Jan Ole Eggert
______________
Nachzensur. Die Kollision von Kunstfreiheit
und
Persönlichkeitsrecht am Beispiel
des Romans Esra
von Maxim Biller
Der
Präzedenzfall: Mephisto
Sachverhalt
und Prozessgeschichte
Im Jahre 1971 legte die Nymphenburger
Verlagshandlung Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie sah
das Grundrecht der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG in den
Urteilen der vorinstanzlichen Gerichte unzureichend
berücksichtigt. In den vorangegangenen Urteilen erwirkte der
Adoptivsohn und Alleinerbe des verstorbenen Schauspielers Gustaf
Gründgens, Peter Gorski, ein Verbot der
Vervielfältigung, Vertreibung und Veröffentlichung
des Werkes Mephisto. Roman einer Karriere von Klaus
Mann.
Klaus Mann hatte den Roman nach seiner
Auswanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1936 im
Querido-Verlag, Amsterdam, veröffentlicht. Er schildert die
psychischen, geistigen und sozialen Voraussetzungen des Aufstiegs des
Schauspielers Hendrik Höfgen, der zum Zweck der
künstlerischen Karriere im nationalsozialistischen Deutschland
seine politischen Überzeugungen verleugnet und alle
menschlichen und ethischen Bindungen abstreift. Als Vorbild
für die Romanfigur Höfgen diente Klaus Mann sein
früherer Schwager Gustaf Gründgens. Der
berühmte Schauspieler war von 1925-1928 mit Klaus Manns
Schwester Erika verheiratet. Zahlreiche biographische Aspekte der
Romanfigur Höfgen stimmen mit dem Urbild Gründgens
überein. Dies beginnt bei der äußeren
Erscheinung, führt über die Theaterstücke,
an denen er mitwirkte, und endet bei dem Aufstieg zum
Preußischen Staatsrat und zum Generalintendanten des
Preußischen Staatstheaters. Darüber hinaus
ähneln viele Romanfiguren Persönlichkeiten der
damaligen Zeit. So sind etwa Gottfried Benn in der Figur des Dichters
Benjamin Pelz, Max Reinhardt in der Person des Professors, Erika Mann
in der Figur der Barbara und Thomas Mann in der Figur des Geheimrats
Bruckner wiederzuerkennen.
Peter Gorski warf Klaus
Mann die Wiedererkennbarkeit seines Vaters in der Romanfigur
Höfgen vor. Die Tatsachen aus Gründgens Lebenslauf
würden durch erfundene, herabsetzende Schilderungen ein
insgesamt verfälschtes und ehrverletzendes
Persönlichkeitsbild seines Vaters zeichnen. Er bezeichnete den
Roman als ›Schlüsselroman‹ und sprach
diesem den Charakter eines Kunstwerks ab. Gorskis erste Klage wurde vom
LG Hamburg 1965 abgewiesen. Erst die Berufung vor dem OLG Hamburg, der
letzten Tatsacheninstanz, bestätigte eine Verletzung des
Persönlichkeitsrechts des Klägers und des
fortbestehenden Persönlichkeitsrechts des verstorbenen Gustaf
Gründgens.
In der Begründung
hieß es, dass der Roman Gründgens in seiner Ehre,
seinem Ansehen und seiner sozialen Geltung verletze und sein Andenken
schädige. Der Leser müsse auf Grund der Schilderungen
der Romanfigur Höfgen auf Gründgens
schließen und könne dabei auf fatale Weise nicht
zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden, da es an einer
ausreichenden, für den Leser erkennbaren Verfremdung fehle.
Der Leser erhalte damit einen Eindruck von Gründgens als
gemeinem Charakter, was wiederum eine »Beleidigung,
Verächtlichmachung und Verunglimpfung« des
Schauspielers darstelle. Das Werk wurde vom OLG Hamburg als
»Schmähschrift in Romanform« bezeichnet.
Der
darauffolgend vom Verlag angerufene BGH bestätigte das Urteil.
Das BVerfG in Karlsruhe entschied abschließend, dass die
Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG hinter den Schutz der
Persönlichkeit nach Art. 1 Abs. 1 GG zurücktreten
muss. Als beachtlich schätzte das BVerfG die Tatsache ein,
»dass die Erinnerung des Publikums an Gründgens noch
lebendig sei und die Allgemeinheit ein Interesse daran habe, dass sein
Lebens- und Charakterbild nicht verzerrt und völlig entstellt
der Nachwelt überliefert werde« (BVerfGE 30, 173
[179]). Es wurde befunden, dass Unterlassungsansprüche gegen
grobe Entstellungen des Lebensbildes zum Schutz des Achtungsanspruchs
des Verstorbenen im sozialen Raum auch nach dessen Tode weiter wirken.
Bemerkenswerterweise hieß es aber, dieser Schutz sei begrenzt
durch das Schwinden der Erinnerung an den Schauspieler
Gründgens. Je mehr die Erinnerung verblasse, desto geringer
sei das Interesse am Unterlassen von Verfälschungen seines
Lebensbildes. Man kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Roman Mephisto
um einen »Schlüsselloch-Roman« handele,
der eine Schmähung des Abgebildeten beabsichtigte. Auf Grund
der nach dem Kriege gewonnenen differenzierten Erkenntnisse
über Gustaf Gründgens Wirken während der
nationalsozialistischen Zeit, wurde es als zumutbar angesehen, von
Klaus Mann eine Umgestaltung des Werkinhalts zu fordern. Der
frühe Tod des Autors im Jahre 1949 ließ dies
praktisch nicht mehr zu und hätte darüber hinaus
einen verfassungswidrigen Eingriff in die künstlerische
Gestaltungsfreiheit bedeutet.
In der Konsequenz
wurde das Veröffentlichungsverbot der Gerichte
bestätigt und damit die Verfassungsbeschwerde des Verlegers
zurückgewiesen. Erst 1981 setzte sich der Rowohlt-Verlag, der
die Taschenbuchlizenz erworben hatte, über das Buchverbot
hinweg und veröffentlichte eine neue Auflage des Romans, auf
die noch im selben Jahr eine sehr erfolgreiche Verfilmung des Werkes
folgte. Dieser Schritt des Verlages wurde bis dato durch die Gerichte
geduldet und zog keine Konsequenzen nach sich.
Kunstfreiheit
nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
Die Kunstfreiheit ist ein schon
in der Weimarer Reichsverfassung in Art. 142 normiertes Grundrecht. Wie
die anderen Grundrechte begründet und regelt die Kunstfreiheit
die Ausübung der staatlichen Gewalt verpflichtenden
subjektiven Rechte des Einzelnen. Die deutsche Rechtswissenschaft ist
traditionell eine dogmatische Wissenschaft, entwickelte sich aber mit
der Gründung des BVerfG im Jahre 1949 und der gewachsenen
Bedeutung seiner Entscheidungen immer mehr zu einer
›Case-law-Wissenschaft‹, nach amerikanischer
Tradition. Dies bedeutet, dass die Rechtsprechung des BVerfG erheblich
die Ausgestaltung und Umsetzung der Kunstfreiheit beeinflusst hat.
Besonders mit dem Mephisto-Beschluss wurden
grundlegende Auslegungen der Kunstfreiheit gebildet.
Seit
Bestehen der Verfassung bemühen sich Rechtsprechung und
Rechtswissenschaft um eine Definition von Kunst. Dies ist eine
besonders schwierige Aufgabe, da noch nicht einmal die
Kunstwissenschaften als Fachdisziplin einen Konsens darüber
gefunden haben, was Kunst ist oder sein soll. War das BVerfG 1971 mit
der Bildung des so genannten ›materiellen‹
Kunstbegriffs im Zuge der Mephisto-Entscheidung
noch überzeugt, Kunst definiert zu haben, wurden in den
folgenden Jahren zur Differenzierung zusätzlich der
›formale‹ und der ›offene‹
Kunstbegriff eingeführt. Mittlerweile setzt sich die Einsicht
durch, dass eine Definition von Kunst nicht möglich ist.
Schutzbereich
Die
jeweiligen Grundrechte gelten verschiedenen Lebensbereichen. Der
Schutzbereich ist ein Lebensbereich, in dem der Einzelne gegen einen
staatlichen Eingriff geschützt ist. Ein Eingriff des Staates
oder eine Schranke liegen vor, wenn dem Einzelnen sein Verhalten, das
vom Schutzbereich eines Grundrechts umfasst ist, durch den Staat
verwehrt wird. Ein Eingriff kann individuell durch einen Verwaltungsakt
und ein Gerichtsurteil oder generell durch Gesetz, Rechtsverordnung
oder Satzung erfolgen. Die Verfasser des Grundgesetzes wollten auf
Grund der Erfahrung im Nationalsozialismus, in dem Kunst vor allem zu
Propagandazwecken missbraucht oder als ›entartet‹
erklärt wurde, eine Einschränkung der Kunstfreiheit
durch den Staat verhindern. Jeder, der künstlerisch
tätig ist, besitzt mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ein
individuelles Freiheitsrecht, aber auch ein Abwehrrecht gegen einen
Eingriff in sein Schaffen durch den Staat. Träger des
Grundrechts ist aber nicht nur der Künstler, sondern ebenso
die Person, die das Kunstwerk der Öffentlichkeit
zugänglich macht. Das können Verleger, Produzenten
oder auch der Geschäftsführer eines Buchverlags sein.
Der Staat ist durch das Grundrecht der
Kunstfreiheit zur ästhetischen Neutralität
verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht darf keine Wertungen
über den zu behandelnden Gegenstand abgeben, Trivialliteratur
ist genauso geschützt wie ein anspruchsvoller Roman. Die
Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werkes darf nicht von einer
staatlichen Stil- und Niveau- bzw. einer Inhalts- oder
Wirkungskontrolle abhängig gemacht werden. Geschützt
ist neben dem Kunstwerk die künstlerische Tätigkeit,
die als ›Werkbereich‹ bezeichnet wird, und auch
die Vermittlung des Kunstwerks an Dritte, der so genannte
›Wirkbereich‹, fällt unter den Schutz
der Kunstfreiheit. Der ›Werk-‹ und der
›Wirkbereich‹ bilden eine unlösbare
Einheit. Eine freie Auswahl des zu bearbeitenden Stoffes und dessen
künstlerische Gestaltung sind durch die Kunstfreiheit
vorbehaltlos gewährt.
Schranken und
Eingriffe
Grundsätzlich ist der Schutzbereich der
Kunstfreiheit schrankenlos gewährleistet, d.h. sie
gehört wie die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu den
vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten. Die schrankenlose
Gewährleistung der Kunstfreiheit wird jedoch von Juristen
höchst kontrovers diskutiert. Die Lehrmeinungen schwanken
zwischen Forderungen, die Kunstfreiheit durch andere
Verfassungsbestimmungen einschränken zu können, bis
zu der Überzeugung, sogar allgemeine Gesetze könnten
den Schutz des Grundrechts verkürzen. Andere sehen wiederum in
Art. 2 Abs. 1 GG oder in Art. 2 Abs. 2 GG eine mögliche
Einschränkung der Kunstfreiheit. Viele befürworten
eine Geltung der Schranken aus Art. 5 Abs. 2 GG nicht nur für
die nach Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistete Meinungsfreiheit,
sondern auch für die Kunstfreiheit. Dies verneinte das BVerfG
im Mephisto-Beschluss mit der Begründung,
dass auf Grund der Systematik des Art. 5 GG die Schranken nur
für die Meinungsfreiheit gelten sollen und nicht zu einer
Einschränkung der Kunstfreiheit, die im Vergleich zu Art. 5
Abs. 1 GG ein lex specialis darstellt, führen können.
Das BVerfG plädierte für eine
verfassungsimmanente Grenzziehung der Kunstfreiheit, was bedeutet, dass
die Kunstfreiheit unmittelbar in den anderen Bestimmungen der
Verfassung, die ebenfalls ein wesentliches Rechtsgut schützen,
ihre Grenzen findet. Im Umkehrschluss zieht wiederum auch die
Kunstfreiheit den anderen Bestimmungen der Verfassung ihre Grenzen.
Weder eine allgemeine Rechtsordnung noch eine unbestimmte Klausel
können das Grundrecht relativieren. Konflikte, die sich in der
Kollision mit der Kunstfreiheit ergeben, sollten »nach
Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter
Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems
durch Verfassungsauslegung« (BVerfGE 30, 173 [193])
gelöst werden. Insbesondere sei die Kunstfreiheit der in Art.1
Abs. 1 GG garantierten Würde des Menschen zugeordnet. Bei
einer Verletzung der Würde eines Menschen durch eine
künstlerische Äußerung, wirkt diese
Verletzung als immanente Schranke. Das BVerfG bezeichnete die
Menschenwürde als oberste Schranke der Kunstfreiheit. Die
soziale Wirkung, die Kunstwerke haben können, lassen die
Kunstfreiheit darüber hinaus leicht mit dem
geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Einzelner, das sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs.
1 GG bildet, in Konflikt geraten. Hierzu führte das BVerfG aus:
»Dass
im Zugriff des Künstlers auf Persönlichkeits- und
Lebensdaten von Menschen seiner Umwelt der soziale Wert- und
Achtungsanspruch des Dargestellten betroffen sein kann, ist darin
begründet, dass ein solches Kunstwerk nicht nur als
ästhetische Realität wirkt, sondern daneben ein
Dasein in den Realien hat, die zwar in der Darstellung
künstlerisch überhöht werden, damit aber
ihre sozialbezogenen Wirkungen nicht verlieren. Diese Wirkungen auf der
sozialen Ebene entfalten sich ›neben‹ dem
eigenständigen Bereich der Kunst; gleichwohl müssen
sie auch im Blick auf den Gewährleistungsbereich des Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG gewürdigt werden, da die
›reale‹ und die
›ästhetische‹ Welt im Kunstwerk eine
Einheit bilden.« (BVerfGE 30, 173 [193f.])
Das
BVerfG beschloss in seiner Begründung zur Entscheidung des Mephisto-Falles,
dass schwere Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
regelmäßig zur Beschränkung der
Kunstfreiheit führen sollen. Auch die eventuelle Verletzung
anderer Grundrechte wird an der Schwere des Eingriffes und der darauf
folgenden Beeinträchtigung bemessen. Eine bloße
Möglichkeit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung
oder eine Bagatellbeeinträchtigung reicht dabei nicht aus.
Der
Kunstbegriff
Das BVerfG hat im Mephisto-Beschluss
zur Auslegung des Kunstbegriffs folgendes entschieden: »Der
Lebensbereich Kunst ist durch die vom Wesen der Kunst
geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen.
Von ihnen hat die Auslegung des Kunstbegriffs der Verfassung
auszugehen« (BVerfGE 30, 173 [188]). Anzustreben ist somit
eine Orientierung an der Kunstwirklichkeit und nicht die
Schöpfung einer eigenen abstrakten Norm für die
Kunst. Trotzdem muss die Rechtsprechung Begriffe entwickeln, um sich
dem Lebensbereich Kunst anzunähern und ihn justiziabel zu
gestalten. Grundsätzlich ist der verfassungsrechtliche
Kunstbegriff jedoch entwicklungsoffen, d.h. die
Entwicklungsfähigkeit und Veränderbarkeit von Kunst
werden vom BVerfG anerkannt. Die folgenden drei Begriffe wurden in
verschiedenen Entscheidungen vom BVerfG gebildet oder von ihm aus der
juristischen Literatur übernommen.
Materieller
Kunstbegriff
Der Beschluss war
maßgeblich für die Etablierung von Grundbegriffen
der Rechtssprechung. Der nachträglich als materiell
bezeichnete Kunstbegriff wurde vom BVerfG wie folgt definiert:
»Das
Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die
freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke,
Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer
bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden.
Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von
bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht
aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken
Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär
nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck
der individuellen Persönlichkeit des
Künstlers.« (BVerfGE, 173 [188 f.])
Bei
der Wiedergabe von Realien in der Literatur spricht das BVerfG von
einer »Verdichtung« der Wirklichkeit im Kunstwerk.
Die Realität wird von dem Künstler »aus den
Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der
empirisch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue
Beziehungen gebracht, für die nicht die
›Realitätsthematik‹, sondern das
künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im
Vordergrund steht« (BVerfGE 30, 173 [190]). Eine qualitative
Beurteilung von Kunst wird mit dem materiellen Kunstbegriff nicht
unternommen.
Formaler Kunstbegriff
Ein
Kunstwerk muss bei formaler Betrachtungsweise die Gattungsanforderungen
eines bestimmten Werktyps erfüllen, wie z.B. des Malens,
Dichtens etc.
Offener Kunstbegriff
Wenn
sich das Werk durch eine fortgesetzte Interpretation immer neuen
Deutungen erschließt, spricht man von einem offenen
Kunstwerk. Während das BVerfG im Mephisto-Beschluss
den Versuch einer umfassenden Kunstdefinition unternommen hatte
– siehe materieller Kunstbegriff –, spricht es
sich, anders als der BGH, seit den 80er Jahren in ständiger
Rechtsprechung für die Unmöglichkeit einer generellen
Kunstdefinition aus. Damit folgte das BVerfG berechtigten
Einwänden aus der Rechtswissenschaft, die einen
Definitionsversuch als zu eng und auf Grund der Freiheitsgarantie des
Art. 5 Abs. 3 GG als unzulässig bezeichneten. Statt Kunst
generell zu definieren, ist der Schutzbereich im konkreten Einzelfall
unter Heranziehung konsensfähiger Gesichtspunkte der zur
Kunstdefinition entwickelten verschiedenen
Lösungsansätze zu bestimmen. Diese drei vom BVerfG
genannten Kunstbegriffe sind nicht als abschließend zu
verstehen, im jeweiligen Einzelfall wird sich um ein werkgerechtes
Kunstverständnis bemüht. Dazu werden aber viel zu
selten Sachverständige hinzugezogen, so dass die Bestimmung in
vielen Fällen den Richtern überlassen bleibt.
Allgemeines
Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs.
1 GG
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde in der
Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts neben anderen
Werten wie Individualität und Menschenwürde
ausgebildet. In der deutschen Verfassung ist das allgemeine
Pesönlichkeitsrecht in den Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1
Abs. 1 GG normiert. Neben der verfassungs- rechtlichen Verankerung ist
das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch im
Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) unter § 823 geregelt.
Es sind einfachgesetzliche Vorschriften wie § 823 BGB, die
individuelle Ansprüche begründen und gegebenenfalls
einen Folgeanspruch auf Unterlassung oder Schadensersatz verleihen.
Diese Ansprüche können grundsätzlich nicht
aus den Grundrechten hergeleitet werden. Weitere Ausformungen hat das
Grundrecht z.B. noch in den Normen §§ 22 f. des
Kunsturhebergesetzes (KunstUrhG), sowie im strafrechtlichen Ehrschutz
in §§ 185 ff. Strafgesetzbuch (StGB) gefunden.
Schutzbereich
Wie
die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, die nicht auf
bestimmte Lebensbereiche begrenzt ist, ist das allgemeine
Persönlichkeitsrecht auch in allen Lebensbereichen relevant.
Seine Verbindung zu der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG
erklärt sich aus dem Schutz des Einzelnen in seiner
Qualität als Subjekt, weniger aus dem Schutz seines
Verhaltens. Die verschiedenen Ausformungen, die das BVerfG von dem
Persönlichkeitsrecht in seiner Rechtsprechung gebildet hat,
gelten nicht verschiedenen Lebensbereichen, sondern verschiedenen
Entfaltungsweisen des Subjekts: der Selbstbestimmung, der
Selbstbewahrung und der Selbstdarstellung.
Recht
der Selbstbestimmung
Der Einzelne hat das Recht selbst zu
bestimmen, unter gegebenen Umständen auch selbst
herauszufinden, wer er ist. Das bedeutet, dass ihm z.B. die Kenntnis
der eigenen Abstammung nicht vorenthalten und nicht verwehrt werden
darf, dass man seinen Namen behalten und seine Geschlechtsrolle, den
entsprechenden Personenstand und die eigene Fortpflanzung bestimmen
darf.
Recht der Selbstbewahrung
Es ist
jedem das Recht zugesprochen, sich zurückzuziehen,
abzuschirmen, für sich allein zu bleiben. Für den
Bereich des Rückzugs und der Abschirmung hat das BVerfG eine
Sphärentheorie entwickelt. Die Sphärentheorie legt
die Rechtfertigungsanforderungen fest, die an einen Eingriff in das
allgemeine Persönlichkeitsrecht gebunden sind. Die
Anforderungen sind umso höher, je näher der Eingriff
dem Kernbereich des Rechts kommt. Es werden verschiedene
Sphären unterschieden: die Intimsphäre, die
Privatsphäre und die Sozialsphäre. Mit der
Intimsphäre wird der Bereich beschrieben, der die innere
Gedanken- und Gefühlswelt betrifft, insbesondere die
Gesundheit und die Sexualität. Die Intimsphäre stellt
den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung dar, wurde aber
in der laufenden Rechtsprechung vom BVerfG noch nie verletzt gesehen.
Die
Privatsphäre bezeichnet das Leben im häuslichen und
familiären Kreis, das Privatleben im Allgemeinen und alles,
wofür der Betroffene ein Geheimhaltungsinteresse in Anspruch
nimmt. An ihren Grenzen kann die Privatsphäre in die
Sozialsphäre übergehen. Die Sozialsphäre
umfasst den Freundeskreis und den Arbeitsplatz, also den Bereich
außerhalb der Familie, in dem aber durchaus ein Interesse an
der Abgrenzung gegenüber der Öffentlichkeit besteht.
Recht
der Selbstdarstellung
Mit diesem Recht ist der Einzelne vor
herabsetzender, verfälschender, entstellender und unerbetener
öffentlicher Darstellung, aber auch unerbetener heimlicher
Wahrnehmung geschützt. Dieses Recht schließt den
Schutz der persönlichen Ehre, den sozialen Achtungsanspruch,
das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort, des Weiteren einen
Schutz vor heimlichem Mit- oder Abhören und Aufnehmen, das
Recht auf Gegendarstellung und Berichtigung mit ein.
Andererseits
kann der Einzelne nicht verlangen, dass er in der
Öffentlichkeit nur so dargestellt werden darf, wie er sich
selbst sieht. Ein Schutz gegen Unwahrheiten, die über eine
Person verbreitet werden, ist sehr umstritten. Die Rechtssprechung
verweist darauf, dass das Recht dem Schutz der Persönlichkeit
diene und nicht dem Schutz der Wahrheit. Zum Ehrschutz hat, nach der
Rechtsprechung des BVerfG, der Schutz von
Meinungsäußerungen, die sich als Schmähung
Dritter darstellen, regelmäßig hinter den
Persönlichkeitsschutz zurückzutreten. Im Einzelfall
ist sogar die Gewährung von Schmerzensgeld möglich.
Schranken
und Eingriffe
Die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG gelten sowohl
für die allgemeine Handlungsfreiheit als auch für das
allgemeine Persönlichkeitsrecht. Als Schranken werden in dem
Artikel die Rechte anderer, die verfassungsmäßige
Ordnung und das Sittengesetz genannt. Mit der Schranke der
verfassungsmäßigen Ordnung bezeichnet man die
Gesamtheit der Normen, die formell und materiell mit der Verfassung in
Einklang stehen. Sie ist die allein wichtige Schranke der Trias.
Für
einen Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts gilt ein so genanntes
Übermaßverbot. Das Übermaßverbot
sieht eine dreistufige Prüfung eines Eingriffs vor. Der
Eingriff muss erstens im Hinblick auf den verfolgten Zweck geeignet
sein. Zweitens muss der Eingriff erforderlich sein. Als letzter und
dritter Schritt wird eine Abwägung der
Verhältnismäßigkeit des Eingriffs
unternommen: »Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff
elementare Äußerungsformen der menschlichen
Handlungsfreiheit berührt, umso sorgfältiger
müssen die zu einer Rechtfertigung vorgebrachten
Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch
des Bürgers abgewogen werden« (BVerfGE 17, 306
[314]). Diese Abwägungsdirektive gilt für die
allgemeine Handlungsfreiheit wie auch für das allgemeine
Persönlichkeitsrecht. Wie oben schon ausgeführt,
bedürfen Eingriffe in private Lebensbereiche nach der
Sphärentheorie einer besonders sorgfältigen
Abwägung. Bei einer Verletzung der Intimsphäre findet
keine Abwägung statt, denn diese gilt als absolut und ist ein
letzter unantastbarer Bereich privater Lebensführung.
Prägung
der Begriffe Urbild/Abbild
Die Richter des BVerfG haben sich
im Mephisto-Beschluss bei einer Kollision von
Persönlichkeitsrechten und Kunstfreiheit auf eine
Abwägung aller Umstände im jeweiligen Einzelfall
verständigt. Zur Prüfung eines entsprechenden
Sachverhaltes wurden vom BVerfG die Begriffe
›Urbild/Abbild‹ geprägt, um einen
Maßstab zu erhalten, mit dem eine
Persönlichkeitsrechtsverletzung bestätigt oder
verneint werden kann.
»Dabei ist zu
beachten, ob und inwieweit das ›Abbild‹
gegenüber dem ›Urbild‹ durch die
künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und
Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so
verselbstständigt erscheint, daß das Individuelle,
Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der
›Figur‹ objektiviert ist. Wenn eine solche, das
Kunstspezifische berücksichtigende Betrachtung jedoch ergibt,
daß der Künstler ein
›Porträt‹ des
›Urbildes‹ gezeichnet hat oder gar zeichnen
wollte, kommt es auf das Ausmaß der künstlerischen
Verfremdung oder den Umfang und die Bedeutung der
›Verfälschung‹ für den Ruf des
Betroffenen oder für sein Andenken an.« (BVerfGE 30,
173 [198])
Im Mephisto-Fall
wurde von den Richtern eine zu geringe Verselbstständigung des
›Abbildes‹ Höfgen gegenüber dem
›Urbild‹ Gründgens festgestellt. Sie
bemängelten, dass die Darstellung nicht genügend
»künstlerisch transzendiert« sei, um in
der Konsequenz »das Individuelle, Persönlich-Intime
zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der
›Figur‹ genügend objektiviert
erscheine[n]« (BVerfGE 30, 173 [198]) zu lassen. Als
besonders gewichtig schätzte das Gericht das grundlegend
negative Persönlichkeits- und Charakterbild der Figur
Höfgen und damit des verstorbenen Gründgens ein, dass
dazu noch von zahlreichen unwahren und erfundenen Einzelheiten
ergänzt wurde. Des Weiteren machten die Richter verbale
Beleidigungen und Verleumdungen aus, die die Gerichte zu der
Beurteilung des Romans als einer »Schmähschrift in
Romanform« kommen ließ. In der Konsequenz war
für das Gericht nicht die Verwendung von
Persönlichkeitsdaten von Bedeutung, sondern die Gewichtung bei
der Vermengung realer und fiktiver Elementen.
Abweichende
Meinung zum Mephisto-Beschluss (Wiltraut Rupp-von
Brünneck und Erwin Stein)
Der Fall Mephisto
wurde 1971 vom ersten – von insgesamt zwei –
Senaten verhandelt. Die sechs Verfassungsrichter der
Kommission konnten sich nicht auf ein gemeinsames Urteil einigen, so
dass sich eine Stimmenparität ergab. Bei Stimmengleichheit
gilt ein Antrag als abgelehnt. Zwei der Richter, Wiltraut Rupp-von
Brünneck und Erwin Stein, die eine sich vom letztendlichen
Urteil unterscheidende Meinung vertraten und die die
Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde als falsch
einschätzten, veröffentlichten ihre abweichende
Stellungnahme im Anschluss an die schriftliche
Urteilsbegründung.
Erwin Stein
bemängelte die zu geringe Beachtung der ästhetischen
Realität des Romans. Es wurde von den Gerichten eine Haltung
der Leser vorausgesetzt, die den Roman ausschließlich als
einen Wirklichkeitsbericht lesen würden. Der Vergleich der
Romanfigur Höfgen mit dem Persönlichkeitsbild
Gründgens sei wie ein Vergleich zwischen zwei lebenden
Personen unternommen worden. Dies sei strukturell grundlegend falsch,
denn »die künstlerische Darstellung kann
[…] nicht am Maßstab der Welt der
Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen,
ästhetischen Maßstab gemessen werden«
(BVerfGE 30, 173 [204]).
Im Vergleich zu einer
Biographie oder einer Dokumentation sei für ein Kunstwerk wie
den Roman signifikant, eine »wirklichere
Wirklichkeit« anzustreben, »in der die reale
Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen
Verhältnis zum Individuum bewusster erfahren wird«
(BVerfGE 30 [204]). Die beschriebenen Personen und Situationen sind in
eine ästhetische Realität erhoben worden und somit in
der Konsequenz unabhängig von der Wirklichkeit zu beurteilen.
Als eine Besonderheit des künstlerischen Schaffens bemerkt
Stein: »In der ästhetischen Realität ist
Faktisches und Fiktives ungesondert gemischt; sie sind nicht ein
lästiges Nebeneinander, sondern eine unauflösliche
Verbindung; alles ist freies ›künstlerisches
Spiel‹« (BVerfGE 30, 173 [205]). Aber trotz dieser
theoretischen Erkenntnis könne man nicht außer Acht
lassen, dass einige Leser die ästhetischen Elemente des
Kunstwerks nicht erkennen, den Text als wahr lesen und ihn mit dem
›Urbild‹ Gründgens abgleichen
würden. Die Faktisch/fiktiv-Problematik verlagere sich somit
von der Seite des Autors auf die des Rezipienten.
Dieses
Dilemma dürfe aber nicht zum Verbot der Verwendung von Daten
aus dem Persönlichkeitsbereich für
künstlerische Schöpfungen führen. Ganz im
Gegenteil plädiert Stein für eine
Verwendung von Persönlichkeitsdaten durch die freie Kunst.
Diese sollten an die Wirklichkeit angeknüpft werden, um ihnen
somit durch Zeichenwerte eine verallgemeinernde Bedeutung zu geben.
Gerade bei Personen des öffentlichen Lebens würde
sich oft das Zeitgeschehen auf besondere Weise verdichten. Stein
spricht von einer »zeichenhaften Bedeutung«
öffentlicher Personen, die der Künstler mit
künstlerischen Ausdrucksmitteln darzustellen und zu
verallgemeinern versucht. Das Ergebnis dieses schöpferischen
Prozesses sei gegenüber der individuellen realen Person
verselbstständigt. Andererseits sei es nicht möglich,
die Bezüge des ›Abbildes‹ zum
›Urbild‹ vollständig zu kaschieren,
besonders wenn der Künstler im Sinne der
künstlerischen Realität sein Werk wirklichkeitsgetreu
gestalten wolle.
Stein bezeichnet die Spannungen
zwischen der zu respektierenden Würde des Menschen und dem
künstlerischen Anliegen als einen festen Bestandteil von
Literatur und führt von Goethes Die Leiden des
jungen Werther bis zu Simone de Beauvoirs Les
Mandarins viele berühmte Beispiele an. Hiermit
beschreibt Stein einen Wesenskern von Literatur. Dieser Wesenskern
besteht in der künstlerischen Verfremdung von Personen der
Wirklichkeit, um so menschliche Schwächen und
Abgründe darzustellen.
»Ein
Ausschluss der Kunst von diesem Erfahrensbereich würde sie in
ihrem Kern treffen, solange sie ihre Aufgabe auch und gerade in der
Bewusstmachung zeitgenössischer Konflikte auf moralischem,
gesellschaftlichem und politischem Gebiet sieht. Eine in dieser Weise
beschränkte Kunst wäre nicht frei im Sinne von Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG. Die Kunstfreiheit lässt dem Grundsatz nach
weder die Einschränkung des künstlerischen
Themenkreises noch die Ausklammerung von Ausdrucksmitteln und -methoden
aus dem künstlerischen Verarbeitungsprozess zu. Auch kann dem
Künstler, insbesondere vom Staat, nicht aufgegeben werden, die
verwendeten Daten aus dem Persönlichkeitsbereich wenigstens im
Rahmen des ästhetisch Zumutbaren so zu verfremden, dass eine
Identifizierung der als Vorbild etwa für eine Romanfigur
benutzten Persönlichkeit vermieden wird; über das
ästhetisch Zumutbare lassen sich verbindliche Regeln weder
aufstellen noch dürfen sie in einem freiheitlichen Staat von
staatlichen Instanzen aufgestellt werden.« (BVerfGE 30, 173
[208 f.])
Gegen Ende seines Gutachtens verweist
Stein auf den zu erwartenden Leserkreis des Werkes. Er geht davon aus,
dass eine Bildungsschicht in der Rezeption von Kunst soweit geschult
ist, dass es ihr möglich sei, ein als Roman gekennzeichnetes
Kunstwerk von einer Biographie oder einer Dokumentation, die einen
Anspruch auf Wirklichkeitstreue besitzt, zu unterscheiden.
Die
Richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck bemängelt in
ihrer Schrift, ähnlich wie ihr Kollege Stein, insbesondere den
von den Gerichten angesetzten Maßstab. Es sei
grundsätzlich falsch gewesen, »ein Kunstwerk in der
Form eines Romans mit der Elle der Realität gemessen [zu]
haben, wie wenn es sich um eine gewöhnliche kritische
Äußerung über einen namentlich bezeichneten
Dritten […] handeln würde« (BVerfGE 30,
173 [221]). Besondere Aufmerksamkeit wurde der Beurteilung von Rupp-von
Brünneck auf Grund ihres Hinweises auf ein Paradoxon im Urteil
zum Mephisto-Beschluss zuteil. Wird einerseits
kritisiert, dass der Autor Klaus Mann die Figur Höfgen zu
wenig verfremdet hätte, so wird andererseits darauf
hingewiesen, er hätte durch erdichtete negative
Verhaltensweisen und Charakterzüge das Urbild
Gründgens zu stark verfremdet. In dieser Bewertungsmethode
erkennt die Richterin die Gefahr der subjektiven Beurteilung von
Kunstwerken. Es solle nicht dem entscheidenden Richter
überlassen werden, zu bewerten, in wieweit er die der
Wirklichkeit entnommenen Tatsachen und Erfahrungen und ihre
Transzendierung als gelungen ansieht.
Der
Fall Maxim Biller: Esra
Sachverhalt und
Prozessgeschichte
Das Werk Esra von Maxim
Biller ist Ende Februar 2003 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
erstmalig erschienen. Am 3. März 2003 erließ das LG
München auf Antrag zweier Klägerinnen eine
einstweilige Verfügung – die vorläufige
Anordnung eines Gerichts zur Sicherung eines Rechtsanspruchs
– gegen den Verlag. Die Klägerinnen beklagten eine
Wiedererkennbarkeit ihrer Person in dem Werk.
Das
Buch schildert die komplizierte Liebesbeziehung zwischen der Titelfigur
Esra und dem Ich-Erzähler, Adam. Die Klägerin zu 1
(Vorbild für Esra), die etwa eineinhalb Jahre lang eine intime
Beziehung zum Autor unterhielt, und die Klägerin zu 2 (Mutter
der Klägerin zu 1, Vorbild für Lale) waren der
Auffassung, der Inhalt des Romans verletze ihr allgemeines
Persönlichkeitsrecht, weil sich die Schilderung der
Romanfiguren Esra und Lale eng an ihrem Leben orientiere. Unter
Androhung eines Ordnungsgeldes beziehungsweise einer Ordnungshaft von
bis zu sechs Monaten wurde die weitere Veröffentlichung und
Auslieferung sowie der Vertrieb und die Bewerbung des Romans Esra
untersagt. Die erste, bereits ausgelieferte Auflage von rund 4000
Exemplaren durfte aber vom Buchhandel noch verkauft werden. Der Verlag
Kiepenheuer & Witsch legte gegen die Verfügung, die
unabhängig von ihrer Richtigkeit zu beachten ist, Widerspruch
ein. Dieser wurde in einem Urteil vom 23. April 2003 vom LG
München zurückgewiesen, woraufhin der Verlag Berufung
beim OLG München einlegte. Dieses hob schließlich am
23. Juli 2003 das Urteil des LG auf Grund einer
Unterlassungserklärung des Verlags in einer
mündlichen Verhandlung vom 23. April 2003, in der er sich zur
Streichung bestimmter individualisierender Stellen in dem Roman
verpflichtete, auf.
Nur wenige Wochen
später veröffentlichte der Verlag eine
überarbeitete Fassung des Werkes, die streckenweise wegen der
Auslassungen kaum mehr lesbar war. Straßen,
Nationalitäten und Örtlichkeiten durften nicht mehr
genannt werden. Diese zweite Auflage war mit einem Aufkleber versehen,
der sie als gerichtlich gebilligte Fassung auszeichnete. Der in der
Erstauflage abgedruckte Hinweis, der den Text als fiktional beschreiben
sollte (»Sämtliche Figuren und Handlungen dieses
Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und
Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht
beabsichtigt.«), wurde abgeändert in: »Die
fiktiven Figuren dieses Romans sind angeregt durch reale Personen, aber
nicht mit ihnen identisch. Die Handlung dieses Romans ist nicht die
dokumentarische Darstellung tatsächlicher Vorgänge.
Darum erhebt dieser Roman keinesfalls den Anspruch, die geschilderten
Vorgänge könnten wahr sein oder sich so zugetragen
haben.«
Aber auch gegen die
geänderte Auflage wurde im August eine Verfügung
erlassen. Das LG München bezeichnete die Änderungen
als nicht ausreichend und sprach am 15. Oktober 2003 wiederholt ein
Buchverbot aus. Die mittlerweile stattgefundene Berichterstattung in
den Medien hatte es in den Augen des LG München
unmöglich gemacht, trotz der Änderungen des Romans
einen wirksamen Schutz für die Klägerinnen zu
ermöglichen. Am 6. April 2004 bestätigte das OLG
München das Urteil des LG München und wies damit die
Berufung des Verlages zurück. Auch der danach vom Verlag
angerufene BGH wies die Revision am 21. Juni 2005 zurück und
bestätigte damit das vorinstanzliche Urteil.
Das
Urteil des Bundesgerichtshofs
Der BGH erkannte in seinem
Urteil eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
der beiden Klägerinnen an und bestätigte den
Klägerinnen Erkennbarkeit in dem Roman. Eine solche
Erkennbarkeit ist nur bei einer individuellen Betroffenheit gegeben,
die im vorliegenden Fall bestätigt wurde. Besonders die
Verleihung des Bundesfilmpreises und des alternativen Nobelpreises an
die beiden Romanfiguren würden sie für einen nicht
unbedeutenden Leserkreis erkennbar machen. Die Klägerin zu 1
hat im Jahre 1989 für ihre Hauptrolle in einem Film, der die
Liebe zwischen einem deutschen Jungen und einem türkischem
Mädchen schildert, den Bundesfilmpreis erhalten. Auf Grund
dieser Rolle wird die Schauspielerin auch heute noch auf der
Straße vorwiegend von türkischen Mitbürgern
erkannt und angesprochen. Die Klägerin zu 2 hat auf Grund
ihres Engagements gegen eine die Umwelt verschmutzende Goldmine in der
Türkei den alternativen Nobelpreis erhalten.
Diese
Informationen lassen den findigen Leser durch eine Internetrecherche
schnell in der Romanfigur Esra die türkische Schauspielerin
Ayse Romey und in der Figur Lale Frau Romeys Mutter Birsel Lemke
erkennen. Aber die Verleihung des Filmpreises ist nicht die einzige
Parallele, die sich zwischen dem Leben der Ayse Romey und der
Romanfigur Esra ergibt. Beide leben in München-Schwabing,
beide arbeiten in einem Grafik-Büro an der Münchner
Freiheit, beide haben aus einer geschiedenen Ehe eine Tochter, beide
hatten eineinhalb Jahre lang ein Verhältnis mit einem
Schriftsteller und beide hatten nach der Trennung von letzterem ein
Verhältnis mit einem ehemaligen Schulfreund, aus dem ebenfalls
ein Kind hervorgegangen ist. Auch bei der Mutter von Frau Romey und
ihrem Abbild der Romanfigur Lale ergeben sich weitere
Übereinstimmungen. Beide sind Besitzerin eines Hotels in der
Türkei und leben in München-Schwabing.
Die
überarbeitete zweite Fassung des Werkes, in der der
Bundesfilmpreis in Fritz-Lang-Preis und der alternative Nobelpreis in
Karl-Gustav-Preis umbenannt wurde, erkannte das Gericht nicht an. Auf
Grund der verbleibenden Begleitumstände könne die
Erkennbarkeit nicht beseitigt werden. Trotz der Änderungen
fehle eine genügende Verfremdung des
›Abbildes‹ vom ›Urbild‹. Es
sei dem Leser unmöglich, zwischen Wahrheit und Fiktion zu
unterscheiden.
Die Voraussetzung für eine
Erkennbarkeit wurde im Mephisto-Beschluss
formuliert. Damals hieß es, die Erkennbarkeit sei dadurch
gegeben, »dass ein nicht unbedeutender Leserkreis unschwer in
Höfgen Gründgens wiedererkenne«. Der BGH
hingegen fasst die Erkennbarkeit enger und sieht diese bereits gegeben,
»wenn die Person ohne namentliche Nennung zumindest
für einen Teil des Leser- und Adressatenkreises aufgrund der
mitgeteilten Umstände hinreichend erkennbar wird«.
Im Einzelfall kann die Wiedergabe von Teilinformationen
genügen, wie z.B. Schilderungen aus dem Lebenslauf des
Betroffenen, die Nennung seines Wohnorts oder seiner
Berufstätigkeit, »aus denen sich die
Identität für die sachlich interessierte Leserschaft
ohne weiteres ergibt oder mühelos ermitteln
läßt«. Bei gegebener Erkennbarkeit in
einer medialen Darstellung und einer schweren
Persönlichkeitsrechtsverletzung steht dem individuell
Betroffenen ein Unterlassungsanspruch zu.
Der BGH
bestätigt eine Verletzung der Klägerin zu 1 in ihrer
Intimsphäre. Die expliziten Schilderungen von Einzelheiten
ihres Sexuallebens und die Erwähnung eines Abtreibungsversuchs
würden vom Leser mit ihrem realen Leben gleichgesetzt. Hinzu
komme eine erhebliche Verletzung ihrer Privatsphäre durch die
Beschreibung einer lebensbedrohlichen Krankheit von Esras Tochter Ayla,
an der auch die Tochter der Klägerin zu 1 erkrankt sei. Die
Tochter der Klägerin zu 1 weiß nichts über
das Ausmaß und die Lebensbedrohlichkeit ihrer Krankheit und
ihre Mutter fürchtet, dass sie von dem Ausmaß ihrer
Krankheit durch den Roman erfährt. Auch in die
Privatsphäre der Klägerin zu 2 sei durch die
Zeichnung eines negativen Charakterbildes ein schwerwiegender Eingriff
unternommen worden. All diese Handlungen seien durch die Kunstfreiheit
nicht gedeckt. Der Autor habe die Möglichkeit einer
ausreichenden Verfremdung der Realien nicht genutzt.
Der
BGH weist daraufhin, dass bei einer Kollision die Kunstfreiheit in
schwerwiegenden Fällen vor dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht zurücktreten muss.
»Die
Freiheit der Kunst ist nicht schrankenlos gewährt. Anders als
die Meinungsfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG) steht das Grundrecht
der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) zwar nicht unter einem
Gesetzesvorbehalt. Jedoch darf sich auch der Künstler, wenn er
sich in seiner Arbeit mit Personen seiner Umwelt auseinandersetzt,
nicht über deren verfassungsrechtlich ebenfalls
geschütztes Persönlichkeitsrecht hinwegsetzen; er
muss sich innerhalb des Spannungsverhältnisses halten, in dem
die kollidierenden Grundwerte als Teile eines einheitlichen
Wertesystems neben- und miteinander bestehen können. Deshalb
ist im Konfliktfall auf die nachteiligen Auswirkungen der
Veröffentlichung für die Persönlichkeit des
Dargestellten zu sehen und auf die durch ein
Veröffentlichungsverbot betroffenen Belange freier
Kunst.« (BGH. Urteil vom 21. Juni 2005. VI ZR 122/04, S. 13)
Die
Abwägung dürfte aber nicht nur den
›Wirkbereich‹ des Kunstwerks
beinträchtigen, sondern sollte auch im
›Werkbereich‹ kunstspezifischen Gesichtspunkten
Rechnung tragen. Hierfür greift der BGH auf die
›Urbild/Abbild‹-Formel des BVerfG zurück
und stellt fest, dass das Kunstwerk um so mehr den Schutzbereich der
Kunstfreiheit genießt, je mehr die Darstellungen des Urbildes
künstlerisch gestaltet sind.
Der BGH
schließt sich dem Urteil der Vorinstanzen an und erkennt in
den Romanfiguren Esra und Lale keine verselbständigten
Kunstfiguren. Das Gericht nimmt auch kritische Stimmen, die den
besonderen Fiktionscharakter von Romanen hervorheben, in seine
Begründung mit auf. Ein Argument ist, dass bei nicht gegebener
Wirklichkeitstreue in fiktionaler Literatur keine
Persönlichkeitsrechte verletzt werden können. Der BGH
verweist jedoch auf den Wirkbereich und betont, dass das Kunstwerk
nicht nur in seiner ästhetischen Realität
wahrgenommen werden kann, sondern auch sein Dasein in den Realien hat
und damit sozialbezogene Wirkungen entfaltet. Die reale und die
ästhetische Welt bilden im Kunstwerk eine Einheit, gleichwohl
lehnt das Gericht eine Verselbständigung des Abbildes auf
Grund der Einbettung der realen Person in die Erzählung ab. Es
wird die nicht vorhandene künstlerische Verfremdung
bemängelt; die Übereinstimmungen zwischen den
Romanfiguren Esra und Lale und ihren Vorbildern seien so zahlreich,
dass die vorhandenen Unterschiede zurücktreten. In dem Roman
werden keine Typen, sondern die Klägerinnen in ihrem realen
Bezug dargestellt. Der Autor verstärkt mit seiner
Lebensbeschreibung auf dem Klappentext des Buches diesen Eindruck. In
der Romanfigur Adam lässt sich in vielen Zügen
unschwer der Autor Maxim Biller wiedererkennen.
Die
Juristen Ladeur und Gostomzyk beklagen in ihrem Aufsatz die einseitige
Aufkündigung eines imaginären Vertrags zwischen Autor
und Leser:
»Wer als Schriftsteller
›hard facts‹ über Personen verwendet,
kündigt die Übereinstimmung zwischen Autor und Leser
einseitig auf, dass es sich beim literarischen Werk um Fiktion handelt.
Als ›hard facts‹ lassen sich Daten einordnen,
durch die sich eine Romanfigur einer real existierenden Person
eindeutig zuordnen lässt. Sie führen dazu, dass sich
auch die Perspektive des Lesers verändert. Nicht mehr das
fiktionale Moment von Literatur dürfte beim Leser
interessieren, sondern die Frage: Was ist wirklich wahr?«
(Ladeur/Gostomzyk, 2004, S. 435)
Dieser Meinung
schließt sich der BGH an und betont nochmals, dass die
Klägerinnen ein solches »Porträt«
in Buchform nicht dulden müssen und ihr allgemeines
Persönlichkeitsrecht in diesem Fall der Kunstfreiheit
vorzuziehen ist.
Ähnlich dem Mephisto-Beschluss
merken die Richter des BGH an, dass jegliche die Wirklichkeit
ergänzenden Details »überwiegend negative
oder bloßstellende Schilderungen« seien,
»welche die Intim- oder Privatsphäre der
Klägerinnen und ihre Lebensweise in einer Weise entstellen,
die diese nicht mehr hinnehmen müssen«(BGH. Urteil
vom 21. Juni 2005. VI ZR 122/04, S. 16). Der Leser wäre dazu
geneigt diese negativen Entfremdungen mit der Wahrheit gleichzusetzen.
Die negative Darstellung der Klägerin zu 2 in der Figur Lale
wird im Urteil des BGH explizit beschrieben:
»Die
Kägerin zu 2 wird in der Figur der Lale als eine depressive,
psychisch kranke Alkoholikerin geschildert, als eine Frau, die ihre
Tochter und ihre Familie tyrannisiert, herrisch und
streitsüchtig ist, ihre Kinder vernachlässigt hat,
das Preisgeld in ihr bankrottes Hotel gesteckt hat, ihren Eltern Land
gestohlen und die Mafia auf sie gehetzt hat, gegen den Goldabbau nur
gekämpft hat, weil auf ihrem eigenen ergaunerten
Grundstück kein Gold zu finden war, eine hohe
Brandschutzversicherung abgeschlossen hat, bevor ihr Hotel in Flammen
aufging, ihre Tochter zur Abtreibung gedrängt hat, von ihrem
ersten Mann betrogen und von ihrem ebenfalls alkoholsüchtigen
zweiten Mann geschlagen worden ist. Derart schwerwiegende Entstellungen
sind durch die Kunstfreiheit nicht gedeckt.« (BGH. Urteil vom
21. Juni 2005. VI ZR 122/04, S. 18)
Interessanterweise
hält das Gericht eine Prüfung, ob die negativen
Beschreibungen der Kunstfigur Lale mit Frau Birsel Lemke
übereinstimmen, für nicht zwingend. Die
Klägerin kann die Beweise dafür schuldig bleiben,
denn die Beweislast trägt der Beklagte. In der Konsequenz
hieße dies, dass Biller, um dem Verbot des Buches zu
entgehen, beweisen müsste, dass die negativen Beschreibungen
der Klägerin zu 2 der Wirklichkeit entsprechen.
Der
Autor schildert an mehreren Stellen im Text explizit sexuelle Praktiken
mit der Klägerin zu 1, die sich dadurch in ihrer
Intimsphäre verletzt sieht. In der Rechtssprechung kommt es
dabei letztlich jedoch nicht darauf an, ob diese geschilderten
Handlungen wahr sind. Sind sie wahr, liegt eine eindeutige Verletzung
der Intimsphäre vor. Doch auch wenn sie frei erfunden
wären, kann sich die Klägerin auf Grund einer
unzulässigen wahrheitswidrigen Tatsachenbehauptung gegen eine
Veröffentlichung des Romans wehren. Es reicht aus, dass beim
Leser des Romans die Vorstellung erweckt worden ist, es handele sich um
tatsächlich Erlebtes. Mit einer eidesstattlichen Versicherung
hat die Klägerin zu 1 vor dem LG München das
Scheitern der Liebesbeziehung zum Beklagten an ihren
familiären Verhältnissen bestätigt und damit
versichert, dass die beschriebene Geschichte der Wirklichkeit
entspreche.
Das Verbot – das Unterbinden
von Veröffentlichung, Auslieferung, Vertreibung und Werbung
für das Buch – nennt der BGH nicht
unverhältnismäßig. Das Kunstwerk sei
vielmehr in seiner Struktur so sehr von Anspielungen und Beschreibungen
der Klägerinnen durchzogen, dass eine Modifikation des Textes
eine erhebliche Änderung des Romans bedeuten würde.
Aus diesem Grunde sei es auch nicht Aufgabe des Gerichts, den Roman so
weit umschreiben zu lassen, bis das zulässige Maß an
Verletzung der Persönlichkeitsrechte erreicht sei. Der sechste
Zivilsenat des BGH hat somit am 21. Juni 2005 eine Revision verworfen
und erkannte abschließend die
Persönlichkeitsrechtsverletzung als so schwer an, dass das
Gericht, wie zuvor schon das OLG München, auf das Zitieren von
konkreten Textpassagen verzichtete.
Maxim
Billers Verlag Kiepenheuer & Witsch hat darauf hin am 1.
September 2005 eine Beschwerde beim BVerfG eingelegt, da der Verlag in
dem vorinstanzlichen Urteil eine fehlerhafte Abwägung der
Kunstfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beklagt
und darin eine Bedrohung für alle Schriftsteller und
literarischen Verlage der Bundesrepublik sieht. Das BVerfG hat zur
Entscheidungsfindung Expertisen vom Verband deutscher Schriftsteller,
dem P.E.N – Zentrum Deutschland, dem Börsenverein
des Deutschen Buchhandels und vom Kulturstaatsministerium angefordert.
Die Klägerinnen wiederum haben im Mai 2006 eine Klage gegen
Maxim Biller und seinen Verlag auf Schmerzensgeld beim LG
München eingereicht. Sie fordern zur Entschädigung
ihrer Ehrverletzung mindestens 100 000 Euro. Im Juli 2006 ist eine
Unterschriftenliste Prominenter erschienen, die unter dem Motto
»100 Namen gegen 100 000 Euro« einen Aufruf gegen
die Schadenersatzklage der Klägerinnen und für die
Kunstfreiheit veröffentlichten. Viele Schriftsteller und
Verleger sahen in der Höhe der verlangten Geldsumme den
drohenden Ruin für Maxim Biller und alle zukünftig
betroffenen Schriftsteller. Am 13. Februar 2008 verurteilte das LG
München den Autor und seinen Verlag letztendlich zur Zahlung
von 50 000 Euro Schmerzensgeld an die Schauspielerin Ayse Romey. Im
Juni 2008 hob das OLG München in einem Berufungsverfahren
dieses Urteil auf.
Rezeption im Kontext der
›Urbild/Abbild‹-Problematik
Teils
heftige und sehr unterschiedliche Reaktionen folgten auf die einzelnen
Urteile der Gerichte im Fall Esra. Auf juristischer
Seite zeigte man sich verwundert über die starke Orientierung
an dem Präzedenzfall Mephisto, der schon
über 30 Jahre zurück lag, und entwickelte Modelle und
Vorschläge dem Problem entgegenzutreten. In den Feuilletons
der deutschen Tageszeitungen entbrannte eine hitzige Debatte
über und vorwiegend für die Freiheit der Kunst.
Einige Journalisten kritisierten, dass es nun schon möglich
sei gegen Romane zu klagen, und übersahen dabei, dass die
Rechtssprechung sich schon früh für eine
Güterabwägung zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem
Persönlichkeitsrecht im Konflikt- und Einzelfall entschieden
hatte. Besonders die auffällige Häufung
ähnlich gelagerter Fälle im Jahre 2003 erregte die
Aufmerksamkeit vieler, waren doch die Jahrzehnte zuvor nur vereinzelt
Klagen gegen literarische Werke erhoben worden. Dabei sind nicht nur
die autobiographisch angelegten Romane Esra von
Maxim Biller und Meere von Alban Nikolai Herbst zu
nennen, sondern auch die medienwirksam verhandelte Autobiographie von
Dieter Bohlen Hinter den Kulissen, der Roman von
Reinhard Liebermann Das Ende des Kanzlers und das
Prosagedicht von Birgit Kempker Als ich das erste Mal mit
einem Jungen im Bett lag, das jedoch bereits im Jahr 2000
verhandelt wurde.
Nicht nur der literarische Markt
ist von dieser ›Klagewelle‹ auf Verletzung von
Persönlichkeitsrechten erfasst. Schwerwiegende Verbote haben
auch in jüngster Zeit den Film- und Theaterbereich
erschüttert. Der ARD wurde es im Herbst 2006 untersagt eine
Filmproduktion über den Contergan-Skandal der 50er- und
60er-Jahre unter dem Titel Eine einzige Tablette
auszustrahlen. Die betroffene Pharmafirma Grünenthal und der
frühere Anwalt der Opfer Karl-Hermann Schulte-Hillen erkannten
sich in der Verfilmung wieder und fühlten sich in ihren
Persönlichkeitsrechten verletzt. Im Mai 2006 wurde die weitere
Aufführung des Theaterstücks Ehrensache
von Lutz Hübner untersagt. Die Mutter des jungen weiblichen
Opfers, dessen Mord in dem Theaterstück thematisiert wird, sah
eine hohe Gefahr der Erkennbarkeit ihrer verstorbenen Tochter. Das
Gericht gab ihr in zweiter Instanz Recht. Zu einem
öffentlichen, aber nicht gerichtlichen Streit kam es zwischen
der Autorin Elfriede Jelinek, die in ihrem Theaterstück Ulrike
Maria Stuart die Lebensgeschichte der Terroristinnen Ulrike
Meinhof und Gudrun Ensslin thematisiert, und der Tochter Meinhofs,
Bettina Röhl. Frau Röhl forderte Eingriffe in den
Text von der Autorin Jelinek und dem Regisseur Nicolas Stemann, der
sich für die Uraufführung im Hamburger Thalia Theater
verantwortlich zeigte. Sie begründete ihren Wunsch mit einer
unrechtmäßigen Abbildung ihrer Mutter und auch ihrer
eigenen Person. Insbesondere sah sie die Gefahr, dass das
Stück als ein Ruf nach einer neuen RAF rezipiert werden
könnte. Die genannten Fälle sollen aufzeigen, dass es
sich um eine Entwicklung handelt, die den gesamten
künstlerischen Bereich betrifft. Für das
Erkenntnisinteresse dieses Essays sind jedoch einzig die Buchverbote
von Bedeutung.
Pressestimmen
Kurz nach
Erscheinen des Romans wurden die ersten Rezensionen
veröffentlicht. Sehr beeindruckt zeigte sich Uwe Wittstock in Die
Welt von Billers Werk. Er lobt »die
Intensität, mit der Biller [...] die Seelen seiner Figuren bis
in deren verborgensten Winkel auskratzt und vor den Lesern offen legt,
macht aus ›Esra‹ einen herausragenden, einen
ungewöhnlich bewegenden Roman« (Wittstock, 1.
März 2003, ohne Seitenzahl). Wittstock bemerkt sehr wohl die
auffälligen Parallelen zwischen dem Helden Adam und seinem
Schöpfer, die Identitäten der anderen Romanfiguren
bleiben ihm jedoch verborgen. Besonders die Erzählhaltung des
Autors scheint Wittstock beachtlich:
»Bewundernswert
mit welch ironischen [sic!] Distanz Biller seinen Ich-Erzähler
oft behandelt: Immer wieder möchte sich Adam in seinen halb
tragischen, halb hysterischen Berichten über die endlosen
Konflikte mit Esra zu einer Art Märtyrer der wahren Liebe
stilisieren. Aber Biller lässt der [sic!] Leser gekonnt
spüren, dass dieser selbsternannte Märtyrer vor allem
an seiner schier grenzenlosen Egozentrik scheitert und eben erst in
zweiter Linie an den äußeren Hindernissen, die sich
ihm in den Weg stellen. Er glaubt, sich ritterlich für Esra
aufzuopfern, im Grunde aber nutzt er sie emotional oft ebenso aus, so
wie es alle anderen auch tun.« (Wittstock, 1. März
2003, ohne Seitenzahl)
Auch Richard
Kämmerlings erkennt Biller in der Romanfigur Adam
»bis ins Detail« wieder. Doch darüber
hinaus problematisiert er im Gegensatz zu Wittstock die Erkennbarkeit
von Esra und Lale und hebt die künstlerischen Aspekte des
Werkes hervor:
»Wer wollte,
könnte leicht anhand einiger Details die realen Vorbilder
für Esra und ihre Mutter identifizieren. Doch was
wäre für das Verständnis des Romans
gewonnen, der selbst das Verhältnis von Literatur und Leben
zum Thema macht? [...] Literarischen Realismus der harmlosen
Oberflächenspiegelung zu entwinden und ihm wieder die ritzende
Schärfe eines existenziellen Ringens um Glück und
Sinn zu geben ist Billers Programm. Literatur als Stierkampf
– so nannte das einst der große
Selbstentblößer Michel Leiris: Schönheit
erwächst erst aus ihrer Nähe zur Gefahr. [...] Die
Kunst Billers besteht [...] darin, das Autobiographische bruchlos
einzufügen in einen hakenschlagenden und doch aufs Wesentliche
reduzierten Berichtstil [...].« (Kämmerlings, 1.
März 2003, S. 44)
Der selbstreferentielle
Charakter des Romans, das Spiel mit der Realität, wird von
Kämmerlings als künstlerisch dargestellt. Auch in
folgenden Artikeln verteidigt Kämmerlings vehement Billers
Werk und rekurriert auf den Kunstcharakter des Romans. In diesem Zuge
entlarvt er die im Roman beschriebene Hochzeitsgeschichte, in der unter
anderem Lale beschrieben wird und die zum endgültigen Bruch
mit ihren Eltern geführt haben soll, als durchaus existent
– 1990 schreibt Biller eine Erzählung über
eine deutsch-türkische Hochzeit in seinem ersten
Erzählband Wenn ich einmal reich und tot bin,
in der auch die türkische Mutter der Braut beschrieben wird
–, aber alles andere als eine üble
Schmährede sei, die eine Familienzerrüttung
hervorrufen könnte. Somit entstehe der Eindruck, als
hätte Biller mit der in dem Roman Esra beschriebenen Erregung
der Figur Lale über die Hochzeitsgeschichte die reale Wut der
abgebildeten Frau Birsel Lemke über den Roman Esra
vorwegnehmen wollen. Der Erlass der einstweiligen Verfügung
etwa eine Woche nach Erscheinen des Romans fachte die Diskussionen in
den Zeitungen zunehmend an. Gerd Roellecke beurteilt in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung die Streitigkeiten und insbesondere die
Erkennbarkeit der Klägerinnen kritisch. Er weist darauf hin zu
bedenken, dass die explizite Darstellung sexueller Handlungen in den
türkischen Kreisen der Klägerinnen anders als in
deutschem Umfeld sehr wahrscheinlich ernster und strenger beurteilt
werden (Roellecke, 14. Juli 2003, S. 29).
Besonders
aufmerksam und vielstimmig wurde der Fall Esra in
der Süddeutschen Zeitung verfolgt. Dies
ist sicherlich damit zu erklären, dass die Handlung des Romans
in München spielt, der Autor damals noch in der besagten Stadt
lebte und die Gerichtsverhandlungen bis zum OLG geführt
wurden. Grundsätzlich plausibel beurteilt Christoph Bartmann
die Entscheidung des LG München zur einstweiligen
Verfügung (Bartmann, 13. März 2003, S. 16). Der
Skandal, den der Roman ausgelöst hat, ist für
Bartmann ein voraussehbarer Höhepunkt, der aus Billers
grundsätzlicher Haltung resultiere. Mit Konsequenz habe Biller
in Reden und Publikationen das Gefährliche und Wilde
beschworen und die Konfrontation gesucht. Seine oft zitierte
Beurteilung der Gegenwartsliteratur als
»Schlappschwanzliteratur« (Biller, 13. April 2000,
ohne Seitenzahl) oder seine Kolumnen in dem Magazin Tempo
(»100 Zeilen Hass«) und in der Frankfurter
Allgemeinen Sonntagszeitung (»Moralische
Geschichten«) taten ihr übriges dazu. Bartmann
scheut nicht davor zurück in seinem Artikel das Autor-Ich dem
Erzähler-Ich gleichzusetzen. So rezensiert er den Roman
letztendlich wie eine Autobiographie.
Eine recht
harsche Kritik stammt von Dorothea Dieckmann in der Neuen
Zürcher Zeitung. Ihr ist es unverständlich,
dass Biller seinen ihres Erachtens gelungenen Erstlingsroman Die
Tochter so unterbieten konnte. »Was als
Schlüsselroman daherkommt, ist nichts anderes als
pubertäres Nähkästchengeplauder oder, da es
sich de facto um einen gestandenen Vierziger handelt, der
geschwätzige Fortsetzungs›roman‹ eines
Stammkunden beim Herrenfriseur« (Dieckmann, 19. März
2003, S. 36). Letztendlich sieht aber auch sie, wie Christoph Bartmann,
die Stringenz in Billers Schaffen: »Der literarische
(Selbst-)Offenbarungseid ist die logische Konsequenz von Billers
antiliterarischem Credo, Literatur müsse vom
›Wahren, Echten, Eigentlichen‹
berichten.« Dieckmann resümiert: »Solches
Schreiben klebt am Leim der banalen Oberfläche.«
Ein
flammendes Plädoyer für den Roman stammt von der
Schriftstellerin Marica Bodrozic. Sie stellt die
grundsätzliche Frage nach der Wirklichkeit und ihrer
Wahrnehmung. In eindringlichen Sätzen beschreibt sie den
Produktionsprozess eines Schriftstellers:
»Meine
Erfahrung ist das Ergebnis meiner Einbildungskraft. [...] Stellten wir
uns die Frage, wie wir Menschen erleben, müssen wir ehrlich
antworten: Anders als andere. Jeder zieht die eigenen Bildhöfe
um Personen und Begebenheiten. [...] Die Freiheit des Schreibenden ist
die Freiheit seines Erlebens. Im Roman fügen wir das Erlebte
in einen frei-phantasierten Rahmen. Und das Erdachte ist dabei das
Wahrhaftigste. Aber das Erdachte ist auch jenes, das dem Erleben nah
ist, das das Erleben erwirkt.« (Bodrozic, 12. April 2003, S.
18)
Der Blick des Individuums auf die
Realität und das Erlebte wird als subjektiv beschrieben.
Erdachtes und Erlebtes ergeben für die Schriftstellerin eine
untrennbare Einheit, sind ineinander verwoben. Sie beschreibt die
Freiheit als absolute Notwendigkeit. Erst die Freiheit schaffe den
Leser und den Schriftsteller. Die Problematik der
Persönlichkeitsrechtsverletzung wird von ihr nicht
aufgegriffen. Noch viel leidenschaftlicher, aber sehr einseitig und in
Verkennung der Problematik ist der Kommentar von Joachim Lottmann in
der Tageszeitung (Lottmann, 5. Juli 2003, S. 13).
Er hebt zutreffend den engen Bezug zur Wirklichkeit in der
Gegenwartsliteratur von Autoren wie z.B. Christian Kracht, Benjamin von
Stuckrad-Barre und Maxim Biller, der in manchen Fällen in eine
Wiedergabe der Wirklichkeit übergeht, als Prämisse
seiner Argumentation hervor. Er grenzt diese für ihn
»hoch entwickelte Literatur« gegen
»althergebrachte, reaktionäre Literatur«
ab, die eine »Verdichtung« des Stoffes
nötig habe, um eine »allgemeine Wahrheit«
zu erlangen. Abschließend zeigt er Verständnis
für die »gnadenlosen Tiraden gegen das Objekt der
Begierde« und deutet den Roman als legitimen Rachefeldzug des
Autors gegen seine ehemalige Freundin. Die »Wut im
Bauch« und das Motiv der »Rache«
hätten die besten Texte der Literatur hervorgebracht.
Die
Wochenzeitung Die Zeit nimmt eine vorwiegend
kritische Haltung zu dem Roman ein. Jens Jessen bezeichnet Esra
als einen »Schlüssel ohne Roman« (Jessen,
13. März 2003, ohne Seitenzahl). Der Titel seines Artikels
suggeriert seine Überzeugung, dass es sich bei dem Roman um
eine dokumentarische Studie handelt, die jegliche
künstlerische Verfremdung oder Codierung vermissen
lässt. Er plädiert für eine Freiheit des
Porträtierten, sich nicht gemeint fühlen zu
müssen. Diese Freiheit kann nur gewährleistet werden,
indem der Schriftsteller die Realien ausreichend verfremdet. In Billers
Roman erkennt er eine »narzisstische Befriedigung«
und stellt sich die Frage, ob das Werk vielleicht aus Bosheit oder
Rachsucht entstanden sein könnte. Darüber hinaus
stellt er die vage These auf, dass das Werk mit seinen vorweggenommenen
Problematisierungen von Realitätswiedergabe wie ein Prolog zur
»Geschichte« der Gerichts- und Medienverhandlung
des Romans gelesen werden soll.
Iris Radisch
unterstellt Biller ebenso wie Alban Nikolai Herbst
»literarischen Machismo« (Radisch, 1. Oktober 2003,
ohne Seitenzahl). Das in die Öffentlichkeit-Zerren anonymer
Frauen sei eine verwerfliche Tat. Der Schriftsteller Christoph Hein
wurde in einem Interview im Spiegel auf ein fatales
Paradoxon bei der Klage auf Verletzung der
Persönlichkeitsrechte aufmerksam gemacht (Der Spiegel,
43/2003, S. 178). Durch die Klage gegen die unfreiwillige
Veröffentlichung des eigenen Privatlebens tritt die betroffene
Person in die Öffentlichkeit. Von mancher Seite wurde den
beiden Frauen daher vorgeworfen, erst ihre Klage habe sie für
die Öffentlichkeit erkennbar gemacht. Dieses Argument sei
bösartig und Hein zieht einen drastischen Vergleich zu
vergewaltigten Frauen, die oftmals einen Gang vor das Gericht scheuen,
um ihre Identität nicht veröffentlichen zu
müssen. Dies muss als schwerwiegendes Problem festgestellt,
darf den betroffenen Frauen aber in keinem Fall vorgeworfen werden.
Darüber hinaus bezeichnet Hein die Einschränkung der
schriftstellerischen Tätigkeit durch die
Persönlichkeitsrechte Dritter als zulässig und weist
daraufhin, dass das Verbot der Verletzung Dritter Bestandteil des
Vertrags zwischen Autor und Verlag sei.
»Grrrrrässlich!« war der lakonische
Kommentar von Marcel Reich-Ranicki zu dem Buch-Verbot
(Süddeutsche Zeitung, 20. Oktober 2003, S. 14). Er sei selbst
als Schlüsselfigur in Martin Walsers Tod eines
Kritikers und Bodo Kirchhoffs Schundroman
kaum verschlüsselt zu erkennen, hätte aber nie daran
gedacht gegen die Veröffentlichung zu klagen.
Juristische
Beiträge
Der Anwalt Peter Raue plädiert in
einem Aufsatz für eine stärkere Gewichtung des
literarischen Werts eines Werkes durch die Gerichte. Er
bemängelt, dass es kein Instrumentarium in der Rechtssprechung
zur Betrachtung und Berücksichtigung eines Kunstwerks gibt.
Raue vertritt die Meinung, dass die Qualität eines Kunstwerks
bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen sei. Die
Qualität solle durch die Gerichte oder im Zweifel durch
Sachverständige beurteilt werden. Bei einer
Persönlichkeitsrechtsverletzung würde dies bedeuten:
»Je
besser, je kunstvoller der Roman (die Erzählung) ist, desto
eher wird man, auch die Darstellung von Intimszenen, die Schilderung
von Un- oder sogar Straftaten als Recht des Autors betrachten
dürfen. Dies müsste unabhängig davon gelten,
ob das Geschilderte wahr oder unwahr, berichtet oder erfunden
ist.« (Raue, 2004, S. 163)
Hier liegt die
große Gefahr in einer Rechtsprechung, die sich zu einem
staatlichen ›Kunstrichtertum‹ erhebt. Auch die
von Raue angeregte Hinzuziehung von Sachverständigen macht
diesen Vorschlag nicht überzeugender. Der Vorschlag
widerspricht dem Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, der einem
Inhalts- und Qualitätsurteil durch die Gerichte vorbeugen
soll. Der Differenzierung zwischen Kunst und ›entarteter
Kunst‹ im Nationalsozialismus ist vom demokratischen
Verfassungsgeber eine Garantie der Anerkennung und Respektierung der
Eigengesetzlichkeit von Kunst entgegengesetzt worden. Der Jurist
Endress Wanckel beschreibt in seinem Aufsatz die Gefahr, dass in
Zukunft einer Buchveröffentlichung ein juristisches Lektorat
vorangeht. Hinsichtlich eines solchen Lektorats sind aus dem BGH-Urteil
zu Esra zwei Aspekte von besonderer Bedeutung hervorgegangen:
»(1)
Romane und andere künstlerische Werke mit Bezügen zu
realen Personen sind nur bei schweren
Persönlichkeitsrechtsverletzungen unzulässig. Der
Schutz des Persönlichkeitsrechts überwiegt
über die künstlerische Freiheit, wenn Unwahrheiten
mit abträglichen Folgen oder Eingriffe in den engeren Bereich
der Privat- und Intimsphäre vorliegen. [...]
(2)
Halbherzige Versuche, die persönlichkeitsrechtliche Relevanz
durch Verfremdungen zu vermeiden, sind nutzlos. Hinsichtlich des
Maßstabs der Erkennbarkeit hat der BGH [...] einen strengen
Maßstab vorgegeben. Die Erkennbarkeit – und damit
die individuelle Betroffenheit hinsichtlich des
Persönlichkeitsschutzes – ist schon dann gegeben,
wenn auf Grund der Darstellung solche Personen den Betroffenen
erkennen, die zu seinem näheren Bekanntenkreis
zählen. Ist diese Voraussetzung gegeben, lässt auch
die Vermengung mit fiktionalen Elementen den
Persönlichkeitsbezug nicht entfallen. Lehnt sich eine
Romanfigur an eine reale Person an, wird diese daher nicht bereits auf
Grund der Einbettung in die Erzählung zum
verselbstständigten Abbild, sofern der Leser nicht klar
zwischen den dokumentarischen und den erdichteten Elementen
unterscheiden kann.« (Wanckel, 2006, S. 579)
Das
Börsenblatt nahm den Fall Esra
zum Anlass, den Buchverlegern einige Tipps zu geben, wie sie die Texte
ihrer Autoren vor Veröffentlichung auf die mögliche
Verletzung von Persönlichkeitsrechten Dritter
überprüfen können. Da die Fälle
einzeln beurteilt würden und eine Abwägung im Voraus
schwer sei, wurden von der Autorin des Artikels sieben Fallgruppen
gebildet, die es den Verlegern erleichtern sollen, das Risiko einer
Veröffentlichung einzuschätzen. Darüber
hinaus wurde den Verlegern geraten, wie sie in einem Verdachtsfall zu
reagieren haben: Das Gespräch mit dem Autor müsse
gesucht werden, im Verlagsvertrag solle sich der Verleger vom Autor
ausdrücklich zusichern lassen, »das[s] alle
Bestandteile seiner Erzählung frei erfunden sind und nicht an
tatsächliche Gegebenheiten oder lebende Personen
anlehnen« (Feindor, 2003, S. 22). Interessanterweise wird
zudem empfohlen in Zweifelsfällen in einem klärenden
Vorspann den fiktiven Charakter der Erzählung zu versichern,
dies habe in der Vergangenheit den Gerichten oft ausgereicht. Wie im
Fall Esra gezeigt, ist dies nicht die Regel und
wirkungslos, wenn objektiv ›Erkennbarkeit‹
festgestellt wurde.
Die rechtlich sicherlich
einfachste Lösung ist eine Autorisierung des Geschriebenen
durch den Betroffenen. Leider ist eine solche Einwilligung meist nicht
ohne hohe Auflagen, die einer ›Vorzensur‹
gleichkommen, einzuholen. Der konstruktive Dialog, der entstehen
könnte, wäre natürlich sehr erstrebenswert
und im Einzelfall vielleicht auch sinnvoll, aber für die
schriftstellerische Praxis im Allgemeinen wohl wenig geeignet.
Für
eine »Risikobetrachtung« sprechen sich auch die
beiden Juristen Karl-Heinz Ladeur und Tobias Gostomzyk aus
(Ladeur/Gostomzyk, 2005, S. 566). Sie heben hervor, dass in den meisten
Kollisionsfällen lediglich abstrakte Risiken für das
Persönlichkeitsrecht von Betroffenen, aber keine konkreten
Gefahren bestehen. Unter einer konkreten Gefahr bzw. Verletzung
verstehen Ladeur und Gostomzyk eine »Schädigung des
Images von Betroffenen in der Öffentlichkeit«. Eine
Abwägung des Risikos für die Betroffenen ist
sicherlich diskutabel. Aber die Verletzung der
›Ehre‹ eines Menschen oder seiner
Intimsphäre als abstrakt zu bezeichnen, nur weil der Text als
fiktiv bezeichnet wird – ob er es ist, muss im Einzelfall
festgestellt werden – ist wohl etwas zu kurz gedacht. Ebenso
sollte man sich davor hüten, die Ehrverletzung, nur weil sie
›immateriell‹ ist, zu unterschätzen. Bei
gegebener Erkennbarkeit ist die Person individuell betroffen, die
Persönlichkeitsverletzung ihr zurechenbar und damit auch
durchaus konkret. Wie groß der Kreis der Personen sein darf,
die die abgebildeten Personen wieder erkennen können, ist
– wie oben dargestellt – vom BGH sehr eng ausgelegt
worden.
Die einseitige Konzentration auf das
Spannungsfeld im sozialen Wirkbereich, die im Resultat einen Vergleich
von Abweichungen zwischen realer und fiktiver Welt bewirkt, dabei aber
die ästhetische Realität des Kunstwerks missachtet,
wird von den Verfassern bemängelt. Die
Persönlichkeitsrechtsverletzung steht für die
Gerichte im Vordergrund und damit wird das literarische Werk am
Maßstab der ›Wirklichkeit‹ gemessen.
Ladeur und Gostomzyk vermerken diesbezüglich:
»Demgegenüber
gilt es stärker zu berücksichtigen, dass
Literaturrezeption vorrangig durch eine hermeneutische Beziehung
zwischen Autor und (Durchschnitts-)Leser bestimmt ist. Erst
darüber lassen sich die ›Eigenständigkeit
und Eigengesetzlichkeit‹ von Literatur begreifen. [...]
Daher sind Beeinträchtigungen des
Persönlichkeitsrechts nicht unmittelbar zu betrachten, sondern
gerade mittelbar, gewissermaßen vom Leserhorizont
reflektiert.« (Ladeur/Gostomzyk, 2005, S. 568)
Die
Funktionen von Literatur sollen, so Ladeur und Gostomzyk, in das Urteil
mit einbezogen werden. Genannt werden der Tabubruch, die Zeitdeutung
sowie die Auflage und Reichweite eines Romans. Ob ein Buch von einer
Werbekampagne begleitet wird, die die moralische
Grenzüberschreitung thematisiert, oder ob erst die Verhandlung
das Werk zum Medienereignis macht, sind Aspekte, die von ihnen als
relevant für die Entscheidungsfindung bezeichnet werden.
David-Alexander
Busch, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der juristischen
Fakultät Hamburg, fokussiert in seinem Aufsatz insbesondere
den Maßstab der ›Erkennbarkeit‹. Die
sehr enge Auslegung durch die Gerichte, resultierend aus
vorangegangenen Entscheidungen zum Presse- und Bildnisrecht,
dürfe in dieser Strenge nicht 1:1 auf die Kunstfreiheit
übertragen werden. Im Fall Esra wirft
Busch den Richtern vor, subjektiv aus der Sicht der
Klägerinnen entschieden zu haben. Er spricht von einer
»Brille«, die die Richter den Roman
ausschließlich aus der Sicht der Klägerinnen lesen
ließe. »Eine solche Brille jedoch erwirbt der Leser
beim Kauf eines Buches nicht mit und der Richter sollte sie bei seiner
Beurteilung daher nicht aufsetzen« (Busch, 2004, S. 208 f.).
Treffend bemerkt Busch, dass bei einer Analyse eines Romans nicht
nur Einzelszenen des Kunstwerks Berücksichtigung
finden dürfen, sondern sich häufig erst aus einer
Betrachtung des Gesamtwerks Aussagegehalt und Charakter einer Szene
ergeben.
Im Anschluss geht Busch auf einen Vorschlag
des Juristen Bernhard von Becker ein, den Maßstab der
›Erkennbarkeit‹ durch die Kategorie der
›Ähnlichkeit‹ zu ersetzen. Für
von Becker ermöglicht der »normativ
wertende« Begriff
›Ähnlichkeit‹ eine »graduelle
Bewertung«, die der starre und quantitativ diskrepante
Begriff der ›Erkennbarkeit‹ nicht
erfüllen kann (Becker, 2003, S. 88). Wie oben dargestellt
wurde, haben sich die Voraussetzungen für
›Erkennbarkeit‹ zwischen den Fällen Mephisto
und Esra erheblich verengt. Dies hat zum einen mit
dem unterschiedlichen Bekanntheitsgrad der jeweils betroffenen Personen
zu tun. So ist Gustaf Gründgens leichter und von einem
größeren Personenkreis erkennbar als die kurzzeitig
sehr erfolgreiche Schauspielerin Ayse Romey. Zum anderen hat das
Persönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung eine sukzessiv
stärkere Gewichtung, gipfelnd in der presserechtlichen
Entscheidung des EUGMR, erfahren. Differenzierter wäre eine
eventuelle Betroffenheit mit einer im jeweiligen Einzelfall
unternommenen Wertung der Ähnlichkeit zwischen
›Urbild‹ und ›Abbild‹ zu
beurteilen. Die Frage, wer wen in welcher Figur wiedererkennt,
wäre damit obsolet. Im Ergebnis bedeutet dies, dass nicht der
›Durchschnittsleser‹, der letztendlich eine
unbekannte Größe darstellt, und sein vermutetes
Wissen über Prominente als Maßstab zur Erkennbarkeit
genommen werden sollte, sondern nur durch den fokussierten Vergleich
zwischen ›Urbild‹ und
›Abbild‹ eine eventuelle Ähnlichkeit
festgestellt werden soll.
Von Becker hat mit seinem
Essay Fiktion und Wirklichkeit im Roman die bis
dato sicherlich umfangreichste und fundierteste Bearbeitung des
Sachverhalts vorgelegt (Becker, 2006). In bewusst essayistischer Form
nähert er sich der Problematik. Einer
juristisch-systematischen Analyse, konstatiert er, sei die Materie
vermutlich nicht gewachsen. Er berichtet, dass Biller seiner ehemaligen
Freundin ein Vorabexemplar habe zukommen lassen – vorgelegt
im Prozess – mit der persönliche Widmung:
»Dieses Buch ist nur für Dich. Ich habe es nur
für Dich geschrieben, aber ich verstehe, dass Du Angst hast,
es zu lesen. Vielleicht liest Du es, wenn wir alt sind.«
Literaturwissenschaftliche
Rezeption
Die Germanistin Anja Ohmer hat sich früh,
tiefgehend und ausgiebig mit den Buchverboten und der Nachzensur
befasst. Die Begrenzung der Kunstfreiheit durch das
Persönlichkeitsrecht bezeichnet sie als grundsätzlich
legitim, stellt aber zur Diskussion, dass es Literatur gewährt
sein muss, ihrer Funktion in der Gesellschaft nachzukommen. Die
gesellschaftliche Funktion von Literatur beschreibt sie wie folgt:
»Sie
muss fundamental-traditionelle Themen der enttäuschten oder
erfüllten Liebe, der Selbstfindung und Eigenreflexion
literarisch bearbeiten können. Zugleich hat auch die
Öffentlichkeit das Recht, diese zu empfangen und sich damit
auseinander zu setzen. Andernfalls kann Literatur ihrer Aufgabe in der
Gesellschaft nicht gerecht werden. Schöpferisch-kreatives
Arbeiten geht immer über Grenzen und regt dadurch Denkprozesse
an. Dies führt letztlich zur Weiterentwicklung der
Gesellschaft.« (Ohmer, 2004, S. 69)
Ohmer
liest den Roman als eine »autobiographisch-fiktionalisierte
Erinnerung« und sieht in ihm ein Spiegelbild unserer Zeit. Esra
ließe sich in eine internationale und nationale
Strömung der Literatur einordnen, die sie unter dem Begriff
›Subjektiver Realismus‹ zusammenfasst. Eine
solche Literatur zeichne sich durch ihre Lebensnähe und
Unmittelbarkeit aus. Ihr Sinn müsse nicht
entschlüsselt werden, sondern liege an der
Oberfläche. Dem Leser würde ein hohes Angebot an
Identifikationsmöglichkeiten gemacht und das Schreiben sei
»immer ein Erinnern, das auf höchst subjektive Weise
Fakten und Fiktion zu einem Dritten verbindet«(Ohmer, 2004,
S. 75). Indem das Werk Esra in eine literarische
Strömung eingeordnet wird, erhält es ein
beträchtliches Gewicht. Das Verbot würde damit in der
Konsequenz bedeuten, dass durch die Gerichte das Aufkeimen einer
Kunstströmung unterbunden wird. Sie unterstreicht, dass gerade
diese realistische Kunstform eines besonderen Schutzes durch das Gesetz
bedürfe. Mit dem Vergleich, dass nach heutiger Rechtsprechung
nun auch ehemalige KZ-Aufseher auf Verletzung ihrer
Persönlichkeitsrechte klagen könnten, tut sich Frau
Ohmer keinen Gefallen, denn unser Staat gewährt jedem Menschen
Rechtssicherheit und wie der Fall des verbotenen Films Rohtenburg
(sic!) zeigt, besitzen – bei aller persönlichen
Abscheu – auch Triebtäter
Persönlichkeitsrechte, und dies ist von fundamentaler
Bedeutung für einen Rechtsstaat.
In einem
Aufsatz unterstreicht Ohmer, dass Billers selbstreferentielle
Verarbeitung seiner Liebesbeziehung als eine künstlerische
Aufarbeitung gelesen werden kann (Ohmer, 2004, S. 89). Sie
bemängelt die unzureichende Differenzierung der Gerichte
zwischen biographischem Sachbuch und einer Romanform, die
autobiographische und fiktive Elemente miteinander verbindet. Es sei
Biller verwehrt, die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu
verarbeiten. Gegen Ende ihres Aufsatzes stellt Ohmer die berechtigte
Frage: »Ist es nicht auch ein Persönlichkeitsrecht
des Menschen, ein Buch über sich selbst zu schreiben, sich mit
seiner eigenen Individualität, mit dem eigenen Schmerz, mit
der eigenen Geschichte auseinander zu setzen« (Ohmer, 2004,
S. 92). In Anlehnung an einen Rechtsstreit in Frankreich zitiert sie
die »kathartische Funktion«, die das
autobiographisch-fiktionale Schreiben für den Autor haben kann.
Der
Germanist Sebastian Wogenstein liest Billers Roman nicht als
Liebesgeschichte, sondern als Reflexion jüdischer
Identitätsfiguration (Wogenstein, 2004, S. 71-96). Er erkennt
eine neue Radikalität in der Art und Weise, wie Biller nach
jüdischer Identität in Deutschland fragt und hebt mit
seiner Lesart die stringente Thematisierung des Lebens zwischen zwei
Kulturen in Billers Werk hervor. Insbesondere in Adams Bemühen
eine gemeinsame Identität mit Esra in der Fremde zu schaffen,
indem er ihr eine jüdische Herkunft zu attestieren versucht,
zeigt sich die starke, schon fast verzweifelte Sehnsucht Adams, die
eigene Heimatlosigkeit durch eine innige Zweisamkeit zu heilen.
Wogenstein steht mit dem Aufweis der Identitätsfrage in der
Reihe der Rezeptionen von Esra nahezu allein. Mit
seiner, wenn auch sehr fokussierten, Deutung bereichert er die
einseitige Konzentration auf den Verstoß gegen das
Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen ungemein und
liefert gleichzeitig ein diskussionswürdiges Argument
für den literarischen Charakter des Werkes.
Schlussbetrachtung
Am
13. Juni 2007 wurde im Fall Esra vom
Bundesverfassungsgericht letztendlich durch Beschluss entschieden.
Dieser wurde aber erst am 12. Oktober 2007 veröffentlicht. Auf
Grund der Schwere der Verletzung des Persönlichkeitsrechts von
Frau Ayse Romey, durch die detaillierte Beschreibung intimer Kontakte
zwischen dem Autor und seiner ehemaligen Freundin sowie der
lebensbedrohlichen Krankheit der Tochter, bleibt die Verbreitung des
Romans Esra weiterhin verboten. Hinsichtlich der
Klägerin zu 2, Frau Birsel Lemke, wurde eine solche Schwere
der Verletzung nicht erkannt. Damit ist in Bezug auf die Mutter von
Frau Ayse Romey das Urteil vom BGH aufgehoben und an diesen
zurückverwiesen worden. Der BGH lehnte einen eigenen
Unterlassungsanspruch der Mutter ab. Dies hat für den
Schadensersatzanspruch im zivilrechtlichen Verfahren des LG
München entscheidende Bedeutung.
Die
Entscheidung des Ersten Senats war ähnlich dem Mephisto-Beschluss
äußerst umstritten. Der Mehrheit von fünf
Verfassungsrichtern stehen drei Stimmen entgegen. Diese abweichenden
Meinungen wurden in zwei Sondervoten dem Beschluss angehangen. Zum
einen wurde das Kriterium der Erkennbarkeit zur Bemessung der Schwere
einer Persönlichkeitsbeeinträchtigung als untauglich
bezeichnet. Zum anderen die mangelnde Berücksichtigung der
narrativen Konstruktion des Romans kritisiert. Der Verfassungsrichter
Hoffmann-Riem macht in seinem Sondervotum auf die
widersprüchliche Argumentation des Beschlusses aufmerksam,
wenn man gem. Art. 5 Abs. 3 GG der Kunstform des Romans generell die
Vermutung des Fiktionalen auch bei Erkennbarkeit eines konkreten
Vorbilds zuspreche, dies dann aber bei Darstellungen aus dem
Sexualbereich nicht mehr gelten lasse. Des Weiteren sei die Begrenzung
des Schutzes künstlerischen Schaffens auf das Fiktionale in
der Kunst zu einseitig, da die künstlerische Verarbeitung von
Wirklichkeit in einem romanhaften Geschehen es nicht notwendigerweise
zur Fiktion werden lasse, wohl aber zu einem Kunstwerk.
Auf
diesen Aspekt wies der Professor für Verfassungsrecht Michael
Stolleis schon bei einer Podiumsdiskussion im Stuttgarter Literaturhaus
am 18. September 2006 hin und merkte an, dass die Trennung der Ebenen
›Fiktion‹ und
›Faktizität‹ von den Richtern nicht
erwartet werden könne. Es gebe kein Patentrezept für
diese Abwägung. Es bedarf verstärkt der
Sachverständigen, aber nicht im Sinne eines
Qualitätsurteils, wie Raue es fordert, sondern in der
expliziten Aufarbeitung der ästhetischen Struktur eines
Werkes. Der Versuch einer Gattungszuordnung sollte der Beurteilung des
ästhetischen Stellenwerts des Werkes nachgehen. Um eine
werkgerechte Gattungszuordnung zu gewährleisten, muss ein
Werkbegriff formuliert werden, der einerseits flexibel auch interaktive
und prozessuale Mischformen als einheitlich fassen kann und
andererseits werkspezifische Interpretationskriterien für
neuartige Kunstformen enthält (Fuchs, 2000, S. 45).
Es
soll daran erinnert werden, dass Auslegung und Gewichtung des
Persönlichkeitsrechts durchaus variabel sind und mit einer
moralischen Wertung einhergehen, die in letzter Konsequenz bei einem
Urteil in den Vordergrund rückt. Biller
äußerte sich einmal in der Wochenzeitung Die
Zeit auf die Frage nach der Moral in der Kunst:
»Moral in der Kunst, in der Literatur heißt [...]
nicht Moralisieren – sie heißt, fähig zu
sein zu einer Art metaphysischer Wut, zu Gegnerschaft, zur Position,
zum Bericht« (Biller, 2000, ohne Seitenzahl). Position
bezogen hat Biller mit seiner Narration; ob das in den Konsequenzen,
die dies nach sich zog, und dem Ausmaß der Reaktionen von ihm
gewollt war, sei dahin gestellt.
In vielen
Aufsätzen und Äußerungen wird immer wieder
betont, dass unter dem von den Gerichten angelegten Maßstab
für Persönlichkeitsrechtsverletzungen Werke der
Literatur wie Goethes Die Leiden des jungen Werther,
Thomas Manns Die Buddenbrooks oder Max Frischs Montauk
geschlossen verboten worden wären. Der Vergleich greift zu
kurz und ist in dieser Form nicht haltbar. Das
Persönlichkeitsrecht in seiner gegenwärtigen
Ausformung ist ein Ergebnis historischer Erfahrungen und
jüngster Entwicklungen. Die Erfahrungen aus den
autoritären und totalitären Staatssystemen
ließen die Stärkung des Individuums
gegenüber dem Staat als einen grundlegenden Gedanken in die
Verfassung der Bundesrepublik Deutschland einfließen.
Heutzutage zeigt sich die Notwendigkeit, den Einzelnen vor den
vielfältigen Möglichkeiten der massenmedialen
Berichterstattung zu schützen. Dem wird mit der
stärkeren Gewichtung des Persönlichkeitsrechts Folge
geleistet.
Ein Kunstwerk ist auch immer aus dem
gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit zu beurteilen.
Literatursoziologische Theorien wie die Systemtheorie von Niklas
Luhmann gehen diesem Ansatz nach. Die geltenden Gesetze und
Moralvorstellungen, aber auch das ›gesellschaftliche
Klima‹ der jeweiligen Zeit müssen
regelmäßig Bestandteil einer fundierten Textanalyse
sein. Der gegenwärtige Gesetzgeber reagiert auf eine
gesellschaftliche Entwicklung, die auf Grund von technischen Neuerungen
– Internet, Fotohandys etc. – verstärkt
das Private in die Öffentlichkeit zerrt. Viele geben
bereitwillig aus exhibitionistischen, in den meisten Fällen
wohl aber aus materiellen Gründen, die Einwilligung zu einer
Veröffentlichung ihrer Privatsphäre. Dies darf aber
nicht dazu führen, dass die schweigende Masse ein Opfer dieser
Entwicklung wird. Ein etablierter Schriftsteller hat durch seinen
Erfolg und die hohe Auflage seiner Werke ein entschieden
größeres Forum als eine Privatperson. Ihm ist ein
Leben in der Öffentlichkeit bekannt, vielleicht auch
erstrebenswert. Aber diese Machtfülle, die er durch die Masse
seiner Leser erlangt, die Lobby des Buchbetriebes, die in der Regel
geschlossen hinter ihm steht, und sein eigener Wille dürfen es
ihm nicht erlauben, eine Person ohne ihre Autorisation in die
Öffentlichkeit zu zerren. Ein fundamentales Freiheitsrecht ist
damit berührt, zurückzuführen auf die
Urzelle des modernen Rechtstaats, Immanuel Kants Begriff der
›Freiheit‹: »Freiheit
(Unabhängigkeit von eines anderen nötigender
Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige,
ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit,
zustehende Recht« (Kant, 1986, S. 45). Daraus folgt, dass der
Gesetzgeber verpflichtet ist, die Freiheit des Einen mit der Freiheit
des Anderen verträglich und ausgeglichen zu gestalten.
Unbefriedigend
bleibt die Frage nach der Rezeptionshaltung des Lesers, die immer
wieder in das Zentrum der Beurteilung gestellt wird. Die von den
Gerichten ergriffenen rezeptionssteuernden Maßnahmen von
Textmodifikationen, Ergänzungen bis Verboten sind immer in
Bezug auf diese letztendlich unbekannt bleibende
Größe zu beurteilen. Ging der
Bundesverfassungsrichter Stein in seinem Urteil von 1971 noch davon
aus, dass eine bildungsbürgerliche Leserschaft
befähigt sei, die Differenz zwischen fiktionalem Werk und
Dokumentation bzw. Biographie zu erkennen, ist dies heutzutage auf
Grund einer zunehmenden Vermischung beider Sphären nicht mehr
in gleichem Maße voraussetzbar.
Die
postmoderne Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben und
die daraus resultierende Frage, wieviel Wirklichkeit ein Roman
verträgt, wird verstärkt von den Gerichten beurteilt
und nicht von Literaturwissenschaftlern und Kritikern. Das in der
Praxis schon übliche Gegenlesen von Manuskripten durch die
Verlagsjustitiare auf die potentielle Verletzung Rechte Dritter birgt
in sich die Gefahr einer ›Vorzensur‹. Die
zunehmende Verrechtlichung und die damit einhergehende Regulierung ist
eine bedenkliche Entwicklung, die schleichend zu einer Unterwanderung
der Kunstfreiheit führen könnte. Besonders dringlich
erscheint eine zunehmende Beteiligung von Literaturwissenschaftlern an
dem Diskurs. Ein Ringen im Einzelfall scheint aus Mangel an generellen
Lösungen und Definitionen, in literaturwissenschaftlicher
sowie juristischer Hinsicht, auch in Zukunft unumgänglich zu
sein.
Es handelt sich bei Esra
sicherlich nicht um ein avantgardistisches Werk –
Realitätsbezüge in der Literatur sind teils immanent
und schon oft gefordert worden – neu ist aber die
Radikalität mit der Biller einen Wirklichkeitsbezug einfordert
und umsetzt. Durch die ›Provokation des Zweifels‹
an der Literatur und durch das Einebnen der Grenze zwischen
Fiktionalität und Faktizität ist Biller an die Grenze
des Gesetzes sowie an ›Die Enden der Kunst‹
gestoßen.
Literatur
BARTMANN,
CHRISTOPH: Partisan des Unglücks. Das Buch
„Esra“: Maxim Biller kokettiert mit dem Wahren. In:
Süddeutsche Zeitung, 13. März 2003, S. 16.
BECKER,
BERNHARD VON: „Mephisto revisited“ – ein
Rundblick zum Schlüsselroman aus aktuellem Anlaß.
In: KUR. Kunst und Urheberrecht, Heft 4, 5. Jahrgang, Juli/August 2003,
S. 81-89.
BECKER, BERNHARD VON: Fiktion und Wirklichkeit. Der
Schlüsselprozess um das Buch »Esra«. Ein
Essay. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006.
BILLER,
MAXIM: Feige das Land, schlapp die Literatur. In: Die Zeit, 13. April
2000, ohne Seitenzahl.
BILLER, MAXIM: Esra. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 2004.
BODROZIC, MARICA: Die
Freiheit macht den Leser. Liebeserklärung für Maxim
Billers »Esra«. In: Süddeutsche Zeitung,
12. April 2003, S. 18.
BUSCH, DAVID-ALEXANDER: Romanverbote
– Zu den Grenzen der Privatzensur. In: AfP. Zeitschrift
für Medien- und Kommunikationsrecht, Heft 3, 35. Jahrgang,
2004, S. 203-211.
DIECKMANN, DOROTHEA:
Schlüssellochroman. Maxim Biller besichtigt das wahre Leben.
In: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), 19.
März 2003, S. 36.
FEINDOR, URSULA: Riskantes
Zerrbild. In: Börsenblatt, Heft 31, 170. Jahrgang, Juli 2003,
S. 20-22.
FUCHS, CHRISTINE: Avantgarde und erweiterter
Kunstbegriff. Eine Aktualisierung des Kunst- und Werkbegriffs im
Verfassungs- und Urheberrecht. Baden-Baden: Nomos 2000.
»GRRRRRÄSSLICH.
Reich-Ranicki gegen Buch-Verbote«. In: Süddeutsche
Zeitung, 20. Oktober 2003, S. 14.
JESSEN, JENS:
Schlüssel ohne Roman. In: Die Zeit, 13. März 2003,
ohne Seitenzahl.
KÄMMERLINGS, RICHARD: Halbe Hemden,
frisch gestärkt. Mit offener Brust dem Stier entgegen: Maxim
Billers neuer Roman »Esra« packt die Liebe bei den
Hörnern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. März
2003, S. 44.
KANT, IMMANUEL: Metaphysik der Sitten. Hrsg.
Bernd Ludwig. Hamburg: Meiner 1986.
LADEUR, KARL-HEINZ/TOBIAS
GOSTOMZYK: Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman? Zu den gerichtlichen
Auseinandersetzungen um die autobiografischen Werke von Maxim Biller,
Alban Nicolai Herbst und Birgit Kempker und der Notwendigkeit einer
Rekonstruktion der Kunstfreiheit. In: ZUM. Zeitschrift für
Urheber- und Medienrecht, Heft 6, 2004, S. 426-435.
LADEUR,
KARL-HEINZ/TOBIAS GOSTOMZYK: Mephisto reloaded – Zu den
Bücherverboten der Jahre 2003/2004 und der Notwendigkeit, die
Kunstfreiheit auf eine Risikobetrachtung umzustellen. In: NJW, Heft 9,
2005, S. 566-569.
LOTTMANN, JOACHIM: Nichts als die Wahrheit.
Ob Goethe, Goetz oder Biller: Literatur ist am besten, wenn sie nah an
der Wirklichkeit ist. Wenn sie aus Liebe entsteht oder aus Wut im
Bauch. Ein Plädoyer für Maxim Billers verbotenen
Roman »Esra«. In: Die Tageszeitung, 5. Juli 2003,
S. 13.
OHMER, ANJA: Fakten und Fiktion. Zur
Authentizitätsdebatte in der deutschen Gegenwartsliteratur.
In: Entwürfe: Zeitschrift für Literatur, Bd. 10, Heft
39, 2004, S. 67-76.
OHMER, ANJA: Literatur vor Gericht: Zensur
in Deutschland. In: Wespennest, Heft 134, März 2004, S. 87-92.
RADISCH,
IRIS: Erotik und Philologie. Die Enttarnung der Anonyma ist
journalistischer Machismo. In: Die Zeit, 1. Oktober 2003, ohne
Seitenzahl.
RAUE, PETER: Die neue Klagelust. Literatur vor
Gericht – Des Dichters Frust? In: Kursbuch, Heft 155,
März 2004, S. 157-164.
ROELLECKE, GERD: Dichter sind
nicht der liebe Gott. Bettgeflüster: Im Gerichtsstreit um
Maxim Billers Roman »Esra« steht die Kunstfreiheit
gegen das Persönlichkeitsrecht. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 14. Juli 2003, S. 13.
WANCKEL, ENDRESS: Der Schutz
der Persönlichkeit bei künstlerischen Werken. In:
NJW. Neue Juristische Wochenschrift, Heft 9, 2006, S. 578-579.
WITTSTOCK,
UWE: Wir müssen draußen bleiben. Maxim Biller
schreibt mit »Esra« einen altmeisterlichen und doch
zeitgenössischen Liebesroman. In: Die Welt, 1. März
2003, ohne Seitenzahl.
WOGENSTEIN, SEBASTIAN: Topographie des
Dazwischen: Vladimir Vertlibs Das besondere Gedächtnis der
Rosa Masur, Maxim Billers Esra und Thomas Meineckes Hellblau. In:
Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Hrsg. Paul Michael
Lützeler und Stephen K. Schindler. Tübingen:
Stauffenberg Verlag 2004, S. 71-96.
»ZENSUR IST
ETWAS ANDERES«. Der Schriftsteller Christoph Hein
über gerichtliche Verbote von Büchern wie die Dieter
Bohlens und Maxim Billers und die Verantwortung des Dichters beim
Schreiben. Interview von Volker Hage. In: Der Spiegel, 43/2003, S. 178.