Katharina Blühm
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Von den Evidenzen der Kunst


Vom Enden der Kunst heute spreche ich unvermeidlich im Anschluss an Dieter Henrich. In seinem Zugriff schlägt das Fragen nach dem Enden von Kunst und Subjektivität in hochreflexiver Weise selbstwiderlegend aus. Henrich bindet die Kunst an das Subjekt. Damit entsteht sie in einer Dynamik zwischen beschränkter, endlicher Suche und der Möglichkeit des Erfahrbarmachens eines kleinen oder, logisch und erfahrungsmäßig, auch unverhältnismäßig großen Abschnitts des unendlichen Unausgeschöpften. Subjektivität bestätigt Henrich als Modus des (endlichen) Lebensvollzugs, der ›in einem Wissen von sich selbst steht‹ und dessen ›Aktionen unter der Voraussetzung eines solchen Wissens von sich‹ (Henrich 2003, S.14) organisiert sind. Der Grund des Selbstbewusstseins bleibt jedoch dunkel und das Subjekt somit der Selbstdeutung bedürftig. Als ein Modus der Selbstverständigung mit bestimmten Eigenschaften wird die Kunst verankert.

›So ist die Fähigkeit, die sogenannte objektive Welt von den eigenen Meinungszuständen zu unterscheiden, ganz davon abhängig, dass wir Gedanken haben, in denen wir von uns als von uns selbst etwas wissen. Darin liegt, dass die Subjektstellung von Subjekten und ein Gedanke von der Natur notwendigerweise zusammen eintreten, dass es aber irreführend wäre, beide aus einer schon vorausgesetzten Korrelation zwischen Subjekt und Objekt verständlich machen zu wollen. Damit ist auch schon angezeigt, dass sich vom Subjektsinn her noch mehr begreifen lässt als nur das, was im Gedanken von einem, der von sich selbst weiß, für sich allein schon mitgedacht ist.‹ (ebd. S.15) Dies verweist auf die transzendentale Vorgeschichte des Ich in der Natur, die keinen Grund dafür erkennen lässt, dass ›ein Leben im Wissen von sich aufkommt‹ (ebd. S.17) und somit keinen Anhaltspunkt für einen Sinn dieses Lebens als den selbst zu suchenden, in der Möglichkeit der Selbstbezugnahme angelegten, hergibt.

Aus aktuellem Anlass ein Einschub zum Verhältnis Natur und Subjektivität bei Henrich: Henrich lehnt eine Erforschung der natürlichen Grundlagen von Subjektivität keineswegs per se ab, wie eine sehr populäre Schrift in konstruktivem Kontext behauptet. ›Tatsachen [...] auf die sich die naturalistische Erklärung der Subjektivität stützt‹ (Henrich 2007, S. 175) müssten selbstverständlich von jeder darüber hinausgehenden Untersuchung respektiert werden, so Henrich an vielen Stellen. Henrich sieht nicht nur die bisherigen Befunde der empirischen Forschung als unproblematisch für den Subjektbegriff an, (vgl Henrich, 2006, S.207), am Ende seines großen Artikels Selbstbewusstsein in Hermeneutik und Dialektik wünscht er geradezu eine naturwissenschaftliche Erklärung für die in der philosophischen Erklärung von einer Aporie bedrohte ›Koexistenz von Bewusstsein als Dimension und Kenntnis von Bewusstsein‹ (ebd. S. 278) des passiven, präreflexiven Bewusstseinsgeschehens herbei. ›Eine Erklärung im Rahmen der Theorien und Begriffe der Neurologie könnte vielleicht den unauflösbaren Zusammenhang zwischen zwei Prozessen aufzeigen, die Bewusstsein und Bewusstseinskenntnis entsprechen‹ (ebd. S. 279).

Die Auflösung einer philosophischen Aporie in der Erklärung von Bewusstsein durch die Aufdeckung eines klärenden Zusammenhanges auf der Ebene der natürlichen Realisierung - von niemandem könnte diese Gedankenfigur mehr wert sein als von einem Henrich, auf höchstem Niveau philosophisch über Bewusstsein und Subjektivität arbeitend. Von ihm kann der Gedanke als nun wirklich jedes Szientismus' und Reduktionismus' unverdächtig angenommen werden. Was eine naturalistische Erklärung jedoch nicht zu erfassen vermöge, sei das ›Für-sich-sein‹ des Subjekts und – darauf insbesondere richtet sich Henrichs ›extrapolierendes Denken‹ (Henrich 2007, S.251 u.a.) – die Suche nach der Quelle eines Grundes oder Sinnes dieses So-seins. Henrich macht selbst deutlich, ›dass auch der szientifische Naturalismus nicht unsensibel für die Impulse sein muss, die in das extrapolierende Denken hineinziehen. (ebd. S. 278f) Die Erforschung der natürlichen Grundlagen der Subjektivität führt per se keineswegs auf einen Reduktionismus. Gegen eine rein naturalistische Selbstdeutung sei immunisiert, wer ›sich einer solche Sinnquelle im eigenen Lebensvollzug sicher geworden sei.‹ (ebd., S. 279) Erste Evidenzen eines Aufschlusses seien ereignishaft sich einstellende Erfahrungen (ebd., S. 72). Hiermit bin zurück bei den Evidenzen der Kunst. Der Einschub erwies sich als eng am Thema: Henrich gelingt es, den schwer zu erfassenden Kunstbefund der jüngeren Vergangenheit vor Augen, in der Beschreibung des Verhältnisses von Kunst und Subjekt mit vielfältigen Wendungen der Selbstdistanzierung in der Selbstverständigung begriffen, einen Schlüssel zum Verständnis der in den Phänomenen disparaten Erscheinungsformen der Kunst zu liefern, wie wir sie vor uns haben. Kunst erweist sich als eine Form des Selbst- und Welt-Erkennens, die auch alternative Deutungen realisiert.

Aber nicht selten scheint das Erkennen relativ wenig Konsequenzen nach sich zu ziehen. Der Kunstprozess scheint aufzugehen in einem Moment der Intensität, der Konzentration, in Henrichscher Terminologie des ›Bei-sich-selber-seins‹. Die Nachricht über die Möglichkeit dieser Existenzweise habe ich erhalten. Manchmal kann ich sie evozieren. Sie bildet mich. Es ist klar, dass Gehalte der Kunst vielfach nicht-begrifflich organisiert sind und nicht-begrifflich kommuniziert oder induziert werden. Die Verhaftung im Augenblick jedoch kann irritieren: aus dem Erleben folgt allenfalls, mehr von dieser Erfahrensart zu suchen.

Ist es ›in Ordnung‹, wenn Kunst nicht selten mit sich selbst zuende ist, und ohne weitere Folgerungen bleibt, die als Deutung genommen werden könnten? Zwar gibt es sehr wohl Kunstarbeit, die mit ästhetischer Kraft auf konkrete Inhalte, auch Wie-Inhalte, lenkt, diese in die Erfahrung holt oder überhaupt erst herstellt. Aber nicht selten ist es die Intensität des Kunstprozesses an sich, nicht ein (manchmal kaum fixierbarer) Gehalt des Kunsterlebens, der uns Kunst begehrenswert macht und gerade darum an Sinn und Berechtigung von Kunst zweifeln lässt. Selbst wenn man Unvermögen und Leerlauf abzieht, kann man über diese Bilanz verzagen, sie droht wie ein schlechtes Gewissen. Ist nicht der Kunst die Funktion von Selbstdeutung, zugesprochen?

Hier nun sei einmal versuchsweise die Sichtweise angewendet, Kognition mehr als bisher im Lebensvollzug und nicht nur in der Theorie des Lebensvollzugs zu verorten. Dies betrifft handlungsnahe, operative Schichten ebenso wie Konstellationen hoher, nicht mehr auflösbarer Komplexität. Welcher Status kann dieser Aussage zugeordnet werden? Ist sie ein Postulat, aus der Introspektion gezogen? Eine Induktion in den Vorgang hinein? Sie hat auch einen theoretischen Apparat und empirische Evidenzen für sich. Zu rezipieren wäre hier der große und offene Forschungszusammenhang um den Enactive Approach einschließlich Situated und Social Cognition in ihren verschiedenen Spielarten innerhalb der Kognitionsforschung. Die Bezeichnung Enaction hat die Bedeutung von Erarbeiten, Hervorbringen, Herstellen und des Bestimmens von ›ein Gesetz erlassen‹ in sich, ist praktisch und reflexiv. Genannte Ansätze folgen nicht nur prinzipiellen Überlegungen, sie sind eng mit der empirischen Forschung verbunden. Die natürlichen Grundlagen dieser Modi von Kognition geraten gegenwärtig in den Bereich des Erforschbaren. Mögliche Realisierungsmechanismen von Kognition aufzufinden bedeutet durchaus nicht, dass deren Inhalte dadurch zu inhaltsfremd bestimmten Verrechnungsprodukten degradiert werden. Auch im Konnektionismus als auf molekularer Beschreibungsebene handelndem Erklärungsmodell ist dies nicht der Fall. Gerade in den oben genannten Forschungsansätzen wird deutlich: die Konstitution von Bedeutung geschieht in der Lebenwelt, relational zum Erkenntnissubjekt, im (über den technisch beschreibbaren Vorgang hinausgehenden) Bedeutungsüberschuss, der dann erkannt und symbolisiert (und dabei in gewissem Umfang gewählt und gestaltet) werden kann. Sie ist naturalistisch nicht vollständig beschreibbar. Bedeutung bezieht sich auf die (Herstellung und) Erhaltung der Identität - nicht Existenz des Lebewesens. Damit reicht dieser Theorieansatz über das evolutionär Begründbare hinaus in das dem reflexionsfähigen und mit der Möglichkeit produktiver Freiheit ausgestatteten Subjekt Eigentümliche hinein. Identität hat für reflexionsfähige Lebewesen eine relevant andere Bedeutung als für einfache, nichtreflexive Lebewesen, für welche Identität nur Selbstreproduktion bedeutet. Zur Bedeutung der Herausbildung und Aufrechterhaltung von Identität einschlägig: Henrich 2007,  S. 60, 65, 67, 93ff, 176 und andere Stellen.

Wenn die Möglichkeit zu reflexiver Selbstbezugnahme als Merkmal der Lebensgestaltung bewusstseinsfähiger Subjekte betont wird, so bedeutet dies nicht, dass Reflexivität die Grundstruktur von Bewusstsein sei. Vielmehr ist ein als nicht dem Ich als Leistung zurechenbares objektives Geschehen oder als Vermögen gegebenes Bewusstsein Voraussetzung dafür, dass sich im Lebensprozess (in der Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft und der Herstellung eines egozentrischen Wahrnehmungsraums) ein bewusstes Selbst als organisierendes Prinzip herausbilden und sich dabei in kognitiven Akten das Bewusstsein aneignen kann. Erst dann kann von einer dem Ich zuzuschreibenden Leistung der Reflexion gesprochen werden. (So Henrich 1970 besonders S. 276-279.)

Selbstdeutung bedeutet immer schon Selbstgestaltung. Relativ neu ist vielleicht, dass deutlicher als zuvor, und nun auch ›hirntechnisch‹, gesehen wird , dass die Ressourcen und Prozesse von Kognition und Lebensvollzug in erheblichem Umfang zusammenfallen. (Zur Relativierung siehe z.B. Clark 1999.) Zu wenig dargestellt wird zur Zeit, dass und über welche hirninternen und externalen Strukturen Metakognition diese Vorgänge qualifiziert. Kognition steht in einer tiefen Kontinuität von Mind and Life. Diese Formel verweist auf Thompson.

Als lebensweltlich erfahrbare Kriterien der Zuweisung von Sinn vor dem Hintergrund der Dunkelheit des Grundes menschlicher Existenz beschreibt Henrich Evidenzen wie sittliches Bewusstsein, Erfahrungen in der Tiefe gelingenden Miteinanderseins oder Freiheit.
Dies sei auf den Modus der Kunst übertragen. In den oben beschriebenen flüchtigen Zuständen sind – im Modus der Kunsterfahrung – sodann Evidenzen der Art zu erkennen , wie sie Henrich als sinnbegründend aufgeboten hat. Sie sind u. U. in eben dem Vergehenden, Flüchtigen, mit Begehren besetzten und der Sinnlosigkeit verdächtigten Augenblick.
 
Literatur

HENRICH, DIETER, Fixpunkte, Frankfurt/Main 2003
HENRICH, DIETER, Denken und Selbstsein – Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt/Main 2007
HENRICH, DIETER,  Die Philosophie im Prozess der Kultur, Frankfurt/Main 2006
HENRICH, DIETER, Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie (1969), in: Bubner/ Cramer/ Wiehl (Hg.),  in: Hermeneutik und Dialektik I, Tübingen 1970
CLARK, ANDY, From Fish to Fantasy: Reflections on an Embodied Cognitive Science. A shortened and amended version appears as »An Embodied Cognitive Science?« Trends In Cognitive Sciences 3:9:1999, p. 345-351, als PDF siehe: http://www.philosophy.ed.ac.uk/staff/clark/publications.html
THOMPSON, E.,  Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, Harvard University Press 2007