Gerhard Bauer
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Dichten und Aufhören
Vielleicht
Rimbaud. Kronzeuge: Söllner
Wer die
Gabe der Dichtkunst bis zur Publikationsreife in sich ausgebildet hat,
von dem (oder der, versteht sich) erwarten die übrigen
Zeitgenossen, soweit ihnen Dichtung überhaupt etwas sagt, dass
er von dieser Gabe Gebrauch macht, so lange er atmet. Die
Fülle dessen, was zu preisen und zu singen, aber auch zu
problematisieren, zu kritisieren usw. ist (d. h. es
›wert‹ ist), gilt als prinzipiell
unerschöpflich. Die Tiefe einer Anschauung oder die
Komplexität einer Problematik verlangt, dass ein Ansatz, den
einmal jemand (der Autor, Experten, das Publikum) für
brauchbar erachtet hat, weiter ausgebaut wird: verfeinert,
verschärft, radikalisiert,
›vervollkommnet‹, damit nicht nur immer mehr
davon entsteht, sondern damit das schwer Fassbare immer
präziser, einleuchtender ergründet wird. Die
gängigen Vorstellungen vom dichterischen Genie und seinem
sukzessiven (oder auch sprunghaften) Reifen verstärken noch
die Erwartung: Wer eine solche Kunst beherrscht, der müsse
auch interessiert und engagiert sein, sie kontinuierlich
auszuüben.
Dass die dichterische
Subjektivität und Kreativität sich immer nach dieser
gesellschaftlichen Erwartung richtet, ist damit natürlich
nicht gesagt. Sie kann auf die vielfältigsten
Hinderungsgründe stoßen oder solche aus sich selbst
entwickeln. Die spezifische Konzentration, die das dichterische Metier
verlangt – früher gern in Form von
Erhebung, Pathos, Endgültigkeit usw. vorgestellt –,
ist eben auch eine Anstrengung, zu der die dichtenden Individuen nicht
immer oder nicht gleichmäßig über die Jahre
hinweg geneigt, innerlich eingestellt sind. Die ›lyrische
Ader‹ kann versiegen. Manche Autoren empfinden das Dichten
als etwas spezifisch Jugendliches und beschränken es auf ihre
frühen Jahre, wofür vermutlich die meisten ihrer
Rezipienten, aus allgemeiner Lebenserfahrung oder aus der Erinnerung an
eigene Jugendsünden, volles Verständnis haben.
Hofmannsthal schrieb hinreißende Verse, bis er 25 war. Danach
entwickelte er andere Ausdrucksformen, während sein
Altersgenosse Rilke in seinen reiferen Jahren nur immer ausgreifender,
beziehungsreicher, sinnlich mächtiger und noch pointierter
lyrisch imaginativ dichtete. Oft lässt sich gar nicht sicher
ausmachen, warum ein Dichter aufhört zu dichten. Seit 200
Jahren können die Leser Hölderlins grübeln,
was es war, in ihm selbst und/oder von außen, was ihn aus
seiner unerhörten Schaffensfähigkeit und
Schaffenssicherheit herausgerissen hat. Er sagt es nicht; vielleicht
verschweigt er es absichtlich (das behauptet Bertaux). Was er sagt:
»Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!«
ist, bei immer noch strikt ›gefasster‹ Sprache,
so lichtweit von dem Flug seiner Oden und Hymnen entfernt, dass es die
Ratlosigkeit vollends triumphieren lässt. Das Werk, wie es
vorliegt, inklusive die Fragmente wird notwendigerweise das Ganze, an
das wir uns zu halten haben, mit nicht mehr und nicht weniger Verweis
über sich hinaus, als Werke der Einbildungskraft in jedem Fall
enthalten.
›Harte Zeiten‹
haben die Dichtung im Lauf der Geschichte ebenso provoziert wie
erschwert. Wenn politische Wendungen von den betroffenen Dichtern so
einschneidend erlebt wurden, dass ihrem Wort der Boden entzogen wurde,
dann hörten sie zwangsläufig auf zu schreiben. So
reagierte Weerth auf die Beerdigung der bürgerlichen
Revolution 1848/49, Rimbaud auf die Restauration, die die Funken der
Commune austrat, Tucholsky auf die Zerschlagung der Republik, deren
Aushöhlung und Ausverkauf er 14 Jahre lang mit
beißenden Sprachgesten gegeißelt hatte. In Rimbauds
poetischen Ballungen ist der Drang, sich zu verausgaben, im Bateau
ivre auch: zu verströmen oder preiszugeben,
unüberhörbar ausgebildet. Wie das
unersättlich ausschweifende ›Ich‹, dem
er eine Saison (eine Sommerfrische?) in der
›Hölle‹ spendiert, sich von allem
Vorgefundenen, fast allem Denkbaren abstößt und mit
den gleichen aggressiven Sprachgesten, oft Endurteilen, über
sich selbst herfällt, das macht den Eindruck, als ob dieser
Autor in kürzester Zeit (im Alter von 19 Jahren) mit dieser
nichtswürdigen Welt fertig werden wollte – ohne dass
er ihr aber auch ein würdigeres begreifendes oder gar
eingreifendes Subjekt entgegensetzen konnte. »Allons! La
marche, le fardeau [Traglasten, Gepäck], le désert,
l’ennui et la colère.« Kaum jemand, der
sich mit den glühenden und zerrenden sprachlichen Zeugnissen
dieses Höllenaufenthalts oder den nicht minder eruptiven Illuminations
beschäftigt hat, kam davon los, ohne das abrupte Versiegen
eines solchen dichterischen Lavastroms zu bedauern. »Ekstase,
Alptraum, Schlaf in einem Meer von Flammen.« Meist wird die
Unbegreiflichkeit dieses Abbruchs herausgestellt, da doch die Kraft der
gedanklichen wie der sprachlichen Einfälle, die die
vorliegenden Dichtungen bezeugen, so mühelos und unverbraucht,
also eigentlich unerschöpflich wirke. Konzentriert man sich
aber auf den Gebrauch, den der Autor von dieser seiner erstaunlichen
Sprach-, Bild- und Imaginationskraft gemacht hat, bleibt das
Aufhören nicht völlig unbegreiflich. Die imaginative
Potenz des Autors bleibt unerschöpft, aber die Objekte, die er
sich sucht (die sich ihm aufdrängen), die Gefechte mit diesen
Objekten, in die er sein erlebendes und reagierend-reflektierendes Ich
verstrickt, sucht er bis zu einem Clou, einer Erschöpfung der
Sicht oder der Streitsache zu bringen.
Bei Rimbaud
aber ist alles zu glühend und zu dunkel, vielleicht auch opak,
als dass man, ich jedenfalls, etwas Sicheres in diesem Abbruch erkennen
könnte. Mit Rimbaud wollte ich nur die Schärfe und
Komplexität der Frage unterstreichen. Um festeren Boden unter
die Füße zu bekommen, halte ich mich an zeitlich und
räumlich näher gelegene Autoren, die nicht irgendwo
in den Weiten Afrikas oder des Orients verschwinden. Auch als
überschaubarer, als überwiegend im Inneren spielender
Vorgang ist das Aufhören dichterischer Produktivität
abenteuerlich genug.
Nicht nur historische
Umbrüche können den Poeten die Rede verschlagen. Auch
das Bewusstsein eines schleichenden Niedergangs sei es der menschlichen
Zivilisation selbst oder sei es des Mutes, ihre Verhärtungen
oder ihr Abschmelzen zu ertragen, bringt manche beredte Zunge zum
Verstummen; oder macht sie kleinlaut; oder bedrückt oder
lähmt sie so sehr, dass selbst die noch lange fortgesetzten
Dichtungen wie permanente Abgesänge wirken. Warnungen vor
einem ›Ende‹ sowie Verdammungssprüche
über den nichtswürdigen, nichtigen, unhaltbaren
Zustand dessen, was einstmals als menschliche Kultur gegolten hat,
ziehen sich durch die Geschichte der Menschheit und ihrer
schönen Literatur. Sie müssen nicht als solche dazu
führen, dass der Straf- oder Unheilsprophet verstummt, es sei
denn, dass ein so gewarntes und harthöriges Troja wirklich
fällt. Im 20. Jahrhundert haben die einander jagenden
Avantgarden – die meisten ihrer Vertreter haben Rimbauds
triumphal-destruktiven Ton dankbar aufgenommen; die deutschen Experten
waren davon ganz hingerissen –, dann die Existenzialisten und
die Dichter nach dem Holocaust die Abrechung mit der versagenden oder
verfaulenden, der ausgehöhlten, ihres Kerns beraubten
Zivilisation zum cantus firmus erhoben. Der Ton der Anprangerung ist
durchweg machtvoll, doch was sie beklagen oder verdammen, erweist sich
nicht immer als »groß und abscheulich«,
oft auch als kläglich, oder nur äußerlich
mächtig und innen hohl. »This is the way the world
ends« formuliert T. S. Eliot in seinem Strafgericht
über The Hollow Men und wiederholt es noch
zweimal, wie mit Posaunen instrumentiert. Die enorme
Ankündigung aber entlädt sich in ein fatal-banales
Resümee, als ob ein Luftballon angestochen würde:
»Not with a bang but a whimper«. Nicolas Born holt
diese sprachliche Veranstaltung 40 Jahre später auf den Boden
der Existenz in der vollendeten Kümmerlichkeit oder
Nichtswürdigkeit herab: »Mit glattem Knall ist uns
nicht gedient / uns wäre Gewinsel schon recht«.
Czesław Miłosz, der in den frühen 30er Jahren mit
ähnlich eingestellten Freunden eine
»Katastrophisten-Schule« gegründet hatte,
schreibt angesichts des Untergangs Warschaus (1943/44) sein Liedchen
vom Ende der Welt und lässt darin alle Apokalyptiker
und Untergangsadepten abblitzen: In nichts anderem als der
friedlich-emsigen, blind um sich kreisenden Reproduktion des Lebens
besteht das ›Ende der Welt‹. Kein Wunder, dass
Miłosz sein ganzes langes Leben gebraucht hat, um das so vertrackte
›Weltende‹ in seiner Verhakelung mit
sämtlichen Regenerationsprozessen und in der Erprobung einer
immer komplexeren ›Ars poetica‹ weiterzudenken.
Um auch die subjektive, gewissermaßen
›empfindliche‹ Seite des Vorgangs der Beendigung
einzubeziehen, der so unübersehbar ist, dass er sich bis zum
Himmelsgewölbe hinaufprojizieren oder im einzelnen liebenden
›Herzen‹ ausmachen lässt, sei ein
Gedicht von Sarah Kirsch angeführt, die ebenfalls nach allen
destruktiven Entdeckungen weiter gedichtet hat – man kann es
ihrem Ausdruck schon ansehen, auch im hier zitierten Gedicht
– und die das hoffentlich noch lange fortsetzen wird.
»Kälte
Gedämpftes
Hundebellen laternentragende
Kinder am Martinstag wenn der
Heilige
Durchs Dorf und über die Felder reitet.
Die
gesprungene Schüssel des Himmels
Die Straße
unbedeutender niederer Sterne
So lange unerwiderte Liebe
angenommenen
Gottes töten das Herz im
Gemäuer der Nacht.«
Wie Dichten
und Verstummen, Worte-Machen und ein anwachsender Widerwille gegen alle
schon gebrauchten oder denkbaren Worte sich durchdringen, bis die
Zerreißprobe sich nicht mehr fortsetzen lässt und
daraus ein definitiver Riss resultiert, lässt sich an der
lyrischen Produktion von Werner Söllner gut verfolgen. Bei
Söllner lag es nicht, wie bei manchen in Deutschland
einheimischen Autoren, am Ausbleichen der möglichen
Gegenstände vor lauter Reflexion und Sprachkritik. Er ist
einer der aus Ceausescus Securitate-Staat hinausgeekelten
rumäniendeutschen Autoren. Er hatte ein Thema, das sich
allerdings im Laufe seiner Entfaltung mit fast allen Themen
berührte, die zu dieser Zeit in der Bundesrepublik (oft auch
darüber hinaus) vordringlich waren. Seine Situation des
Migranten, seine Unangepasstheit, sein Blick von Draußen
verlangte nach Ausdruck. Bei der Arbeit am präzisen Ausdruck
aber, mit dem diese Situation nicht nur gefasst, sondern auch
überzeugend ›beantwortet‹ werden sollte,
scheint etwas ausgehakt zu sein, was das Weiterschreiben verwehrte.
Worin könnte das bestanden haben?
Unangepasstheit
verraten schon die frühen Gedichte, in denen Söllner
aus der Sicht des Angehörigen der unbeliebten deutschen
Minderheit in Rumänien zumeist gewöhnliche
Erfahrungen darstellt und gedanklich wie sprachlich zunehmend
verfremdet. Zwei Bände ließ er in Klausenburg, zwei
in Bukarest erscheinen. Nur der erste (Wetterberichte, 1975) enthielt
noch stramm aktivistische Gedichte. Der zweite bekundete schon eine
Verweigerung: Mitteilungen eines Privatmannes
(1978), die folgenden hießen Unter der billig
gemieteten Sonne und Eine Entwöhnung
(beide 1980). Die Distanz von dem, was in ihm vorgeht und was er
geschehen lassen, deshalb aber auch mit wachsender Eindringlichkeit
reflektieren und auf seinen Ausdruck bringen muss, ist die
vorherrschende intellektuelle Bewegung dieser teils kurzen, teils
längeren bis sehr langen Gedichte. Am Titelgedicht Eine
Entwöhnung, unter dem Motto von Hölderlin:
»Uns ist gegeben, an keiner Stätte zu
ruhn«, in 37 vierzeiligen Textblöcken mit
unregelmäßig gebauten Langzeilen, lässt
sich ablesen, wie sich die Haltung der Vorsicht natürlich auch
auf die eigene Situation, die Sprache, das gedichtete Werk erstreckt.
»Mein Ich lebte wie deins oder seins, im Verzug«.
Aus der Schulzeit wird als der bleibende Gewinn verbucht: Der Verlust
des Sprechens zugunsten des Lesens und Schreibens«. Von den
eigenen Gedichten stellt das sprechende und schreibende Ich fest:
»in denen gewann, wer zu schweigen verstand«.
(Diese Festlegung, oder die Deutlichkeit dieser Deklaration, ging dem
Autor z. Z. seines repräsentativsten Bandes Kopfland.
Passagen offenbar zu weit; er ließ sie weg.) Karl
Kraus' Einsicht in die geradezu obszöne Dreistigkeit des
Gesamtprozesses ›Leben‹ (moralisch und politisch
wie sprachlich) setzt das Gedicht in einen stark verfremdenden Bezug
zur zentralen Metapher des Bandes: Das kindliche Ich will sich allein
entwöhnen, »denn das Leben geht weiter, als es
vertretbar ist«. Mit einer drastisch negierenden Sprachgeste
– geht es hier vielleicht seinerseits weiter, als es
vertreten kann? – konstatiert das dichtende Ich:
»alles ist irgendwie ähnlich, vom Nichts aus
betrachtet. Aber / das Nichts ist ohrenbetäubend«.
(In der Neufassung 1988 wurde auch dieser Passus gestrichen.)
Der
Band mit den stärksten und poetischsten Gedichten des
verunsicherten Poeten Söllner, Kopfland. Passagen,
erschien 1988. Er gestaltet ein Ich, das angekommen ist, wohin es,
nicht nur freiwillig, tendiert hat, und das nun dieses Land, sein
eigenes Leben, das Leben der Menschen überhaupt in der
gegebenen Stufe ihrer Zivilisation ermisst. Das Land ist ein
»Klamottenland, Zwangland, Kopfland«, wenig
einladend und doch der nun einmal gegebene Aufenthaltsort (Notausgang,
KP 99-104). Es lässt sich am ehesten mit rebellierenden
Begriffen, mit Überschreitungen bis zu stehenden
Widersprüchen oder zum Irrealis erfassen und, so
könnte man aus der Stillstellung der
›schönen Wut‹ schließen,
ertragen: »Unterüberland«, »Wo
Erde nicht ist, ist sie ganz« (ebd.). Das gewaltige,
flammende verbale Aufbegehren, mit dem Rimbaud seinerzeit der gesamten
Welt um ihn ihre Nichtswürdigkeit in die Zähne
geschleudert hat (und das noch bei den Expressionisten, bei Michaux,
Dylan Thomas, Pablo Neruda u. a. immer wieder hervorbrach), es wirkt
herabgebrannt zu der indignierten Feststellung dessen, was der Fall
ist. »die adäquate Misere in der Beschreibung der
Einsicht, / daß das Leben offenbar so ist« (KP
101). Die ›Passagen‹, die der Band
zusätzlich zum ›Kopfland‹ hervorhebt,
haben hierher geführt, und hier geschieht das altbekannte
Immergleiche – vergiss es. »Ödipus
erscheint mir / zu Tode geheilt« (Passagen, KP 109-115).
»Alles ist nur / eine Folge von Ursachen und hat seine
Grundordnung« (KP 68). Das Reizwort der 80er Jahre wird nicht
als Streitgegenstand (und ohne den Zusatz
›freiheitlich-demokratisch‹) aufgenommen, es wird
zur Besiegelung des tautologisch-stagnierenden Zustands eingesetzt.
Im
Subjekt, das so reagiert, regt sich in Erinnerung und Unruhe noch etwas
anderes. Dieses Subjekt wird mit einer
Hölderlin-Vergröberung und der Wiederaufnahme eines
anderen Reizwortes (aus der Mescalero-Debatte von 1977) bis zu einem
Pattzustand geführt, in dem selbst die Sprache changiert und
nichts ›bleibt‹ als das, vor allem mit Worten,
sich selbst zusetzende Ich.
»so zerstöre ich
mich und gehe Bleibendes
stiften, mit hilflosen Fingern, ja
ah
aha, klamm,
heimlich pochend, von innen an der Wand meiner Haut,
die Welt
im Kopf, halb traurig,
halt froh und lebend,
verstehst du, sage ich, von dem wenigen,
das ich nicht weiß,
daß ich nicht
weiß, und auch das ist zu viel, daß ich
zerplatze.«
(ebd.)
»Man kann das ganze Zeug / nur
einmal schreiben«, lässt der Autor seine lyrische
Stimme denken (ebd.) – eine ruppige, eher beiläufige
Wendung, für die hier gewählte Fragestellung aber
hoch signifikant. Das ganze Gedicht, Fragment für
Arnika (KP 67-73), ist durchzogen von einer ebenso
hartnäckigen wie erfolglosen Auseinandersetzung mit der
Sprache, die schließlich in die schiere Paradoxie
führt. Mit derartigen zugleich erledigenden und bestehen
lassenden Formeln wird sowohl die soziale Verfassung des Westens als
auch die eigene Handlungs- oder Selbstvorstellungsschwäche
bedacht: »wer's hat // hat's« (KP 25);
»traurig geworden daß alles so wird / wie man es
macht« (KP 94); »Ich werde, was ich war. Ich bin,
was ist« (KP 63). Celan (Söllner hat über
Celan promoviert) ist schon (1970, wie das Gedicht zweimal vermerkt)
»zu den Fischen gegangen« und hat vorher
»zu den Stummen / gesprochen, sprachlos, vom
Sprach-Los«, also sprechen jetzt die Fische zu diesem
sprechenden (d. h. nur noch mit Mühe sprechenden) Ich,
»lautstumm«. Das Ich »winkt«
nur noch »mit langsam müder werdenden
Wörtern aus Staub, / aus denen das Fleisch
entsteht«. »Und was sind schon Wörter? /
Lemminge«. Schließlich hat es den Eindruck,
»weniger« zu werden, während es spricht.
»An den Grenzen / des Nichts, dieser Sprache«
zerbricht es sich »den Kopf, das Herz«. Das Gedicht
endet mit der Strophe
»Ach, ich spinne. Ich
muß spinnen. Der Faden, an dem,
du verstehst,
dieser Text hängt, der dünne Faden, er
reißt,
und ich hänge daran, ich muß spinnen.«
Die in
diesem Band versammelten Gedichte sind voll von Sätzen und
Formeln, in denen das Leben, eine Bewegung, eine Erwartung bis auf
›Null‹ reduziert wird. »Ich esse
gefrornen Zement« heißt es en passant in einem der
älteren Gedichte, Winter der Gefühle
(KP 35-38), und als Clou eines neuen unter dem zweideutigen Titel Gerettet:
»In unseren Adern fließt Asche« (KP 88).
Auch wenn liebe Menschen zu Besuch kommen und die Freude
darüber die Feder führt, sich Platz schaffen will,
eine »Oase hinter den Dünen der Syntax«
sucht (Besuch), ist gerade dem Medium der
Verbindung nicht zu trauen. »ein / Wort gibt das andere
Schweigen«; »diese Sprache ist ein Fluß,
in / den wir geworfen werden ein Landwehrkanal. Die Passagen
führen letzten Endes
»nichtswärts« (KP 75) oder
»Nirgendwärts« (KP 23). Ein Gedicht unter
diesem Titel widmet Söllner der »Erinnerung an R. D.
Brinkmann«. Seine Hochachtung vor der Kunst der Herabspannung
bis auf das, was sich den Sinnen, dem Auge vor allem,
tatsächlich zeigt, ist unverkennbar, nur dass Söllner
es offenbar bei den geringfügigen oder trivialen Sinnesdaten
auch nicht aushält. Nirgendwärts
wirkt wie ein destruktives Echo auf Brinkmanns Westwärts
1 & 2. Söllner arbeitet auch mit
Ausdrücken der aggressiven (vor allem
selbstbeschädigenden) Reduktion, doch die trotzig
herausgestellte Schäbigkeit, die z. B. Michael Sallmann, ein
anderer ›aufhörender Dichter‹ (um
Tucholskys Selbstbezeichnung abzuwandeln) in die Lyrik
eingeführt hat, macht er seinerseits nicht mit. Eine vorletzte
Station der Passagen wird als Restbestand
»der Würde des Menschen« notiert
– »bis die Langeweile / uns einholt und der
Countdown beginnt«, und darauf antwortet bald: »Das
Abendland möge sie fressen«
[›sie‹ ist vermutlich ›diese
Freiheit‹]. »Jedes Wort ist ein Wort zu
viel«. Unter diesem Motto von E. M. Cioran wird das Patt
zwischen Sprechen und Schweigen so obsessiv ausgeführt, dass
die trübsinnige Behauptung als glänzend
bestätigt gelten kann. Das Eingangsgedicht des ganzen Bandes
endet mit dem Vers »Denn hörte ich, was ich
spräche, ich wäre stumm«.
So
bleibt der Befund dieses Bandes zwielichtig: eine fortlaufende
Selbstermahnung zum Aufhören, mit dem Hintertürchen
der Wiedervorlage. Der folgende Band wurde der letzte, bis heute
jedenfalls: Der Schlaf des Trommlers, 1992. Die
Auseinandersetzung mit dem, was Celan hinterlassen hat, wird
fortgeführt, jetzt noch vermehrt um eine Wiederaufnahme
Bachmanns. Was aber bewahrt wird, erweist sich als
»Satzzeichenstaub / in der alten Schachtel Sprache«
(Im großen Gerede, S. 28). Der Rat am Ende von Hotel
Eden (ST 39) funkelt von einstigen Hoffnungen im Modus der
Unzugänglichkeit: »und wählst zuerst die
Null / um mit Utopia zu sprechen«. Die Sprachkritik wird
gegenüber der früheren (von Entwöhnung
bis zu Kopfland. Passsagen) nicht weiter
verschärft, aber sie tritt in einen Status der
Müdigkeit oder Desolatheit ein. »Die Gedanken /
immer weiter weg / vom Gedachten« (ST 67). Der
»Wortstaub« hat sich offenbar verkrümelt
»in den Ritzen der Welt« (ST 7). Der Schrecken, den
die Aufklärung kannte, wenn die abgedichtete eigene, angeblich
moralische Welt mit der ruchlosen Realität draußen
zusammenstieß, wird zum Dauererlebnis, das der Wortjongleur
nur noch im Gelächter ernstnehmen kann: »Und immer,
immer / drehe und wende ich die Wörter auf dem Papier, als
wären sie naß / und trockneten an dem
Gelächter, das / mich greift und schüttelt, wenn ich
sehe / was ich sehe« (Im Mai, ST 35, vgl. 81). Das Bild des
›Trommlers‹ oder auch
›Hüters‹, das in drei Gedichten
explizit, in anderen unterschwellig präsent ist, hat gerade
die aufrüttelnde Wirkung, die Heines Tambour so elektrisierend
gemacht hat, eingebüßt. Söllners Trommler,
dem selber träumenden Hüter mit seinen
»Trommeln aus Stein«, gelingt es noch,
»das verstreute Gebein« zu rufen, aber die gerade
Erwachten kauen schon wieder Mohn und werden sich aus ihrer
Verstrickung nicht lösen können; sie
»ziehen eiserne Nägel / sich aus dem Tod«
(ST 25). Mit Bildern oder Vorstellungen von einst (sowie Symbolen oder
Begriffen im Klartext) werden Absagen an das Gewesene, einstmals
Geltende, oder Rückzüge auf minimale Reste
durchgeführt, ein paar davon auch kunstvoll oder
nachlässig gereimt (wie schon in Kopfland. Passagen).
Eine herabgestimmte Huldigung an die Schweiz, »dieses
besondere Land«, das der »kleinen gefangenen
Seele« auch keine Flügel verleiht, mündet
in eine Konfrontation mit einem Pfau im Käfig:
»Drinnen leuchtet / die Freiheit, draußen knacken /
die Stäbe im Brustkorb« (ST 48/51). »Kann
sein« ist die Formel, auf die der nicht einmal mehr
enttäuschte, nur noch konstatierende, innerlich wegtretende
Dichter die Erscheinungen bringt: die Spannungen im Großen
wie im Kleinen, die Zeichen der Zeit und den Zustand des
»Ich« (ST 40-43). Zum Dichten bleibt da nicht viel
übrig:
»Ansonsten –
na was denn?
Ein Dichterleben, also meist ein
Lamento:
ein bißchen
Politik
jede Menge
Hochmut
ein paar verkrachte
Frauengeschichten
Alkohol,
später Hunde
und hie
und da
der Mount Everest einer
Formulierung.«
Die Gründe des
Verstummens bleiben disparat. Die Zustände der hier
vorgefundenen Gesellschaft verdienen jede Menge kritische Kommentare,
in Versen wie in Prosa, aber sie sind anscheinend resistent gegen noch
so eindringliche, empörte, spitze, entlarvende oder
blamierende Bezeichnungen. Das erlebende und gestaltende Subjekt
fühlt sich gerade in seiner Subjektivität: in der
Kraft, sich selbst gegen die unwürdigen/stagnierenden
Zustände auszuspielen, an ein Ende gelangt. Die Sprache und
ihre Weiterentwicklung, ihr Potenzial zu mitreißenden und
schlagenden Wendungen ist unerschöpflich. Hat man das aber
eine Weile ausprobiert, ein Feuerkopf wie Rimbaud nur zwei Jahre, ein
besonnener Dichter wie Söllner fast 20 Jahre, was verspricht
dann noch ein ab und an erreichbarer »Mount Everest einer
Formulierung«?
Das Ensemble der
Gründe spricht für sich; es wird in den beiden
Gedichtbänden deutlich bezeichnet. Die Art aber, wie dieser
Poet abbricht und aufhört, sollte uns zu denken geben. Es mag
schade sein, es bedeutet aber kein Unglück, gibt er zu
verstehen, wenn das, was er geschrieben hat, so und von ihm nicht
fortgesetzt wird. Andere mögen kommen; er kann sich anders
betätigen und sich anders äußern, ggf. auch
wieder zu einem Publikum sprechen; Liebhabern seiner Gedichte steht es
weiterhin frei, zu den vorliegenden zu greifen, die viel enthalten. Er
hat das gesagt, woran ihm lag. Eine Verpflichtung nach dem Schema
einmal Poet – immer Poet ist er nicht eingegangen; dieses
Denkschema überhaupt wäre kritisch zu
überprüfen. Die Freiheit, die starke Gedichte ihren
Lesern schenken, d. h. zu der sie einladen, ist eine
außerordentlich vielfältige, vieldimensionale.
Vielleicht sollen wir auch das Geschenk darunter verbuchen, dass sie
uns wieder loslassen.
»Im Herbst steht die
Sonne tief.
Es genügt
einigermaßen aufrecht zu gehen
und
schon muß man blinzeln
und
die Augen tränen. [...]
Kann sein.
Kann
sein.«