Anne Corvey
______________

Die unfreiwillige Tochter
oder
Das Ende der Kunst eine Kunst zu sein


Hier dränget sich der Unzufriednen Stimme,
Der Unverschämten offne Hand nicht nach.
Freiwillig einsam merkest Du nicht auf,
Ob Undankbare schleichend sich entfernen.
Die ungestüme Welt reicht nicht hierher,
Die immer fordert, nimmer leisten will.
Goethe, Die natürliche Tochter

Am Anfang steht das Ende aller Kunst, nein, die Kunst ist am Ende von Anfang an, nein, der Anfang selbst beinhaltet das Ende auf eine Weise, die nicht nur ein Skandalon birgt, sondern geradezu nachdenklich werden lässt, wem immer sie über den Weg läuft. Wegläuft? Sie ist weggelaufen. Wieder einmal. Nicht die natürliche, nein, die nicht, die... nein, eine unnatürliche gibt es nicht, eine unfreiwillige. Ja, viel eher handelte es sich um eine unfreiwillige, eine Tochter – möchten Sie eine Tocher haben? – aber davon später, nein, lassen wir das, eine unfreiwillige Begegnung mit einer möglichen Tochter, die sich auf eine Weise als unmöglich herausstellte und in einem geradezu atemberaubenden Tempo, also...

Beginnen wir mit dem Anfang, denn nur so kommen wir dem Ende auf die richtige Weise näher. Da gibt es eine Schwierigkeit, die Schwierigkeit, die (fast) jeder Anfang bietet, er liegt im Dunkeln, aber dafür haben wir die Genealogie. Die Genealogie ist (fast) immer gleich, über lange Zeiträume jedenfalls, das liegt in der Natur der Sache. Eines Tages also war sie da, und niemand wusste, wo sie herkam, noch wie sie hereingekommen war. Ein Umstand, der wie immer in solcherlei Angelegenheiten, erst auffiel, als die Sache praktisch vorüber war. Darüber müsste man einmal nachdenken, schließlich handelt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um die Vorstufe eines Rituals. Sollten sie nicht folgen können, so laufen sie nicht auch noch weg, sondern verharren ein wenig und lauschen aufmerksam oder schauen, je nachdem, was ihnen näher liegt. Immerhin könnte einiger Aufschluss erlangt werden auf diese Weise. Wovon? Ja, wovon eigentlich? Ich weiß es selber noch nicht, nur dass es so ist, weiß ich in so sicherer Art – manchmal wird mir Angst und Bange. Angst, vor allem Angst, das zweite weniger, da gibt es Methoden, sie verstehen? Aber zurück zur Geschichte, wen es denn eine ist. Das ist ein Zweifel, der mich ein Leben lang begleitet hat und in seiner Beständigkeit und Ausfaltung selbst eine Geschichte ergäbe, wenn denn wirklich keine andere zustande käme.

Nicht alle Töchter sind unfreiwillig, aber natürlich sind wohl die wenigsten und man fragt sich doch, was dieser Goethe sich dabei gedacht haben mag, als er sie für die Bühne präparierte. Taugt eine solche Tochter überhaupt für die Kunst oder repräsentiert sie nicht eher das Leben und zwar so, dass man es bereits eine Kunst nennen könnte, bliebe einem das Wort nicht im Halse stecken. Natürliche Töchter wird man nie mehr los, selbst wenn sie nicht mehr da sind. Unfreiwillig nehmen sie andere Formen an oder wissen sich zu tarnen, das einem Hören und Sehen vergehen können. Dabei spielt die Unfreiwilligkeit eine wichige Rolle. Sie ist die einzige Exkulpation für alles, was geschehen ist. Zudem garantiert sie natürlich die Anwesenheit anderer Mächte und Motive. Ein für die Kunst wesentlicher Aspekt, der sich im Leben eher trivial ausmacht. Nicht weil das Leben weniger trivial wäre als die gegenwärtige Kunst, sondern weil sich dort selbstverständlich gibt, was hier nur reflexiv erfahren werden kann und so bereits als elitär zu gelten hat.

Womit wir bei dem Punkt wären, der sicherlich ein entscheidender war, denn es handelt sich nicht nur darum, dass die Tochter uns unfreiwillig hereinschneite (wie der Inuit-Junge bei Fräulein Smilla), sie war auch die Tochter eines anderen, weniger elitären Hauses und gab das Gastspiel der ganz anderen, die gleichwohl sich durch nichts unterschied, außer...  Aber nun will ich endlich mit der Geschichte beginnen, da sie sonst nie zu einem Ende kommt und das wäre in der Tat nicht nur eine unfreiwillige und unangemessene Verlängerung eines unguten Zustandes – Schwebezustände sind für unfreiwillige Töchter eine beinahe tödlich zu nennende Gefahr – sondern auch die Widerlegung der Unfreiwilligkeit schlechthin. Was zu keinem Ende kommt, kann nicht unfreiwillig sein und diese Überlegung, die eigentlich eher eine Bemerkung ist, darf keineswegs philosophisch oder auf eine andere Weise anspruchsvoll verstanden werden, sondern aus ihrer unmittelbaren für jeden, der ihr begegnet situativ zu erfassenden Logik heraus. Einer emotional und aus dem Bauch gesteuerten Logik, die mit der des Verstandes und der Disziplin, der sie angehört lediglich das Wort gemeinsam hat, sonst nichts. Zu diesem Ende zu kommen ist wahrlich eine Kunst zu nennen, da die Anzahl der möglichen Verirrungen und Abweichungen so groß ist wie das Leben selbst.

Im Falle der Tochter aber, der unfreiwilligen wohlgemerkt, denn die natürliche ist inzwischen eine erwachsene Frau und selber in die Jahre gekommen, so dass die Rede von ihr eine irreführende wäre, im Falle der unfreiwilligen Tochter also ist diese Gefahr auf eine Weise ins Unendliche gesteigert, dass mir der Satz eines Freundes einfällt – unfreiwillig auch dieser – es müsse erlaubt sein, Töchter bis zum Alter von 60 Jahren straflos abzutreiben, was ich damals für eine unverschämt frauenfeindliche Äußerung hielt, über die mich jedoch das Leben eines Besseren belehrt hat, handelt es sich doch um eine Praxis, die Frauen (manche und nicht gerade wenige) bis zur Perfektion nicht nur erdacht haben, sondern betreiben. Da nützt es wenig, dass sich immer wieder ein Mann findet, der in die Fluten springt, um die Arme zu retten. Wenn er dabei nicht selber ertrinkt, kann es geschehen, dass ihm Motive oder Bestrebungen angehängt werden, von denen er nicht einmal zu träumen imstande da ständig anderweitig befasst ist.

Dieses anderweitige Befasstsein erlaubt solche Konstellationen, die gar nicht in der Lage wären, zustande zu kommen, läge von Anfang an die volle Aufmerksamkeit auf ihnen. Ein Umstand, den sie mit der Kunst nicht nur teilen, sondern der sie geradezu ausmacht, so dass manch eine vor ihr weg läuft, womit ich wieder beim Thema wäre, denn mit dem Weglaufen in dem Moment, in dem ohnehin alles zu Ende war, hat es schließlich angefangen. Das aber beansprucht keineswegs, eine unendliche Geschichte zu sein, da ihr die Kreisförmigkeit fehlt. Im Gegenteil. Schnurgerade, ja mit einer wirklich beängstigenden Geradheit zieht sie sich vom Anfang bis zum Ende und zurück. Das ist der einzige Trost in der ganzen Angelegenheit, dass sie sich zurückgezogen hat, wortlos unter großem Getöse, immerhin. Dieses ›Sich-Zurückziehen‹ weglaufen zu nennen, ist denn auch einer der Aspekte der Geschichte, deren Komik erst im Nachhinein so richtig deutlich wird. Wie schließlich soll man ein Weggehen beurteilen, dass nur aus dem Wunsche gespeist wird, dem Hinauswurf zuvor zu kommen.

Eine Kunst ist es allemal, geht es doch um die Erspähung des richtigen Momentes für eben diese Tätigkeit, die allerdings ungeahnte Folgen zeitigt. Stellen sie sich die Händler im Tempel in der Geschichte Jesu vor, die nur auf den richtigen Moment warten, um davonzulaufen, damit er sie nicht vertreiben kann. Nicht nur, dass – wären sie in Wort oder Bild im Moment des Weglaufens erfasst – niemand unterscheiden könnte, ob sie nicht doch hinausgetrieben worden seien. Es käme hinzu, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Moment des Auftauchens Jesu gar nicht mehr im Tempel vorhanden gewesen wären, da die ständige Aufmerksamkeit auf diese Sache sie längst in den Ruin getrieben und zu etwas anderem gemacht hätte. Wobei wir wieder bei dem ganz anderen wären und bei der eigentlichen Geschichte, die ja nur insofern eine Geschichte ist, als es sich um eine unfreiwillige Tochter handelt und nicht um Krämer oder Händler.

Eines haben beide Geschichten übrigens gemeinsam: Niemand warnt einen, aber anschließend wissen alle Bescheid oder sind bereits verständigt. Das hängt natürlich mit der Unfreiwilligkeit zusammen, denn erst die Preisgabe dieser Information, die das Geständnis der illegitimen Abkunft beinhaltet, lässt den Blick frei und treibt die falschen Gedanken aus. Die Austreibung der Natürlichkeit auf diesem Wege ist ein Relikt einer älteren Genealogie der Kunst und verdankt sich einer väterlichen Tat, die meines Wissens bisher so noch nicht  angeschaut wurde. Eine verwunderliche Tatsache, da die Kunst und ebenso ihre unfreiwillige Tochter, ohne Anschauung undenkbar sind. Eine reine Gedankenkunst wäre eine viel zu ernste Sache, als dass die Menschheit sie länger als einen Tag (vierundzwanzig Stunden) durchzuhalten imstande wäre. Zudem verschwände sie dann in einem Nirwana, aus dem sie sicher niemals zurückkehren würde.

Die Geschichte ist also wieder einmal eine uralte, eine des Anfangs vom Ende. Das einzige, was uns nicht überliefert wurde, sind die Motive, die Zeus dazu gebracht haben, die Tochter aus seinem Kopfe zu vertreiben. ›Entsprungen‹, was als eine Variante zu ›weggelaufen‹ anzusehen ist, nannte sie sich dann. Entsprungen in dem Moment, in dem Zeus erkannte, dass sie dort wirklich nicht hingehörte, ja dass es sich unerhörterweise um eine gänzlich andere Sache handelte. Pallas Athene, die dem Kopf des Zeus entsprungene, die streitbare, die viel zu häufig vorgab, eine andere zu sein, als dass die Geschichte hätte gut gehen können. In dem Moment aber, in dem sie erkannte, dass sie keine andere, sondern nur ein von ihm abgelöster – mit aller Wahrscheinlichkeit unfreiwilliger durch kurzfristige intellektuelle Reize entstandener – Gedanke war, der unabhängig nicht angemessen existieren konnte, der aber auch in seinem Kopf keine Überlebenschance gehabt hätte, da er ebenso überflüssig wie unfreiwillig war, in dem Moment lief sie weg und machte der Kunst als Kunst ein Ende. Seitdem obsiegt die natürliche Tochter. Will heißen, von da an nannte Zeus seine Gedanken – zu welcher Kunst auch immer – nur noch Kinder, da er einsehen gelernt hatte, dass das kleinste Epitheton sie im Wesen korrumpiert. Schön wäre es gewesen.