Vorwort

»Keine Tabus!« Die Parole der aufgeklärten Gesellschaft, kaum ausgesprochen, lockt sie hervor, eines nach dem anderen: das Tabu, das keines mehr sein soll, neben dem, das auf diesem Weg in die Welt tritt, gleich dahinter das Tabu der Tabulosigkeit selbst. Es dürfte schwerfallen, einen anderen Begriff aus dem Umkreis der frühen Ethnologie zu finden, der so selbstbezüglich die forschende Zivilisation in den Blick rücken konnte wie dieser: der scheinbare Blick in die Vergangenheit der Menschheit hat die in der ›entwickelten‹ Gegenwart anwesende Vergangenheit zwar nicht enthüllt, aber ein für allemal als Bewusstseins-Trug kenntlich gemacht. Man kann die Wörter ›Tabu‹ und ›Fetisch‹ als die kritischen Grundwörter des progressionsbetonten Gegenwartstypus betrachten, wobei das ›Tabu‹ den Vorteil besitzt, nicht an die Marxsche Begriffsarbeit zu erinnern und – im Ernstfall – fast völlig ohne ›konkrete‹ Bedeutung auszukommen. Am bündigsten lässt es sich als Zauberwort charakterisieren, mit dem das aufgeklärte Vorurteil über Gesellschaften mit geringem Veränderungsbedarf oder -willen oder -vermögen in Szene gesetzt wird.

Wer etwas über Bewusstseinslagen in der westlichen Welt in Erfahrung bringen möchte, kann sich auf den Leitfaden der aktuellen Tabudiskussion verlassen. Für die Wissenschaften stellt sich die Lage etwas anders dar. Reden und Schweigen, Stolz und Scham, Veränderungswille und Beharrungsvermögen, Selbsterhaltung und -zerstörung sind elementare Konstituentien von Gesellschaften, Individuen, Systemen aller Art, selbst bloßen Gedanken, die sich nur um den Preis der Gedankenlosigkeit voneinander trennen oder in ein bloßes Feindschaftsverhältnis überführen lassen. Allgemein gesprochen kann es daher stets nur darum gehen, die Leistungsfähigkeit sowie die Leistungsfähigkeit zunächst des Begriffs ›Tabu‹, sodann der Sache selbst zu beschreiben. An dieser Beschreibung sind von der Linguistik bis zur Rechtswissenschaft alle kulturwissenschaftlichen Disziplinen beteiligt – ganz abgesehen von der Religionswissenschaft, die nicht zu Unrecht hier einen ihrer großen Hebel vermutet. Ganz unvermittelt gerät das wissenschaftliche Denken dabei in einen schwer zu überbrückenden Gegensatz zum populären, das unverwandt an der Vorstellung vom ›primitiven‹, mit allen gebotenen Mitteln zu überwindenden Tabu festhält. Dass auch diese Vorstellung ›kein Tabu‹ sein darf – wer wollte das (und mit welchen Mitteln) der Mediengesellschaft vermitteln?

Postsouveräne Gesellschaft und Tabu – wie geht das zusammen? Manche Vorgänge in ›aufgeklärten‹ supranationalen Zusammenschlüssen wie der EU und ihren Institutionen lassen erahnen, wie schnell – gewollte – staatliche Postsouveränität in fatale Einmütigkeit münden kann, die Wert- und Entscheidungsalternativen tendenziell über Exklusion – den Ausschluss, die Ächtung oder die angedrohte oder durchgeführte Verstoßung unliebsam auffallender Glieder der Gemeinschaft – regelt. Bemerkenswert ist, wie vielfältig dieser Prozess auf die Verfassung der Individuen, ihr Artikulationsverhalten und ihre Artikulationswünsche, aber natürlich auch auf ihre realen Aktionsradien zurückwirkt. Die hybride Vokabel der Alternativlosigkeit, die emblematisch für perspektivische Verengung und Verblendung steht, steht auch für die Rückkehr des Tabus in die Mitte der Gesellschaft und des politischen Handelns. Solche Prozesse sind niemals einsinnig. Einerseits rufen sie Gegenkräfte auf den Plan – oder entgrenzen sie ein Stück weit –, andererseits stehen sie selbst in einem Spannungsgefüge, das genauer Analyse bedarf, wenn man das gefühlte, geargwöhnte, behauptete, bestrittene und vor allem kritisierte Tabu nach Genese und Funktion verstehen möchte – und sei es nur, um am Ende Entwarnung zu geben. Sie sollte nicht zu früh kommen.

März 2012
Die Herausgeber