Gerhard Bauer
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Dichten und Aufhören
Vielleicht Rimbaud. Kronzeuge: Söllner


Wer die Gabe der Dichtkunst bis zur Publikationsreife in sich ausgebildet hat, von dem (oder der, versteht sich) erwarten die übrigen Zeitgenossen, soweit ihnen Dichtung überhaupt etwas sagt, dass er von dieser Gabe Gebrauch macht, so lange er atmet. Die Fülle dessen, was zu preisen und zu singen, aber auch zu problematisieren, zu kritisieren usw. ist (d. h. es ›wert‹ ist), gilt als prinzipiell unerschöpflich. Die Tiefe einer Anschauung oder die Komplexität einer Problematik verlangt, dass ein Ansatz, den einmal jemand (der Autor, Experten, das Publikum) für brauchbar erachtet hat, weiter ausgebaut wird: verfeinert, verschärft, radikalisiert, ›vervollkommnet‹, damit nicht nur immer mehr davon entsteht, sondern damit das schwer Fassbare immer präziser, einleuchtender ergründet wird. Die gängigen Vorstellungen vom dichterischen Genie und seinem sukzessiven (oder auch sprunghaften) Reifen verstärken noch die Erwartung: Wer eine solche Kunst beherrscht, der müsse auch interessiert und engagiert sein, sie kontinuierlich auszuüben.

Dass die dichterische Subjektivität und Kreativität sich immer nach dieser gesellschaftlichen Erwartung richtet, ist damit natürlich nicht gesagt. Sie kann auf die vielfältigsten Hinderungsgründe stoßen oder solche aus sich selbst entwickeln. Die spezifische Konzentration, die das dichterische Metier verlangt –  früher gern in Form von Erhebung, Pathos, Endgültigkeit usw. vorgestellt –, ist eben auch eine Anstrengung, zu der die dichtenden Individuen nicht immer oder nicht gleichmäßig über die Jahre hinweg geneigt, innerlich eingestellt sind. Die ›lyrische Ader‹ kann versiegen. Manche Autoren empfinden das Dichten als etwas spezifisch Jugendliches und beschränken es auf ihre frühen Jahre, wofür vermutlich die meisten ihrer Rezipienten, aus allgemeiner Lebenserfahrung oder aus der Erinnerung an eigene Jugendsünden, volles Verständnis haben. Hofmannsthal schrieb hinreißende Verse, bis er 25 war. Danach entwickelte er andere Ausdrucksformen, während sein Altersgenosse Rilke in seinen reiferen Jahren nur immer ausgreifender, beziehungsreicher, sinnlich mächtiger und noch pointierter lyrisch imaginativ dichtete. Oft lässt sich gar nicht sicher ausmachen, warum ein Dichter aufhört zu dichten. Seit 200 Jahren können die Leser Hölderlins grübeln, was es war, in ihm selbst und/oder von außen, was ihn aus seiner unerhörten Schaffensfähigkeit und Schaffenssicherheit herausgerissen hat. Er sagt es nicht; vielleicht verschweigt er es absichtlich (das behauptet Bertaux). Was er sagt: »Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!« ist, bei immer noch strikt ›gefasster‹ Sprache, so lichtweit von dem Flug seiner Oden und Hymnen entfernt, dass es die Ratlosigkeit vollends triumphieren lässt. Das Werk, wie es vorliegt, inklusive die Fragmente wird notwendigerweise das Ganze, an das wir uns zu halten haben, mit nicht mehr und nicht weniger Verweis über sich hinaus, als Werke der Einbildungskraft in jedem Fall enthalten.

›Harte Zeiten‹ haben die Dichtung im Lauf der Geschichte ebenso provoziert wie erschwert. Wenn politische Wendungen von den betroffenen Dichtern so einschneidend erlebt wurden, dass ihrem Wort der Boden entzogen wurde, dann hörten sie zwangsläufig auf zu schreiben. So reagierte Weerth auf die Beerdigung der bürgerlichen Revolution 1848/49, Rimbaud auf die Restauration, die die Funken der Commune austrat, Tucholsky auf die Zerschlagung der Republik, deren Aushöhlung und Ausverkauf er 14 Jahre lang mit beißenden Sprachgesten gegeißelt hatte. In Rimbauds poetischen Ballungen ist der Drang, sich zu verausgaben, im Bateau ivre auch: zu verströmen oder preiszugeben, unüberhörbar ausgebildet. Wie das unersättlich ausschweifende ›Ich‹, dem er eine Saison (eine Sommerfrische?) in der ›Hölle‹ spendiert, sich von allem Vorgefundenen, fast allem Denkbaren abstößt und mit den gleichen aggressiven Sprachgesten, oft Endurteilen, über sich selbst herfällt, das macht den Eindruck, als ob dieser Autor in kürzester Zeit (im Alter von 19 Jahren) mit dieser nichtswürdigen Welt fertig werden wollte – ohne dass er ihr aber auch ein würdigeres begreifendes oder gar eingreifendes Subjekt entgegensetzen konnte. »Allons! La marche, le fardeau [Traglasten, Gepäck], le désert, l’ennui et la colère.« Kaum jemand, der sich mit den glühenden und zerrenden sprachlichen Zeugnissen dieses Höllenaufenthalts oder den nicht minder eruptiven Illuminations beschäftigt hat, kam davon los, ohne das abrupte Versiegen eines solchen dichterischen Lavastroms zu bedauern. »Ekstase, Alptraum, Schlaf in einem Meer von Flammen.« Meist wird die Unbegreiflichkeit dieses Abbruchs herausgestellt, da doch die Kraft der gedanklichen wie der sprachlichen Einfälle, die die vorliegenden Dichtungen bezeugen, so mühelos und unverbraucht, also eigentlich unerschöpflich wirke. Konzentriert man sich aber auf den Gebrauch, den der Autor von dieser seiner erstaunlichen Sprach-, Bild- und Imaginationskraft gemacht hat, bleibt das Aufhören nicht völlig unbegreiflich. Die imaginative Potenz des Autors bleibt unerschöpft, aber die Objekte, die er sich sucht (die sich ihm aufdrängen), die Gefechte mit diesen Objekten, in die er sein erlebendes und reagierend-reflektierendes Ich verstrickt, sucht er bis zu einem Clou, einer Erschöpfung der Sicht oder der Streitsache zu bringen.

Bei Rimbaud aber ist alles zu glühend und zu dunkel, vielleicht auch opak, als dass man, ich jedenfalls, etwas Sicheres in diesem Abbruch erkennen könnte. Mit Rimbaud wollte ich nur die Schärfe und Komplexität der Frage unterstreichen. Um festeren Boden unter die Füße zu bekommen, halte ich mich an zeitlich und räumlich näher gelegene Autoren, die nicht irgendwo in den Weiten Afrikas oder des Orients verschwinden. Auch als überschaubarer, als überwiegend im Inneren spielender Vorgang ist das Aufhören dichterischer Produktivität abenteuerlich genug.

Nicht nur historische Umbrüche können den Poeten die Rede verschlagen. Auch das Bewusstsein eines schleichenden Niedergangs sei es der menschlichen Zivilisation selbst oder sei es des Mutes, ihre Verhärtungen oder ihr Abschmelzen zu ertragen, bringt manche beredte Zunge zum Verstummen; oder macht sie kleinlaut; oder bedrückt oder lähmt sie so sehr, dass selbst die noch lange fortgesetzten Dichtungen wie permanente Abgesänge wirken. Warnungen vor einem ›Ende‹ sowie Verdammungssprüche über den nichtswürdigen, nichtigen, unhaltbaren Zustand dessen, was einstmals als menschliche Kultur gegolten hat, ziehen sich durch die Geschichte der Menschheit und ihrer schönen Literatur. Sie müssen nicht als solche dazu führen, dass der Straf- oder Unheilsprophet verstummt, es sei denn, dass ein so gewarntes und harthöriges Troja wirklich fällt. Im 20. Jahrhundert haben die einander jagenden Avantgarden – die meisten ihrer Vertreter haben Rimbauds triumphal-destruktiven Ton dankbar aufgenommen; die deutschen Experten waren davon ganz hingerissen –, dann die Existenzialisten und die Dichter nach dem Holocaust die Abrechung mit der versagenden oder verfaulenden, der ausgehöhlten, ihres Kerns beraubten Zivilisation zum cantus firmus erhoben. Der Ton der Anprangerung ist durchweg machtvoll, doch was sie beklagen oder verdammen, erweist sich nicht immer als »groß und abscheulich«, oft auch als kläglich, oder nur äußerlich mächtig und innen hohl. »This is the way the world ends« formuliert T. S. Eliot in seinem Strafgericht über The Hollow Men und wiederholt es noch zweimal, wie mit Posaunen instrumentiert. Die enorme Ankündigung aber entlädt sich in ein fatal-banales Resümee, als ob ein Luftballon angestochen würde: »Not with a bang but a whimper«. Nicolas Born holt diese sprachliche Veranstaltung 40 Jahre später auf den Boden der Existenz in der vollendeten Kümmerlichkeit oder Nichtswürdigkeit herab: »Mit glattem Knall ist uns nicht gedient / uns wäre Gewinsel schon recht«. Czesław Miłosz, der in den frühen 30er Jahren mit ähnlich eingestellten Freunden eine »Katastrophisten-Schule« gegründet hatte, schreibt angesichts des Untergangs Warschaus (1943/44) sein Liedchen vom Ende der Welt und lässt darin alle Apokalyptiker und Untergangsadepten abblitzen: In nichts anderem als der friedlich-emsigen, blind um sich kreisenden Reproduktion des Lebens besteht das ›Ende der Welt‹. Kein Wunder, dass Miłosz sein ganzes langes Leben gebraucht hat, um das so vertrackte ›Weltende‹ in seiner Verhakelung mit sämtlichen Regenerationsprozessen und in der Erprobung einer immer komplexeren ›Ars poetica‹ weiterzudenken. Um auch die subjektive, gewissermaßen ›empfindliche‹ Seite des Vorgangs der Beendigung einzubeziehen, der so unübersehbar ist, dass er sich bis zum Himmelsgewölbe hinaufprojizieren oder im einzelnen liebenden ›Herzen‹ ausmachen lässt, sei ein Gedicht von Sarah Kirsch angeführt, die ebenfalls nach allen destruktiven Entdeckungen weiter gedichtet hat – man kann es ihrem Ausdruck schon ansehen, auch im hier zitierten Gedicht – und die das hoffentlich noch lange fortsetzen wird.

»Kälte
Gedämpftes Hundebellen laternentragende
Kinder am Martinstag wenn der Heilige
Durchs Dorf und über die Felder reitet.
Die gesprungene Schüssel des Himmels
Die Straße unbedeutender niederer Sterne
So lange unerwiderte Liebe angenommenen
Gottes töten das Herz im Gemäuer der Nacht.«

Wie Dichten und Verstummen, Worte-Machen und ein anwachsender Widerwille gegen alle schon gebrauchten oder denkbaren Worte sich durchdringen, bis die Zerreißprobe sich nicht mehr fortsetzen lässt und daraus ein definitiver Riss resultiert, lässt sich an der lyrischen Produktion von Werner Söllner gut verfolgen. Bei Söllner lag es nicht, wie bei manchen in Deutschland einheimischen Autoren, am Ausbleichen der möglichen Gegenstände vor lauter Reflexion und Sprachkritik. Er ist einer der aus Ceausescus Securitate-Staat hinausgeekelten rumäniendeutschen Autoren. Er hatte ein Thema, das sich allerdings im Laufe seiner Entfaltung mit fast allen Themen berührte, die zu dieser Zeit in der Bundesrepublik (oft auch darüber hinaus) vordringlich waren. Seine Situation des Migranten, seine Unangepasstheit, sein Blick von Draußen verlangte nach Ausdruck. Bei der Arbeit am präzisen Ausdruck aber, mit dem diese Situation nicht nur gefasst, sondern auch überzeugend ›beantwortet‹ werden sollte, scheint etwas ausgehakt zu sein, was das Weiterschreiben verwehrte. Worin könnte das bestanden haben?

Unangepasstheit verraten schon die frühen Gedichte, in denen Söllner aus der Sicht des Angehörigen der unbeliebten deutschen Minderheit in Rumänien zumeist gewöhnliche Erfahrungen darstellt und gedanklich wie sprachlich zunehmend verfremdet. Zwei Bände ließ er in Klausenburg, zwei in Bukarest erscheinen. Nur der erste (Wetterberichte, 1975) enthielt noch stramm aktivistische Gedichte. Der zweite bekundete schon eine Verweigerung: Mitteilungen eines Privatmannes (1978), die folgenden hießen Unter der billig gemieteten Sonne und Eine Entwöhnung (beide 1980). Die Distanz von dem, was in ihm vorgeht und was er geschehen lassen, deshalb aber auch mit wachsender Eindringlichkeit reflektieren und auf seinen Ausdruck bringen muss, ist die vorherrschende intellektuelle Bewegung dieser teils kurzen, teils längeren bis sehr langen Gedichte. Am Titelgedicht Eine Entwöhnung, unter dem Motto von Hölderlin: »Uns ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhn«, in 37 vierzeiligen Textblöcken mit unregelmäßig gebauten Langzeilen, lässt sich ablesen, wie sich die Haltung der Vorsicht natürlich auch auf die eigene Situation, die Sprache, das gedichtete Werk erstreckt. »Mein Ich lebte wie deins oder seins, im Verzug«. Aus der Schulzeit wird als der bleibende Gewinn verbucht: Der Verlust des Sprechens zugunsten des Lesens und Schreibens«. Von den eigenen Gedichten stellt das sprechende und schreibende Ich fest: »in denen gewann, wer zu schweigen verstand«. (Diese Festlegung, oder die Deutlichkeit dieser Deklaration, ging dem Autor z. Z. seines repräsentativsten Bandes Kopfland. Passagen offenbar zu weit; er ließ sie weg.) Karl Kraus' Einsicht in die geradezu obszöne Dreistigkeit des Gesamtprozesses ›Leben‹ (moralisch und politisch wie sprachlich) setzt das Gedicht in einen stark verfremdenden Bezug zur zentralen Metapher des Bandes: Das kindliche Ich will sich allein entwöhnen, »denn das Leben geht weiter, als es vertretbar ist«. Mit einer drastisch negierenden Sprachgeste – geht es hier vielleicht seinerseits weiter, als es vertreten kann? – konstatiert das dichtende Ich: »alles ist irgendwie ähnlich, vom Nichts aus betrachtet. Aber / das Nichts ist ohrenbetäubend«. (In der Neufassung 1988 wurde auch dieser Passus gestrichen.)

Der Band mit den stärksten und poetischsten Gedichten des verunsicherten Poeten Söllner, Kopfland. Passagen, erschien 1988. Er gestaltet ein Ich, das angekommen ist, wohin es, nicht nur freiwillig, tendiert hat, und das nun dieses Land, sein eigenes Leben, das Leben der Menschen überhaupt in der gegebenen Stufe ihrer Zivilisation ermisst. Das Land ist ein »Klamottenland, Zwangland, Kopfland«, wenig einladend und doch der nun einmal gegebene Aufenthaltsort (Notausgang, KP 99-104). Es lässt sich am ehesten mit rebellierenden Begriffen, mit Überschreitungen bis zu stehenden Widersprüchen oder zum Irrealis erfassen und, so könnte man aus der Stillstellung der ›schönen Wut‹ schließen, ertragen: »Unterüberland«, »Wo Erde nicht ist, ist sie ganz« (ebd.). Das gewaltige, flammende verbale Aufbegehren, mit dem Rimbaud seinerzeit der gesamten Welt um ihn ihre Nichtswürdigkeit in die Zähne geschleudert hat (und das noch bei den Expressionisten, bei Michaux, Dylan Thomas, Pablo Neruda u. a. immer wieder hervorbrach), es wirkt herabgebrannt zu der indignierten Feststellung dessen, was der Fall ist. »die adäquate Misere in der Beschreibung der Einsicht, / daß das Leben offenbar so ist« (KP 101). Die ›Passagen‹, die der Band zusätzlich zum ›Kopfland‹ hervorhebt, haben hierher geführt, und hier geschieht das altbekannte Immergleiche – vergiss es. »Ödipus erscheint mir / zu Tode geheilt« (Passagen, KP 109-115). »Alles ist nur / eine Folge von Ursachen und hat seine Grundordnung« (KP 68). Das Reizwort der 80er Jahre wird nicht als Streitgegenstand (und ohne den Zusatz ›freiheitlich-demokratisch‹) aufgenommen, es wird zur Besiegelung des tautologisch-stagnierenden Zustands eingesetzt.

Im Subjekt, das so reagiert, regt sich in Erinnerung und Unruhe noch etwas anderes. Dieses Subjekt wird mit einer Hölderlin-Vergröberung und der Wiederaufnahme eines anderen Reizwortes (aus der Mescalero-Debatte von 1977) bis zu einem Pattzustand geführt, in dem selbst die Sprache changiert und nichts ›bleibt‹ als das, vor allem mit Worten, sich selbst zusetzende Ich.

     »so zerstöre ich
mich und gehe Bleibendes stiften, mit hilflosen Fingern, ja   
ah aha, klamm,
                       heimlich pochend, von innen an der Wand meiner Haut,
die Welt im Kopf, halb traurig,
                                                halt froh und lebend,
verstehst du, sage ich, von dem wenigen, das ich nicht weiß,
daß ich nicht weiß, und auch das ist zu viel, daß ich
zerplatze.« (ebd.)

»Man kann das ganze Zeug / nur einmal schreiben«, lässt der Autor seine lyrische Stimme denken (ebd.) – eine ruppige, eher beiläufige Wendung, für die hier gewählte Fragestellung aber hoch signifikant. Das ganze Gedicht, Fragment für Arnika (KP 67-73), ist durchzogen von einer ebenso hartnäckigen wie erfolglosen Auseinandersetzung mit der Sprache, die schließlich in die schiere Paradoxie führt. Mit derartigen zugleich erledigenden und bestehen lassenden Formeln wird sowohl die soziale Verfassung des Westens als auch die eigene Handlungs- oder Selbstvorstellungsschwäche bedacht: »wer's hat // hat's« (KP 25); »traurig geworden daß alles so wird / wie man es macht« (KP 94); »Ich werde, was ich war. Ich bin, was ist« (KP 63). Celan (Söllner hat über Celan promoviert) ist schon (1970, wie das Gedicht zweimal vermerkt) »zu den Fischen gegangen« und hat vorher »zu den Stummen / gesprochen, sprachlos, vom Sprach-Los«, also sprechen jetzt die Fische zu diesem sprechenden (d. h. nur noch mit Mühe sprechenden) Ich, »lautstumm«. Das Ich »winkt« nur noch »mit langsam müder werdenden Wörtern aus Staub, / aus denen das Fleisch entsteht«. »Und was sind schon Wörter? / Lemminge«. Schließlich hat es den Eindruck, »weniger« zu werden, während es spricht. »An den Grenzen / des Nichts, dieser Sprache« zerbricht es sich »den Kopf, das Herz«. Das Gedicht endet mit der Strophe

»Ach, ich spinne. Ich muß spinnen. Der Faden, an dem,
du verstehst, dieser Text hängt, der dünne Faden, er
reißt, und ich hänge daran, ich muß spinnen.«

Die in diesem Band versammelten Gedichte sind voll von Sätzen und Formeln, in denen das Leben, eine Bewegung, eine Erwartung bis auf ›Null‹ reduziert wird. »Ich esse gefrornen Zement« heißt es en passant in einem der älteren Gedichte, Winter der Gefühle (KP 35-38), und als Clou eines neuen unter dem zweideutigen Titel Gerettet: »In unseren Adern fließt Asche« (KP 88). Auch wenn liebe Menschen zu Besuch kommen und die Freude darüber die Feder führt, sich Platz schaffen will, eine »Oase hinter den Dünen der Syntax« sucht (Besuch), ist gerade dem Medium der Verbindung nicht zu trauen. »ein / Wort gibt das andere Schweigen«; »diese Sprache ist ein Fluß, in / den wir geworfen werden ein Landwehrkanal. Die Passagen führen letzten Endes »nichtswärts« (KP 75) oder »Nirgendwärts« (KP 23). Ein Gedicht unter diesem Titel widmet Söllner der »Erinnerung an R. D. Brinkmann«. Seine Hochachtung vor der Kunst der Herabspannung bis auf das, was sich den Sinnen, dem Auge vor allem, tatsächlich zeigt, ist unverkennbar, nur dass Söllner es offenbar bei den geringfügigen oder trivialen Sinnesdaten auch nicht aushält. Nirgendwärts wirkt wie ein destruktives Echo auf Brinkmanns Westwärts 1 & 2. Söllner arbeitet auch mit Ausdrücken der aggressiven (vor allem selbstbeschädigenden) Reduktion, doch die trotzig herausgestellte Schäbigkeit, die z. B. Michael Sallmann, ein anderer ›aufhörender Dichter‹ (um Tucholskys Selbstbezeichnung abzuwandeln) in die Lyrik eingeführt hat, macht er seinerseits nicht mit. Eine vorletzte Station der Passagen wird als Restbestand »der Würde des Menschen« notiert – »bis die Langeweile / uns einholt und der Countdown beginnt«, und darauf antwortet bald: »Das Abendland möge sie fressen« [›sie‹ ist vermutlich ›diese Freiheit‹]. »Jedes Wort ist ein Wort zu viel«. Unter diesem Motto von E. M. Cioran wird das Patt zwischen Sprechen und Schweigen so obsessiv ausgeführt, dass die trübsinnige Behauptung als glänzend bestätigt gelten kann. Das Eingangsgedicht des ganzen Bandes endet mit dem Vers »Denn hörte ich, was ich spräche, ich wäre stumm«.

So bleibt der Befund dieses Bandes zwielichtig: eine fortlaufende Selbstermahnung zum Aufhören, mit dem Hintertürchen der Wiedervorlage. Der folgende Band wurde der letzte, bis heute jedenfalls: Der Schlaf des Trommlers, 1992. Die Auseinandersetzung mit dem, was Celan hinterlassen hat, wird fortgeführt, jetzt noch vermehrt um eine Wiederaufnahme Bachmanns. Was aber bewahrt wird, erweist sich als »Satzzeichenstaub / in der alten Schachtel Sprache« (Im großen Gerede, S. 28). Der Rat am Ende von Hotel Eden (ST 39) funkelt von einstigen Hoffnungen im Modus der Unzugänglichkeit: »und wählst zuerst die Null / um mit Utopia zu sprechen«. Die Sprachkritik wird gegenüber der früheren (von Entwöhnung bis zu Kopfland. Passsagen) nicht weiter verschärft, aber sie tritt in einen Status der Müdigkeit oder Desolatheit ein. »Die Gedanken / immer weiter weg / vom Gedachten« (ST 67). Der »Wortstaub« hat sich offenbar verkrümelt »in den Ritzen der Welt« (ST 7). Der Schrecken, den die Aufklärung kannte, wenn die abgedichtete eigene, angeblich moralische Welt mit der ruchlosen Realität draußen zusammenstieß, wird zum Dauererlebnis, das der Wortjongleur nur noch im Gelächter ernstnehmen kann: »Und immer, immer / drehe und wende ich die Wörter auf dem Papier, als wären sie naß / und trockneten an dem Gelächter, das / mich greift und schüttelt, wenn ich sehe / was ich sehe« (Im Mai, ST 35, vgl. 81). Das Bild des ›Trommlers‹ oder auch ›Hüters‹, das in drei Gedichten explizit, in anderen unterschwellig präsent ist, hat gerade die aufrüttelnde Wirkung, die Heines Tambour so elektrisierend gemacht hat, eingebüßt. Söllners Trommler, dem selber träumenden Hüter mit seinen »Trommeln aus Stein«, gelingt es noch, »das verstreute Gebein« zu rufen, aber die gerade Erwachten kauen schon wieder Mohn und werden sich aus ihrer Verstrickung nicht lösen können; sie »ziehen eiserne Nägel / sich aus dem Tod« (ST 25). Mit Bildern oder Vorstellungen von einst (sowie Symbolen oder Begriffen im Klartext) werden Absagen an das Gewesene, einstmals Geltende, oder Rückzüge auf minimale Reste durchgeführt, ein paar davon auch kunstvoll oder nachlässig gereimt (wie schon in Kopfland. Passagen). Eine herabgestimmte Huldigung an die Schweiz, »dieses besondere Land«, das der »kleinen gefangenen Seele« auch keine Flügel verleiht, mündet in eine Konfrontation mit einem Pfau im Käfig: »Drinnen leuchtet / die Freiheit, draußen knacken / die Stäbe im Brustkorb« (ST 48/51). »Kann sein« ist die Formel, auf die der nicht einmal mehr enttäuschte, nur noch konstatierende, innerlich wegtretende Dichter die Erscheinungen bringt: die Spannungen im Großen wie im Kleinen, die Zeichen der Zeit und den Zustand des »Ich« (ST 40-43). Zum Dichten bleibt da nicht viel übrig:

»Ansonsten – na was denn?

Ein Dichterleben, also meist ein Lamento:
ein bißchen Politik   
jede Menge Hochmut   
ein paar verkrachte Frauengeschichten   
Alkohol, später Hunde   
und hie und da   
der Mount Everest einer Formulierung.«

Die Gründe des Verstummens bleiben disparat.  Die Zustände der hier vorgefundenen Gesellschaft verdienen jede Menge kritische Kommentare, in Versen wie in Prosa, aber sie sind anscheinend resistent gegen noch so eindringliche, empörte, spitze, entlarvende oder blamierende Bezeichnungen. Das erlebende und gestaltende Subjekt fühlt sich gerade in seiner Subjektivität: in der Kraft, sich selbst gegen die unwürdigen/stagnierenden Zustände auszuspielen, an ein Ende gelangt. Die Sprache und ihre Weiterentwicklung, ihr Potenzial zu mitreißenden und schlagenden Wendungen ist unerschöpflich. Hat man das aber eine Weile ausprobiert, ein Feuerkopf wie Rimbaud nur zwei Jahre, ein besonnener Dichter wie Söllner fast 20 Jahre, was verspricht dann noch ein ab und an erreichbarer »Mount Everest einer Formulierung«?

Das Ensemble der Gründe spricht für sich; es wird in den beiden Gedichtbänden deutlich bezeichnet. Die Art aber, wie dieser Poet abbricht und aufhört, sollte uns zu denken geben. Es mag schade sein, es bedeutet aber kein Unglück, gibt er zu verstehen, wenn das, was er geschrieben hat, so und von ihm nicht fortgesetzt wird. Andere mögen kommen; er kann sich anders betätigen und sich anders äußern, ggf. auch wieder zu einem Publikum sprechen; Liebhabern seiner Gedichte steht es weiterhin frei, zu den vorliegenden zu greifen, die viel enthalten. Er hat das gesagt, woran ihm lag. Eine Verpflichtung nach dem Schema einmal Poet – immer Poet ist er nicht eingegangen; dieses Denkschema überhaupt wäre kritisch zu überprüfen. Die Freiheit, die starke Gedichte ihren Lesern schenken, d. h. zu der sie einladen, ist eine außerordentlich vielfältige, vieldimensionale. Vielleicht sollen wir auch das Geschenk darunter verbuchen, dass sie uns wieder loslassen.

»Im Herbst steht die Sonne tief.
Es genügt einigermaßen aufrecht zu gehen
und schon muß man blinzeln
und die Augen tränen. [...]

Kann sein.

Kann sein.«