektiert. So bedeutsam erschien Bataille das Problem, dass er in seinem Spätwerk (L´Erotisme, 1957) die Auffassung vertrat, die Theorie habe die Aufgabe, eine Geschichte und eine Interpretation der Verbote zu konstituieren. Verbote stellten institutionelle Maßnahmen dar, die dazu bestimmt seien, die Ordnung der Natur und der Gesellschaft zu garantieren. Ein Verstoß solcher Ordnungen hätte Rückwirkungen auf die Welt insgesamt haben und störte die Gesellschaft. Rituelle Handlungen wie Askese, Entsagung, Gabe haben den Zweck, Veränderungen innerhalb der Ordnung der Welt, die durch Geburt, Heirat oder Tod verursacht werden, auszugleichen. Das Prinzip der sakralen Überschreitung entspricht der Würdigung des Festes als Verausgabung und seiner Bedeutung in der Gesellschaft. Diesem Thema widmet Caillois seine »Theorie des Festes«. Er übernimmt unter anderem von Durkheim den Begriff der sozialen Gärung, um das Fest in seiner Dynamik als kollektive Handlung zu charakterisieren. Die Verausgabung von Ressourcen und Energien ist ein Grundzug des Festes, sie trägt zur Erneuerung der Gesellschaft bei. Das Fest ist eine Aktualisierung der Urzeit, des Zeitalters, in welchem alle Institutionen ihre erste Form angenommen haben. Das Fest ist ein Paroxysmus des kollektiven Lebens, es ist ein Kulminationspunkt auch in ökonomischer Hinsicht: Die Güter zirkulieren, die Vorräte werden aus Prestigegründen verteilt und verbraucht. Caillois stützt sich ferner auf Mauss, der in seiner Studie über die Eskimogesellschaften auf das Verhältnis zwischen Fest und Sexualität aufmerksam gemacht hat. Mauss und Beuchat betonen in ihrer Schrift den Kontrast zwischen den beiden Lebensarten im Sommer und im Winter. Der Sommer ist profan orientiert, der Winter ist eine Periode großer Exaltation: »Es ist die Zeit, in der die Mythen und Erzählungen von einer Generation zur anderen weitergegeben werden…Andauernd gibt es eindrucksvolle öffentliche schamanistische Sitzungen, um die Hungernöte zu bannen, wenn die Vorräte verbraucht oder in einem schlechten Zustand sind und die Jagd unbeständig ist. Alles in allem kann man sich das ganze Leben im Winter als eine Art großes Fest vorstellen…Fügen wir schließlich noch hinzu, dass diese verschiedenen Feste immer und überall von sehr auffälligen Erscheinungen sexueller Freizügigkeit begleitet werden…Der sexuelle Kommunismus ist durchaus eine Form der Gemeinschaft, vielleicht die innigste, die es gibt. Wo er herrscht, kommt es zu einer Art Verschmelzung der individuellen Personen ineinander.« (Marcel Mauss, Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften. Eine Studie zur sozialen Morphologie, in: Soziologie und Anthropologie I, Frankfurt/M. 1989, S. 243, 246.)
Das Interesse von Bataille für Mauss wurde zuerst bei einem Gespräche mit seinem Freund Alfred Metraux geweckt. Dieser begegnete seinem Freund Bataille gerade an dem Tag, als er ein Seminar von Mauss besucht hatte. Er erzählte Bataille, Mauss habe an diesem Tag einen interessanten Satz ausgesprochen: »Verbote sind dazu bestimmt, überschritten zu werden.« Die Basis der Theorie des Eros bei Bataille finden wir bei der Vorstellung der Verausgabung (dépense), die Bataille mit dem Begriff Gabe von Mauss verbindet. Für Bataille ist die Erotik eine Form der unproduktiven Verausgabung und eine Form der Überschreitung. Er schreibt: »Die menschliche Tätigkeit ist nicht vollständig auf Prozesse der Produktion und Reproduktion zu reduzieren, und die Konsumption muss in zwei verschiedene Bereiche aufgeteilt werden. Der erste, der reduzierbar ist, umfasst den für die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens und zur Fortsetzung der produktiven Tätigkeit… Der zweite Bereich umfasst die so genannten unproduktiven Ausgaben: Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele, Theater, Künste, die perverse Sexualität stellen ebenso viele Tätigkeiten dar, die zumindest ursprünglich ihren Zweck in sich selbst haben. Also ist es notwendig, den Namen der Verausgabung diesen unproduktiven Formen vorzubehalten, unter Ausschluss aller Arten der Konsumption, die der Produktion als Mittel dienen.« (Bataille, Der Begriff der Verausgabung, in: Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 12.) Die erotische Erfahrung sei eine Form der Verausgabung von Energien, die traditionsgemäß für unrein gehalten wurden. Der antisoziale Charakter der Erotik (wie auch des Todes) kommt in Batailles Identifikation der Verausgabung mit der Überschreitung, mit der Transgression, zum Ausdruck. Diese Art von Verschwendung führt schließlich zur Übertretung der sozialen Schranken und Verbote. Obwohl die Erotik nach Bataille eine Form der inneren Erfahrung darstellt, ist sie wie die Mystik dazu bestimmt, sich der äußeren Welt zuzuwenden und ihre inneren Bilder, Vorstellungen und Passionen mit der Wirklichkeit des Körpers als Objekt der Wollust zu verbinden. Die Aufgabe der erotischen Kunst würde nach Bataille darin bestehen, die Vorstellungen, die Begierde, die Leidenschaften und Obsessionen der Maler einer Epoche in Bilder zu übersetzen. In dieser inneren Erfahrung der Erotik geht es immer darum, eine Bejahung der Sinnlichkeit und eine Rettung des sterblichen Körpers zu erlangen. Der Traum und der Mythos streben hier nach einem wirklichen Objekt oder nach einer Inkarnation. Die körperliche Liebe ist der Raum der erotischen Erfahrung und wird als solcher als Gebiet der Gewalt bezeichnet und ist deshalb dem Tabu unterworfen. Die Überschreitung ist nach Bataille nicht alleine die Negation, sondern auch die Aufhebung und Ergänzung des Verbots (Bataille, L´Erotisme 1957, S. 71.)