Hier dränget sich der Unzufriednen
Stimme,
Der Unverschämten offne Hand nicht nach.
Freiwillig
einsam merkest Du nicht auf,
Ob Undankbare schleichend sich
entfernen.
Die ungestüme Welt reicht nicht hierher,
Die
immer fordert, nimmer leisten will.
Goethe, Die
natürliche Tochter
Am
Anfang steht das Ende aller Kunst, nein, die Kunst ist am Ende von
Anfang an, nein, der Anfang selbst beinhaltet das Ende auf eine Weise,
die nicht nur ein Skandalon birgt, sondern geradezu nachdenklich werden
lässt, wem immer sie über den Weg läuft.
Wegläuft? Sie ist weggelaufen. Wieder einmal. Nicht die
natürliche, nein, die nicht, die... nein, eine
unnatürliche gibt es nicht, eine unfreiwillige. Ja, viel eher
handelte es sich um eine unfreiwillige, eine Tochter –
möchten Sie eine Tocher haben? – aber davon
später, nein, lassen wir das, eine unfreiwillige Begegnung mit
einer möglichen Tochter, die sich auf eine Weise als
unmöglich herausstellte und in einem geradezu atemberaubenden
Tempo, also...
Beginnen wir mit dem Anfang, denn nur
so kommen wir dem Ende auf die richtige Weise näher. Da gibt
es eine Schwierigkeit, die Schwierigkeit, die (fast) jeder Anfang
bietet, er liegt im Dunkeln, aber dafür haben wir die
Genealogie. Die Genealogie ist (fast) immer gleich, über lange
Zeiträume jedenfalls, das liegt in der Natur der Sache. Eines
Tages also war sie da, und niemand wusste, wo sie herkam, noch wie sie
hereingekommen war. Ein Umstand, der wie immer in solcherlei
Angelegenheiten, erst auffiel, als die Sache praktisch vorüber
war. Darüber müsste man einmal nachdenken,
schließlich handelt es sich nicht um einen Einzelfall,
sondern um die Vorstufe eines Rituals. Sollten sie nicht folgen
können, so laufen sie nicht auch noch weg, sondern verharren
ein wenig und lauschen aufmerksam oder schauen, je nachdem, was ihnen
näher liegt. Immerhin könnte einiger Aufschluss
erlangt werden auf diese Weise. Wovon? Ja, wovon eigentlich? Ich
weiß es selber noch nicht, nur dass es so ist, weiß
ich in so sicherer Art – manchmal wird mir Angst und Bange. Angst,
vor allem Angst, das zweite weniger, da gibt es Methoden, sie
verstehen? Aber zurück zur Geschichte, wen es denn eine ist.
Das ist ein Zweifel, der mich ein Leben lang begleitet hat und in
seiner Beständigkeit und Ausfaltung selbst eine Geschichte
ergäbe, wenn denn wirklich keine andere zustande
käme.
Nicht alle Töchter sind
unfreiwillig, aber natürlich sind wohl die wenigsten und man
fragt sich doch, was dieser Goethe sich dabei gedacht haben mag, als er
sie für die Bühne präparierte. Taugt eine
solche Tochter überhaupt für die Kunst oder
repräsentiert sie nicht eher das Leben und zwar so, dass man
es bereits eine Kunst nennen könnte, bliebe einem das Wort
nicht im Halse stecken. Natürliche Töchter wird man
nie mehr los, selbst wenn sie nicht mehr da sind. Unfreiwillig nehmen
sie andere Formen an oder wissen sich zu tarnen, das einem
Hören und Sehen vergehen können. Dabei spielt die
Unfreiwilligkeit eine wichige Rolle. Sie ist die einzige Exkulpation
für alles, was geschehen ist. Zudem garantiert sie
natürlich die Anwesenheit anderer Mächte und Motive.
Ein für die Kunst wesentlicher Aspekt, der sich im Leben eher
trivial ausmacht. Nicht weil das Leben weniger trivial wäre
als die gegenwärtige Kunst, sondern weil sich dort
selbstverständlich gibt, was hier nur reflexiv erfahren werden
kann und so bereits als elitär zu gelten hat.
Womit
wir bei dem Punkt wären, der sicherlich ein entscheidender
war, denn es handelt sich nicht nur darum, dass die Tochter uns
unfreiwillig hereinschneite (wie der Inuit-Junge bei Fräulein
Smilla), sie war auch die Tochter eines anderen, weniger
elitären Hauses und gab das Gastspiel der ganz anderen, die
gleichwohl sich durch nichts unterschied, außer...
Aber nun will ich endlich mit der Geschichte beginnen, da sie
sonst nie zu einem Ende kommt und das wäre in der Tat
nicht nur eine unfreiwillige und unangemessene Verlängerung
eines unguten Zustandes – Schwebezustände sind
für unfreiwillige Töchter eine beinahe
tödlich zu nennende Gefahr – sondern auch die
Widerlegung der Unfreiwilligkeit schlechthin. Was zu keinem Ende kommt,
kann nicht unfreiwillig sein und diese Überlegung, die
eigentlich eher eine Bemerkung ist, darf keineswegs
philosophisch oder auf eine andere Weise anspruchsvoll verstanden
werden, sondern aus ihrer unmittelbaren für jeden,
der ihr begegnet situativ zu erfassenden Logik heraus. Einer emotional
und aus dem Bauch gesteuerten Logik, die mit der des Verstandes und der
Disziplin, der sie angehört lediglich das Wort gemeinsam hat,
sonst nichts. Zu diesem Ende zu kommen ist wahrlich eine Kunst
zu nennen, da die Anzahl der möglichen Verirrungen und
Abweichungen so groß ist wie das Leben selbst.
Im
Falle der Tochter aber, der unfreiwilligen wohlgemerkt, denn die
natürliche ist inzwischen eine erwachsene Frau und selber in
die Jahre gekommen, so dass die Rede von ihr eine irreführende
wäre, im Falle der unfreiwilligen Tochter also ist diese
Gefahr auf eine Weise ins Unendliche gesteigert, dass mir der Satz
eines Freundes einfällt – unfreiwillig auch dieser
– es müsse erlaubt sein, Töchter bis zum
Alter von 60 Jahren straflos abzutreiben, was ich damals für
eine unverschämt frauenfeindliche Äußerung
hielt, über die mich jedoch das Leben eines Besseren belehrt
hat, handelt es sich doch um eine Praxis, die Frauen (manche und nicht
gerade wenige) bis zur Perfektion nicht nur erdacht haben, sondern
betreiben. Da nützt es wenig, dass sich immer wieder ein Mann
findet, der in die Fluten springt, um die Arme zu retten. Wenn er dabei
nicht selber ertrinkt, kann es geschehen, dass ihm Motive oder
Bestrebungen angehängt werden, von denen er nicht einmal zu
träumen imstande da ständig anderweitig befasst ist.
Dieses
anderweitige Befasstsein erlaubt solche Konstellationen, die gar nicht
in der Lage wären, zustande zu kommen, läge von
Anfang an die volle Aufmerksamkeit auf ihnen. Ein Umstand, den sie mit
der Kunst nicht nur teilen, sondern der sie geradezu ausmacht, so dass
manch eine vor ihr weg läuft, womit ich wieder beim Thema
wäre, denn mit dem Weglaufen in dem Moment, in dem ohnehin
alles zu Ende war, hat es schließlich angefangen. Das aber
beansprucht keineswegs, eine unendliche Geschichte zu sein, da
ihr die Kreisförmigkeit fehlt. Im Gegenteil. Schnurgerade, ja
mit einer wirklich beängstigenden Geradheit zieht sie sich vom
Anfang bis zum Ende und zurück. Das ist der einzige Trost in
der ganzen Angelegenheit, dass sie sich zurückgezogen hat,
wortlos unter großem Getöse, immerhin. Dieses
›Sich-Zurückziehen‹ weglaufen zu nennen,
ist denn auch einer der Aspekte der Geschichte, deren Komik erst im
Nachhinein so richtig deutlich wird. Wie schließlich soll man
ein Weggehen beurteilen, dass nur aus dem Wunsche gespeist wird, dem
Hinauswurf zuvor zu kommen.
Eine Kunst ist es
allemal, geht es doch um die Erspähung des richtigen Momentes
für eben diese Tätigkeit, die allerdings ungeahnte
Folgen zeitigt. Stellen sie sich die Händler im Tempel in der
Geschichte Jesu vor, die nur auf den richtigen Moment warten, um
davonzulaufen, damit er sie nicht vertreiben kann. Nicht nur, dass
– wären sie in Wort oder Bild im Moment des
Weglaufens erfasst – niemand unterscheiden könnte,
ob sie nicht doch hinausgetrieben worden seien. Es käme hinzu,
dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Moment des Auftauchens Jesu
gar nicht mehr im Tempel vorhanden gewesen wären, da die
ständige Aufmerksamkeit auf diese Sache sie längst in
den Ruin getrieben und zu etwas anderem gemacht hätte. Wobei
wir wieder bei dem ganz anderen wären und bei der eigentlichen
Geschichte, die ja nur insofern eine Geschichte ist, als es sich um
eine unfreiwillige Tochter handelt und nicht um Krämer oder
Händler.
Eines haben beide Geschichten
übrigens gemeinsam: Niemand warnt einen, aber
anschließend wissen alle Bescheid oder sind bereits
verständigt. Das hängt natürlich mit der
Unfreiwilligkeit zusammen, denn erst die Preisgabe dieser Information,
die das Geständnis der illegitimen Abkunft beinhaltet,
lässt den Blick frei und treibt die falschen Gedanken aus. Die
Austreibung der Natürlichkeit auf diesem Wege ist ein Relikt
einer älteren Genealogie der Kunst und verdankt sich einer
väterlichen Tat, die meines Wissens bisher so noch
nicht angeschaut wurde. Eine verwunderliche Tatsache, da
die Kunst und ebenso ihre unfreiwillige Tochter, ohne Anschauung
undenkbar sind. Eine reine Gedankenkunst wäre eine viel zu
ernste Sache, als dass die Menschheit sie länger als einen Tag
(vierundzwanzig Stunden) durchzuhalten imstande wäre. Zudem
verschwände sie dann in einem Nirwana, aus dem sie sicher
niemals zurückkehren würde.
Die Geschichte ist also wieder einmal eine uralte, eine des Anfangs vom Ende. Das
einzige, was uns nicht überliefert wurde, sind die Motive, die
Zeus dazu gebracht haben, die Tochter aus seinem Kopfe zu vertreiben.
›Entsprungen‹, was als eine Variante zu
›weggelaufen‹ anzusehen ist, nannte sie sich
dann. Entsprungen in dem Moment, in dem Zeus erkannte, dass sie
dort wirklich nicht hingehörte, ja dass es sich
unerhörterweise um eine gänzlich andere Sache
handelte. Pallas Athene, die dem Kopf des Zeus entsprungene, die
streitbare, die viel zu häufig vorgab, eine andere zu sein,
als dass die Geschichte hätte gut gehen können. In
dem Moment aber, in dem sie erkannte, dass sie keine andere, sondern
nur ein von ihm abgelöster – mit aller
Wahrscheinlichkeit unfreiwilliger durch kurzfristige intellektuelle
Reize entstandener – Gedanke war, der unabhängig
nicht angemessen existieren konnte, der aber auch in seinem
Kopf keine Überlebenschance gehabt hätte, da er
ebenso überflüssig wie unfreiwillig war, in dem
Moment lief sie weg und machte der Kunst als Kunst ein Ende. Seitdem
obsiegt die natürliche Tochter. Will heißen, von da
an nannte Zeus seine Gedanken – zu welcher Kunst auch immer
– nur noch Kinder, da er einsehen gelernt hatte, dass das
kleinste Epitheton sie im Wesen korrumpiert. Schön
wäre es gewesen.