Dietrich Harth
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Kunst und Alchemie
Der Zeichner Victor Hugo


Es führt zu sehr angenehmen Betrachtungen, wenn man den poetischen Teil der Alchymie, wie wir ihn wohl nennen dürfen, mit freiem Geiste behandelt.
J. W. v. Goethe, Von alten und neuen Alchemisten

Goethe wie Hugo machten gelegentlich Gebrauch von Bruchstücken der Alchemie, die bei den Adepten früherer Zeiten zur Rezeptur des Okkulten zählten. Das Interesse der beiden Schriftsteller an der Ars Magna galt weniger den Ritualen magischer Operationen, als der in alten Bildern und Schriften enthaltenen häretischen Symbolik. Verankert war diese im geozentrischen Weltbild und in einem kosmosophischen Ideenhimmel, dessen Grund eine geheimnisvolle, zu allerlei Deutungen herausfordernde Verschmelzung der Erkenntnis mit der Imagination bildete. Der wahre Alchemist sah sich daher selber gern in der Rolle des Demiurgen, der mehr als nur eine Kunst zu beherrschen wusste, um mit ihrer Hilfe eigenwillige Werke hervorzubringen, in denen – wie flüchtig auch immer – Unsichtbares sichtbar und das Trübe ins Lichte verwandelt werden sollte. Rege Geister vom Schlage Goethes und Hugos konnten sich in diesem Selbstverständnis durchaus wiedererkennen und frei nach eigenem Gutdünken Figuren wie Faust und Claude Frollo schaffen, die – auch wenn sie von einem anderen Zeitgeist beseelt waren – ihre Verwandtschaft mit den antiquarischen Masken nicht verbergen.

Im Zentrum der Alchemie stand die Umwandlung, auch Transmutation genannt, unreiner in reine Substanzen; das passende Bildsymbol war der Destillierkolben. Der Sublimationsprozess verlief indes weniger geradlinig als zyklisch, wiederum dargestellt vom Ouroboros, der echsenähnlichen Schlange, die sich in den Schwanz beißt und ewige Wiederkehr signalisiert. »Ascendit a terra in coelum, iterumque descendit in terram, et recipit vim superiorum et inferiorum« (Steigt von der Erde zum Himmel auf und steigt wieder zur Erde hinab, um die Kraft der Oberen wie der Unteren aufzunehmen.) heißt es sinngemäß im ältesten Grundbuch der Alchemisten, in der Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos. Das »Große Werk«, das der Famulus Wagner in Faust II zitiert, bestand insofern eher aus einer kreiselnden Bewegung, als aus der endlichen Ankunft am ruhenden Pol der Erlösung.

Die okkulte Kunst enthielt einen widerstandsphilosophischen Kern, und zu diesem passte die an Irrsinn grenzende Vieldeutigkeit der von ihr verschlungenen und verdauten Bildsymbole, der Zeichen und Wörter sowie deren verschlüsselte Koppelung mit den Instrumenten und Operationen der von Schule zu Schule abweichenden Praxisrezepte. Und selbst die Praktiken bzw. die magisch induzierten chemischen Reaktionen ließen sich, je nach Nähe und Distanz zum Athanor (auch Athenor) genannten Schmelzofen, als Gleichnisse lesen, deren Semantik zum Beispiel auf die zyklisch vorgestellte Doppelbewegung des jähen Abstürzens und der mühsamen Aufstiegsversuche bis hinan zur letzten ätherischen Stufe verweisen konnte. Goethe prägte dafür die Kurzformel »Stirb und werde!« Hugo hat es im Gedicht Solitudines coeli unter Anleihe bei der klassischen Alchemistensymbolik (Auslöschung, Läuterung, Wesenskette, goldene Leiter, Flamme und Aufstieg) ausführlicher gesagt:

Mourant pour s’épurer, tombant pour s’élever,
Chaîne d’êtres qu’en haut l’échelle d’or réclame,
Vers l’éternel foyer volant de flamme en flamme,
Juste éclos du pervers, bon sorti du mechant;
Montant, montant, montant sans cesse, et le cherchant.

Sterben, um sich zu läutern; stürzen, um aufzusteigen,
Nach oben bedarf die Kette der Wesen der goldnen Leiter,
Von Flamme zu Flamme eilend bis zum ewigen Leuchten,
Direkt aus dem Verderben geboren, dem Elend entronnen;
Auf der Suche nach ihm aufsteigen, aufsteigen, immerzu
aufsteigen.

Die Sprache der Alchemie ist enorm wandelbar und ein Geflecht unabsehbarer Transmutationen, das sich in fast beliebiger Weise in allerlei mystische Sprachspiele einfädeln lässt. Für die ästhetischen Grenzgänger ist ein solcher Ort von großem Reiz, da sich in ihm zwei Sphären durchdringen, die im dualistischen Weltbild einander widerstreiten: Licht und Dunkel. Ähnlich wie in der Gnosis, die – freier als die strengere Kabbala – sich für die buntesten Bildeinfälle offen hielt, ist im alchemistischen Diskurs der Glanz der Erleuchtung gleichsam in die Finsternis opaker Materien eingewickelt. Ihn erfolgreich auszuwickeln, ist eben die Aufgabe des mit dem Feuer und anderen Elementen spielenden Adepten, ein Spiel das in der poetischen Alchymie, wie ich das ästhetisch sublimierte Genre des Goldmachens in Anlehnung an Goethe hinfort nennen möchte, dem Autor auch ohne Explosionsgefahr einen Hauptgewinn einbringen kann.

Heute neigen die Künste, nach dem gewaltsamen Abschied von klassischen Perfektibilitäten, im diffusen Licht ihrer pluralistischen Erscheinungen dazu, im Sinn einer umgekehrten zyklischen Bewegung die Sehnsucht nach Erleuchtung durch Anpassung an das Grau der schmutzigen, giftigen Ausgangsmaterie (plumbum) zu therapieren. Die bleifarbenen Leinwände Gerhard Richters, Beuys' Filzinstallationen und nicht zuletzt die gewaltigen, aus Bleimetall und grauem Acryl geschaffenen Skulpturen und Mythografien Anselm Kiefers gehören zu diesen Erscheinungen eines ästhetischen Zwielichts, die zugleich – so kommentiert es Kiefer – mit der Farbe Grau den Zweifel beschwören. Baudelaire, ein Freund und Kritiker Hugos, überschrieb eines seiner Gedichte aus den Fleurs du Mal »Alchemie des Schmerzes« (Alchemie de la douleur). Eine Formel, die sich hervorragend als Titel für die moderne Inversion der poetischen Alchymie eignet, die bereits Baudelaires Gedicht mit der unter dem Beistand des den Adepten heiligen Schutzpatrons Hermes (mercurius) ins Werk gesetzten Verwandlung des Paradieses in die Hölle vollzieht. Von der Alchemie lässt sich immerhin lernen, dass sich in den Geheimnissen der Kunst oft genug auch eine »promesse de malheur« verbirgt.

Unter Hugos zahlreichen Zeichnungen finden sich mehrere, die den Diskurs der okkulten Wissenschaft aufgreifen und auf sonderbare Weise umdeuten. Ein ungewöhnlich großes (470 x 478 mm), beinahe quadratisches, mit Pinsel, Bleistift, Kreiden, Ruß und weißlicher Gouache bearbeitetes (hier nicht reproduzierbares) Papier aus der Zeit um 1850 wirkt wie das über die alte Alchemie verhängte moderne Menetekel des Untergangs. Das Blatt, dessen malerische Effekte vor allem hell-dunklen Braunlavierungen zu verdanken sind, zeigt einen zerstörten, nach oben und unten hin aufbrechenden Raum, dessen mittlerer Hintergrund von einem monumentalen Kamin beherrscht wird. Die Form des Kamins ist in der unteren Hälfte an die Umrisse des traditionellen Schmelzofens angelehnt und erinnert an manche Darstellungen von Alchemistenküchen aus der Hand niederländischer oder flämischer Maler; um Beispiele zu nennen: Thomas Wijk, David Teniers und Adriaen van Ostade. Doch fehlen auf Hugos Blatt die in die Meditation der Secreta versunkene Figur des Adepten und die genreüblichen Einrichtungsgegenstände, die er – wie unten zitiert – im Roman Notre-Dame de Paris sorgfältig aufgezählt hat. Zu erkennen sind jedoch Inschriften, von denen einige lesbar, andere unlesbar sind. Auf der Abzugshaube des Kamins lässt sich mit einiger Mühe unterhalb der Darstellung einer mondsichelförmig geschnittenen Segelbarke das auf den Kopf gestellte Wort »SURGE« entziffern. In der alchemistischen Bildwelt findet sich neben dem das Quecksilber (mercurius) repräsentierenden Mond manchmal auch die mythische Barke des Theseus; »SURGE« bedeutet »Steige auf« oder »Erhebe dich« und lässt sich als Hinweis auf die Sublimation lesen, als die vom Feuer herbeigeführte ›Vergeistigung‹ der Materie. Am Fuß des Kamins liegt, wie zufällig dorthin geraten, ein abgeschrägtes Steinfragment mit der Inschrift »HIC CLAVIS ALIAS PORTA« / »Hier der Schlüssel, woanders die Tür«.

Auch wenn Hugos außerordentlichen Bild-Erfindungen selten zu trauen ist, hier übt er schlicht und einfach die Kunst des Verrätselns und spielt mit den Erwartungen seiner Bewunderin Juliette Drouet, die, vermutlich ähnlich wie der eingeweihte Adept, das passende Türschloss zum Schlüssel im Bild selber zu finden hoffte. Und selbst eine solche Vermutung mag noch grundlos sein, da der Zeichner seine Versuche selten mit dem Gedanken an fremde Blicke zu Papier gebracht hat. Alles in allem aber scheint das besprochene Blatt die traurigen Reste der Alchemie nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern sie auch – versteht man das umgekehrte »SURGE« wörtlich – auf den Kopf zu stellen.

Hugos Nachlass

Als Victor Hugo im Frühling 1885, wenige Monate nach seinem 83. Geburtstag, stirbt, hinterlässt er nicht nur ein riesiges, zu seinen Lebzeiten von ihm selber veröffentlichtes Werk, sondern auch unzählige Manuskripte und graphische Blätter. Handschriften und Zeichnungen wandern, so verfügt es sein Testament, in die labyrinthischen Archive der Bibliothèque Nationale de Paris (heute: Bibliothèque nationale de France), eine Einrichtung, die der Autor selber häufig nutzte und mit der Hoffnung verband, sie werde eines Tages zur Zentralbibliothek der »Vereinigten Staaten Europas«. Eine eitle Hoffnung, da Nationalbibliotheken im 19. Jahrhundert, wie ihr Name sagt, mit dem Ziel gegründet wurden, den Ruhm des eigenkulturellen Kapitals zu mehren und zu verwalten. Mit einem Wort, in diesen vom Staat gehätschelten Scripturalfriedhöfen sollten die politischen, die geistigen und künstlerischen Errungenschaften Frankreichs zur machtvollen Einheit verschmelzen und der gebildeten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Entsprechend großartig, weihevoll oder auftrumpfend gerieten die Architekturdenkmäler, in die sich diese Ausgeburten kultureller Identitätsträume einnisteten. Die »Universalschrift der Baukunst« – wie Hugo die Architekturen vor der Zeit von Gutenbergs Erfindungen nannte – hatte unter dem Gewicht der Bücher endgültig ihre schlichte Lesbarkeit eingebüßt, um einem Sammelsurium hybrider Formen und Stilrichtungen Raum zu geben.

Hugo machte keinen Unterschied zwischen Bild und Text als er seine Handschriften mitsamt den Zeichnungen einem Büchermagazin anvertraute. Sein Ruhm als Schriftsteller und Republikaner endete zwar nicht an Frankreichs Grenzen, dafür sorgten nicht nur die Übersetzungen seiner Werke in zahlreiche fremde Sprachen, sondern auch seine Anerkennung als Repräsentant demokratischer Freiheiten und internationaler Friedenskampagnen. Wovon zu seinen Lebzeiten jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht einmal seine einheimischen Bewunderer etwas wussten, das war seine heimliche Lust an der Gestaltung bildnerischer Welten, kurz: sein Talent als Zeichner im Umgang mit Bleistift, Pinsel, Kohle, Tusche, Tinten und anderen verwandten Medien. Ein Talent, dem die Nachwelt immerhin die beeindruckende Menge von annähernd 3500 Arbeiten auf Papier verdankt; eine Schätzung, da im Laufe der Jahre immer wieder mal ein neues, bislang unbekanntes Blatt von seiner Hand aufgetaucht und bis heute kein Ende neuer Funde abzusehen ist. Was auch beweist, wie lange es dauerte, bis Hugo als Meister der Zeichenkunst bekannt wurde und, zumindest unter den Connaisseurs, Anerkennung fand. Die Bibliothekare der Bibliothéque Nationale machten übrigens keinen Unterschied zwischen Hugos Handschriften und Zeichnungen: Ihre übereifrigen Hände haben in jedem Fall mindestens einen farbigen Eigentumsstempel irgendwohin auf die Blätter gedrückt und auf diese Weise nicht nur das ästhetische Erscheinungsbild der graphischen Papiere verhunzt, sondern zugleich auch dem Autor Recht gegeben, der selber – wie er in einem Brief an Baudelaire schrieb – seine »Kritzeleien« als unterhaltsamen »Zeitvertreib zwischen zwei Strophen« verstanden hat.

Nicht nur Baudelaire, auch Théophile Gautier war da ganz anderer Meinung. Der eine lobte ihn wegen der romantischen Atmosphäre in seinen Landschaften, der andere hielt ihn schlicht für einen erstklassigen Meister der Bildnerei, der im Schatten seines eigenen literarischen Œuvres stehe. Seine Blätter der Öffentlichkeit zu zeigen, kam Hugo selber nie in den Sinn. Viele verschenkte er, verwahrte aber alles andere – selbst zufällig entstandene Spritzer, Flecken und Kleckse – in jenen Mappen und Alben, die schließlich in den Regalen der Staatsbibliothek verschwanden. Immerhin wurde bereits drei Jahre nach seinem Tod in einer Pariser Ausstellung eine kleine Auswahl seiner Handschriften und Zeichnungen gezeigt. Die verdiente Anerkennung als Vertreter einer mit der Moderne wetteifernden graphischen Kunst verschaffte ihm aber erst das 20. Jahrhundert, nämlich der Surrealismus, allen voran dessen Häuptling Breton, der den Zeichner Hugo wegen dessen Spielereien mit der Alchemie und dem Zufall in die Ahnengalerie der Avantgardebewegung einreihte.

Seinen Weg ins Licht der großen internationalen Ausstellungsbühnen hat Hugos graphischer Nachlass freilich erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gefunden: 1993 Venedig, 1998 New York, 2000 Madrid. Der Bürgermeister von Paris, Jean Tiberi, sprach bei Gelegenheit der Ausstellungseröffnung im Jahr 2002 von der »Entdeckung eines ebenso kraftvollen wie subversiven Bilduniversums« und nannte dessen Schöpfer »un grand pionnier de la modernité«. Dieses Lob ist kurios wegen der Bezeichnung Hugos als »Pionier«, da dieser überhaupt keinen Ehrgeiz als Bahnbrecher für eine neue pikturale Kunstbewegung besaß. Und dennoch trifft die damit einhergehende Anspielung auf technische Geschicklichkeiten nicht völlig daneben, da die ganz privat ausgelebte Experimentierfreude des Zeichners einen außerordentlichen Erfindungsreichtum zu erkennen gibt.

Hugo war kein akademisch ausgebildeter Zeichner, sondern genialer Dilettant. Er bearbeitete seine Zeichengründe, die aus Papiersorten verschiedenster Herkunft und Farbe bestehen konnten, auf gänzlich unorthodoxe Art und Weise mit Pinsel, Feder, Fingern, Schabern, Graphitstiften, Kreiden, mit Tuschen und Tinten, Ruß, Asche und Kohle, gelegentlich auch mit Aquarellfarben und unter Anwendung von Salzen im nassen Auftrag; er applizierte Schablonen und Découpagen, setzte Prägungen, Tupfer und Abklatschtechniken ein; er übte sich in Gouache und in dem, was man sehr viel später Dripping und Action-Painting nannte; kurz, er brachte es im Verschmelzen unterschiedlichster Materien und Kunstgriffe zu einer erstaunlichen Könnerschaft und entwickelte nach und nach einen unverwechselbaren persönlichen Stil. Bestechend sind die klaren Federzeichnungen architektonischer Ortsansichten, die er von Reisen durch Frankreich und andere Länder Europas mitgebracht und nicht selten in seine unterwegs geschriebenen Journale eingefügt hat. Zahlreiche andere Blätter, auf denen monumentale Ruinen oder imaginäre Landschaften zu sehen sind, besitzen eine in Hell-Dunkel-Kontraste verwobene Aura des Unheimlichen; in einer weiteren Gruppe herrscht eine transparente, die Konturen konkreter Dingwelten auflösende Dämmerung; während nicht wenige Blätter gegenstandsferne, an den abstrakten Tachismus gemahnende Konfigurationen enthalten; nicht zu vergessen, die emblematischen und allegorischen Bilder über Tod und Schiffbruch sowie die Karikaturen und illuminierten Buchstabenrätsel.

Alles in allem präsentiert Hugos graphisches Werk eine Fülle von Themen, Dingen und Verfahren, als deren Gemeinsames die Freude an der Verwandlung und die Suche nach einer von der mimetischen Wiedergabe des Realen sich abwendenden, der Träumerei zugewandten Erfahrung gelten kann. »Wie die Flamme«, schrieb der 62jährige in einem Shakespeare gewidmeten Essay (1864), »besitzt die Kunst die Kraft, Festes in Flüchtiges umzuwandeln. Wirf giftige, schmutzige, rostige, oxidierte Substanzen, den Grünspan und das Arsen in die Kunst wie in die Flamme, lass das Aufglühende durch das Prisma oder die Poesie sichtbar werden, und du schaust eine glänzende Erscheinung, das Hässliche wird sublim und das Böse schön.«

Ars liberalis

Hier ist sie wieder, die Analogie zwischen Alchemie und Kunst, die sich über die verwandelnde Kraft beider herstellen lässt. Die Transmutation oder Verwandlung ist aber vorwiegend als Transportmittel für anderes zu begreifen. Denn die poetische Alchymie will die Schöpfung wie der Adept in die eigenen Hände nehmen, und sei es nur, um die versteinerte Macht autoritärer Herrschaftsansprüche zu brechen. Eine derart häretische Transmutation mutet Hugo den Lesern seines Romans Notre-Dame de Paris zu. Als dieser während der Julirevolution entstandene Bestseller im Jahr 1831 erschien, löste er binnen kurzer Zeit hektische Aktivitäten um die Restauration des damals unziemlich heruntergekommenen Gotteshauses auf der Ile de la Cité aus.

Hugos Erzähler, der sich bisweilen beinahe gewaltsam dem Autor als Sprachrohr aufdrängt, beginnt das dritte, in die zweite Romanfassung eingefügte Buch mit einem Kapitel, in dem er unter dem Wahlspruch »Tempus edax, homo edacior« (Die Zeit ist gefräßig, gefräßiger der Mensch.) kenntnisreich die Zerstörungen an der alten Kirche beschreibt. Das in ihre Mauern angeblich eingeritzte griechische Wort für VERHÄNGNIS (ANAGKH), das der Autor in der Vorrede erwähnt, gilt in der Tat für das ganze Figuren-Ensemble inklusive Kathedrale. Denn diese ist nicht nur der Schauplatz dramatischer Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang, sondern auch das erhabene, wenn auch geschundene Petrefakt sowohl der mittelalterlichen Ars Magna als auch der poetischen Alchymie zur Zeit der Niederschrift des Romans.

Gewiss, der Romanschreiber war kein Alchemist im althergebrachten Sinn jener Feuerköpfe, die sich beim Goldmachen den Bart versengten. Vielmehr teilte er mit der Geheimlehre in ihrer allegorischen und späten poetischen Gestalt Eigenschaften, die ihn als Gnostiker und Adept einer frei mit ausufernden Bildfantasien spielenden Weltanschauung zeigen. Die Tradition stand einem solchen Zugang durchaus nicht im Wege, denn unter Alchemie verstand schon das späte Mittelalter eine freie Handwerkskunst und verborgene Wissenschaft; mit den Worten der alten Zeit: ars liberalis et scientia occulta. Von Theologie in der Bedeutung einer kosmosophischen Denk- und Deutungsart der Phänomene war sie nicht wirklich geschieden, unterwarf sich aber keiner bestimmten Glaubensrichtung. Im Gegenteil: Sie war, wie das was sie umtrieb, ein hybrides Konkokt esoterischer Überlieferungen aus jenen altägyptischen, griechischen, arabischen, jüdischen und christlichen Quellen, die ihre historische Herkunft unterm Schleier zeit- und ortloser Legenden zu verbergen suchten. Der Religion, wie Hugo irgendwo schrieb, aus religiösen Gründen widerstehen, das hätte wohl jeder antike Gnostiker und allegorisierende Alchemist mit ähnlichen Worten so sagen können.

Von jeher stand die allegorische Alchemie in enger Beziehung mit den häretischen Arcana, mit Kabbala und Hermetismus. Der Adept las vor diesem Hintergrund die großen und kleinen Schöpfungsmythen mit der Brille des Dechiffrierers, der einen fremden Code zu knacken sucht und war darauf aus, sein aus solchen Lektüren destilliertes Wissen an wenige Eingeweihte weiter zu geben. Daher ist auch die okkulte Praxis des wahren Adepten nicht mit der Suche nach neuer Erkenntnis durch Einblicke etwa in die Struktur der Materie zu verwechseln. Seine transmutierende Arbeit ähnelte eher der Magie und jener seltsamen Mnemotechnik, die das Unvordenkliche, mithin das eigentlich nicht zu Erinnernde in Sinn und Gedächtnis behalten und es als glänzendes, nur wenigen zugängliches Gold von der grauen Materie, will sagen: von den auf konventionelle Weise lesbaren semantischen Brosamen des Überlieferten scheiden wollte.

War der Alchemist Entzifferer und Interpret tradierten Geheimwissens, so war er zugleich auch dessen Buchhalter. Es ist daher nicht zu weit hergeholt, in der Alchemie auch eine rituell kontrollierte Schrift- und Schreibkunst zu vermuten, die zumindest in den mittelalterlichen Zeiten vor dem Buchdruck wie selbstverständlich das kontemplative Handwerk der Buchmalerei einschloss. Auch dafür gab es den passenden Gründungsmythos. Denn der Gott der Alchemisten, der zwielichtige Hermes, wurde seit alters mit dem ägyptischen Thot, dem Erfinder der Hieroglyphenschrift, zusammengebracht. Eine vielsagende, die Kunst nicht nur des Schreibens, sondern zugleich auch die der Zeichendeutung (Hermeneutik) einschließende Erfindung.

Die praktischen Gründe für die professionelle Nähe der Alchemie zum Hand-Werk der Schreib- und Malkunst sind durchaus nachvollziehbar, vergegenwärtigt man sich den Bedarf an Tinten und Farben auf Seiten der Schreiber und Illuminatoren. Auch Gold von feinstblättriger Qualität war gefragt, denn das brauchte der Buchmaler für die Illumination etwa der Hintergründe und Fassungen von Initialen und Marginalien. Warum also sollte dessen Herstellung nicht, wie auch die der Farben, Tinten und Tuschen dem eigenen Alchemistenlabor obliegen? Einer, der diesen Nexus der Buch- und Schreibkunst mit den geheimen Künsten der Alchemie auf hervorragende Weise verkörperte, war der Pariser Schreiber und Bauherr Nicolas Flamel, eine historische Gestalt des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts, deren legendärer Avatar noch in den Harry-Potter-Zaubermärchen der J. K. Rowling herumspukt.

Nicolas Flamel

Flamels Name ist Teil eines Gespinsts aus dunklen, kaum aufzuklärenden Andeutungen und Gerüchten. Er ist mithin so recht ein Held jener hermetischen Mythen, die allerlei divinatorische Abenteurer auf den Plan rufen. Der junge Hugo kannte diese Geschichten. Claude Frollo, seine Erfindung des finsteren Erzdiakons und Alchemisten im Roman Notre-Dame de Paris, besucht Flamels Grabmal auf dem Cimetière des Innocents, um die in den Stein eingegrabenen Figuren und Schriftzeichen zu entziffern; er durchstöbere, heißt es an anderer Stelle im Text, auf der Suche nach der Formel für den Lapis philosophorum die Kellergewölbe des Flamelschen Hauses, da auch dort Hieroglyphen und Verse in die Wände eingeritzt seien; und er verspricht einem Kollegen und Hermesdiener, der nach dem Rezept des Goldmachens verlangt, gemeinsam in den Fassaden der von Flamel in Paris gestifteten Spitäler zu lesen. Doch damit nicht genug: 1854, im dritten Jahr seines politischen Exils auf Jersey erschien Hugo und seinen Freunden, glaubt man der im Nachlass erhaltenen Zeichnung, während einer spiritistischen Abendsitzung eine Figur, die den Namenszug Flamel auf die präparierten Papiere schrieb und als Adresse für eine ihr nachtrabende vierfüßige Chimäre den Planeten Merkur angab.

Doch noch einmal zurück ins frühe 15. Jahrhundert, bevor wir weiter in Hugos Nachlässen stöbern! In dem ihm zugeschriebenen Buch mit dem Titel Livre des Figures Hiéroglyphiques, das freilich erst 1612 als Druckschrift in einer von Arnauld de la Chevalerie edierten Textsammlung erschien, stellt sich Flamel – dem wir uns hier zunächst versuchsweise anvertrauen wollen – als Schreiber (escrivain) vor, dem im Traum ein geheimnisvolles Buch erschien, das er eines Tages tatsächlich – so die Fiktion – käuflich erwerben konnte: ein golden eingebundener Codex, dessen Rindenblätter mit rätselhaften Zeichen bedeckt waren und das, von ihm Abrahams Buch genannt, auf sefardische Herkunft hinwies. Das ist eine gelungene, auf Fortsetzung bedachte Invention, denn die Zeichen zu entziffern, begibt sich Flamel bald auf die Suche nach einem jüdischen Schriftgelehrten. Da er in seiner Umgebung keinen Erfolg hat, unternimmt er zu diesem Zweck eine lange Pilgerreise nach dem spanischen Santiago di Compostela, die ihn erst gegen Ende und beinahe beiläufig ans Ziel, die Entzifferung der Hieroglyphen, bringt. Der Traum vom Buch und die Reise stehen, wie könnte es anders sein, für die Initiation des künftigen Adepten in die hermetischen Künste.

Dafür spricht auch die von Flamel gewählte Topografie: Ausgangspunkt der klassischen Wallfahrt nach Santiago war zu dieser Zeit in Paris die Kirche St. Jacques-de-la-Boucherie, unweit des damaligen Cimetière des Innocents gelegen und wenige Gehminuten von Notre-Dame entfernt. An beiden Orten – Cimetière sowie St. Jacques – war der historische Flamel zuhause und unterhielt dort Schreiberwerkstätten, wahrscheinlich auch eine Manuskripthandlung. Alle genannten Adressen waren überdies seit langem eng mit der Geschichte der Alchemie verbunden, was damals zu ihrem Ruf als animistisch belebte Orte nicht wenig beigetragen hat. In Spanien nach Auflösung der Rätsel des abrahamitischen Buches zu suchen, lag als Fiktion für den angehenden Jünger der Hermetik auf der Hand, da sich dort bekanntlich die Wege der arabischen und jüdischen Überlieferungen mystisch-hermetischen Denkens kreuzten.

Zurück von der erfolgreichen Initiationsreise, begann Flamel – traut man seinen Selbstaussagen – mit der Stiftung zahlreicher frommer und karitativer Einrichtungen in Paris. Was nur heißen konnte, davon war die Alchemistengemeinde sofort überzeugt, dass er den Stein der Weisen (Lapis philosophorum) und damit zugleich das Goldmacherrezept mit nach Hause gebracht hatte. Wer will, kann sich in diesem Verdacht durch das Flamel zugeschriebene Livre des Figures Hiéroglyphiques bestärken lassen. Denn in diesem Manuskript beschreibt und interpretiert der Buchkünstler auf hintergründige Weise die Bilder und Inschriften, mit denen er den Bogen eines von ihm im Jahr 1409 am Beinhaus des Cimetière des Innocents errichteten Portals geschmückt haben will. Die Erstausgabe des Livre des Figures von 1612 zeigt sogar in einem Holzschnitt Flamels vermeintliche Installation, und eine so frühe, mit ikonografischen Kommentaren verbundene Wiedergabe mittelalterlicher Kunst sollte sehr bald nach den Neuauflagen des Livre die historischen Spekulationen über den Konnex zwischen Kunst und Alchemie gewaltig anheizen. Bemerkenswert ist Flamels architektonische Konstruktion nicht zuletzt auch wegen ihrer Stellung im Rahmen einer metaphorischen Spiegelfiktion. Denn das Livre des Figures ist ein Reflex des geheimnisvollen Livre d’Abraham, dessen hieroglyphische Rätselschrift es der Form nach in die Bilderschrift auf dem Cimetière des Innocents überträgt und zugleich in eine für den Adepten nachvollziehbare Lesart rückübersetzt. 

Die Farben und ihre verschiedenen symbolischen Valeurs spielen in Flamels Bildbeschreibungen, wie sich das für die Buchmalerei ziemt, eine herausragende Rolle: Rot, allerdings eines der erhabenen Art, ist die Farbe des Lapis philosophorum, des »Pierre philosophale«: Sie ist männlich, da mit der Sonne (sol) verknüpft, ergo heiß und trocken. »Ewiges Lob sei Gott,« heißt es am Ende des Livre des Figures unter Hinweis auf die im Tympanon des Portals dargestellte Figur des Petrus (Pierre!), »der uns in seiner Gnade die schöne, vollkommenste Purpurfarbe gezeigt hat, diese schöne Farbe des wilden Steinmohns, diese feurig funkelnde Farbe aus Tyros, die gegen jede Veränderung und Verfälschung gefeit ist, über die weder der Himmel selbst noch der ihm verbundene Zodiak Macht ausüben können, dessen blendende Strahlkraft dem Menschen etwas Überhimmliches (surceleste) mitzuteilen scheint und ihn, wenn er die Farbe betrachtend erkennt, zugleich in Staunen versetzt, erbeben und erzittern lässt.«

Über mehreren kleinen Kasettenbildern, deren unterste Zone dem betlehemitischen Kindermord – einer kryptischen Blut-Chiffre für die Fixation im alchemistischen Prozess – gewidmet ist, erhebt sich auf einem mit Engeln verzierten Sockel Christus Triumphator am Tag des Jüngsten Gerichts, flankiert von Petrus (Pierre) mit dem Schlüssel und Paulus mit dem blanken (blanc) Schwert, das den Purifikationsprozess versinnbildlicht, zu ihren Füßen die Stifterfiguren und auf beiden Außenseiten knieende Engel. Flamels Kommentare interpretieren das Beschriebene in der Weise einer doppelten, nämlich einer »theologischen« (biblischen) und einer »philosophischen« (alchemistischen) Lektüre. Und es ist diese Technik der zwiefältigen Hermeneutik, die Flamels Hieroglyphenbuch an den Beginn einer unabsehbar wachsenden Reihe ähnlicher ikonografischer und literarischer Versuche rückt, die in den Werken mittelalterlicher Kunst und Architektur nach den Spuren eines binär codierten Zeichengebrauchs fahnden, der – je nach Blickwechsel – eine bekannte Geschichte illustriert oder eine bis dahin unsichtbare Hinterwelt erahnen lässt.

In Hugos Notre-Dame de Paris sind die Spuren solcher Zweideutigkeiten allgegenwärtig. Die Alchemisten, heißt es in dem Kapitel, in dem der Erzähler den Zustand der Kathedrale einst und jetzt vergleicht (III/1), konnten »in den Symbolen des großen Portals einen ordentlichen Abriss ihrer Wissenschaft finden, für die Saint-Jacques-de-la-Boucherie eine komplette Hieroglyphe bot. So sind in Notre-Dame die romanische Abtei, die alchemistische Kirche, die gotische und sächsische Baukunst, der schwere Rundpfeiler, der an Gregor VII. [Hauptakteur im Investiturstreit] erinnert, der hermetische Symbolismus Nicolas Flamels, eines Vorläufers Luthers, die päpstliche Einheitsmacht, das Schisma, Saint-Germain-des-Prés [älteste Pariser Kirche] und Saint-Jacques-de-la-Boucherie gegründet, kombiniert, ja amalgamiert.« Der Erzähler betrachtet hier das alte Bauwerk wie eine historische Bibliothek aus der alchemichen Retorte und befindet sich mit dieser Sicht in bester Gesellschaft. Denn schon im Hochmittelalter konzipierten fromme Schriftgelehrte die Bildwerke der gotischen Gotteshäuser als Verkörperungen einer christlichen Enzyklopädie, in der auch die Symbolik der Ars Magna Unterschlupf finden konnte.

Notre-Dame, die Kathedrale der Alchemie


Die Pariser Kathedrale ist nach Auffassung mancher Neo-Alchemisten nichts anderes als das stumme, für den Eingeweihten indes beredte Buch der hermetischen Künste. Der Mater Dei gewidmet, verweise sie auf jenes unverzichtbare Prinzip der Materia, von dem ausgehend der Aufstieg zur Erleuchtung in der Doppelbedeutung der spirituellen Selbsterkenntnis und der moralischen Perfektibilität gelingen kann.

Dem Autor, der 1922 unter dem Pseudonym Fulcanelli ein Buch über die alchemistischen Geheimnisse der französischen Kathedralen veröffentlichte und Notre-Dame de Paris den bedeutendsten Denkmälern der hermetischen Kunst zurechnete, war Hugos Roman nicht unbekannt. Eine der ersten in Fulcanellis Buch abgebildeten Fotografien zeigt ein in Stein geschnittenes Medaillon aus der Pariser Kathedrale mit einer sitzenden Figur, deren Haltung an vergleichbare Mariendarstellungen erinnert, die vielleicht aber auch den thronenden Christus verkörpert.

Scala philosophorum

In der Rechten hält die Figur demonstrativ zwei Bücher hoch. Der obere dieser Codices ist geöffnet und steht, so Fulcanelli, für die exoterische (biblische), der untere ist geschlossen und steht für die esoterische (hermetische) Lehre. Zwischen den Beinen der Sitzfigur lehnt eine 9-sprossige Leiter, die große Scala philosophorum: Jede Sprosse steht für eine der Wissensprovinzen, die der Jünger des Hermes auf dem Weg zur letzten aller philosophischen Erkenntnisse durcharbeiten muss. Das Bild lässt sich als Allegorie der Alchemie deuten, ein Vorschlag, der wohl Hugos Beifall gefunden hätte. Die große Leiter hat übrigens eine kleinere Schwester, auf die ich weiter unten noch einmal zurückkommen werde. Diese Leiter hat 3 Sprossen, die nach Auffassung bestimmter Schulen die Hauptfächer der Ars Magna repräsentieren: das Studium der Mineralien, der Lebewesen und der Gestirne.

In Hugos Notre-Dame-Roman bezieht sich der Erzähler immer wieder auf den in die inneren und äußeren Wände der Kirche eingeschriebenen Alchemistendiskurs. In einem der Türme hat der finstere Erzdiakon und Alchemist Claude Frollo sein Labor, das der Erzähler mit Rembrandts berühmter, nachträglich als Faust-Darstellung gedeuteter Radierung eines in dunkler Kammer von einer leuchtenden Buchstabenaura überraschten Adepten vergleicht. »Inmitten einer düsteren Zelle«, heißt es in der Parallelbeschreibung von Frollos Alchemistenbude, »steht ein großer Tisch mit Zirkeln und Destillierkolben; von der Decke hängen Tierskelette, eine Himmelskugel rollt über den Boden, da ist ein Wirrwar von ägyptischen Totenamuletten (hypocephales), bauchigen Gläsern, in denen Blattgold flimmert, Totenköpfen auf mit Figuren und Zeichen bedeckten Pergamenten, da türmen sich auf dem Tisch dicke Manuskripte mit rücksichtslos zerfledderten Ecken«. Mit einem Wort: Der Ort ist verkommen, Staub und Spinnweben überall. Zwar sind die Wände des Turmzimmers »wie ein Blatt Papier« über und über mit wirren Auszügen »aus allen Philosophien, Träumereien, Weisheiten« in gotischen, hebräischen, griechischen, lateinischen Schriftzeichen bedeckt. Was der Erzähler jedoch vermisst, das ist die lichtdurchflutete Schriftsphäre in Rembrandts Graphik und die Figur des »ekstatischen Doktors, der diese flammende Vision betrachtet wie der Adler, der in seine Sonne schaut.«

Der Vergleich am Ende des Zitats verrät eine genaue Kenntnis der traditionellen hermetischen Chiffrierung auf Seiten des Erzählers. Das Bild des in »seine« Sonne schauenden Adlers symbolisiert die aus den Abgründen der Materie aufsteigende Vergeistigung in alchemistischer wie spiritueller Bedeutung. Für Claude Frollo aber, den Bewohner des verkommenen Turmzimmers, geht es bergab, denn er hat über der sinnlichen Passion für die tanzende Zigeunerin Esmeralda seine alte Sehnsucht nach spirituellem Aufstieg vergessen. Seine Liebeswut macht ihn nicht nur zum Mörder, er wird am Ende des Romans von seinem eigenen Geschöpf, dem wegen seiner Hässlichkeit gefürchteten und verfluchten Quasimodo, vom Turm in die Tiefe gestoßen.

Die Geschichten, die sich im Roman mit tragikomischer Ausführlichkeit entfalten, bieten dem zweiten Blick eine Art alchemistisches Vexierbild. Dessen Spuren werden unter anderm über die Namensgebung und das Beziehungsgeflecht der Akteure lesbar: Esmeralda ist das spanische Wort für Smaragd, ein Mineral, das nicht nur Jungfräulichkeit symbolisiert, sondern auch auf die Bibel der Alchemisten, die Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos, anspielt. Der königliche Offizier, in den sich Esmeralda prima vista verliebt, hört auf den mythologischen Namen Phoebus, steht also, wie es scheint, für die Sonne, und das hieße im Alchemistenlexikon: für den Stein der Weisen, wäre der Kerl nur nicht so ein eitler und törichter Prahlhans. Ohne es zu wissen, gibt Phoebus, da er Esmeralda, die auch Smeralda gerufen wird, fälschlich Similar nennt, einen Hinweis auf die Zeigeunerin als Trugbild, als Simulacrum. Denn in Wahrheit ist sie, die schuldlos am Galgen endet, ein von Zigeunern entführtes Christenkind, ein – wenn man so will – falscher Smaragd. Der schrecklich missgestalte Quasimodo wiederum, eine Verkörperung der Unreinheit, die ihrerseits Esmeralda, also die reine Jungfräulichkeit, anhimmelt und umsorgt, verdankt seinen Namen paradoxerweise jenem Weißen Sonntag (nach Ostern), der in der Sprache des Kirchenkalenders »Quasimodogeniti (infantes...)« genannt wird und auf jene unschuldigen Kindlein anspielt, die, sterben sie als Waisen, auf dem Cimetière des Innocents just unter Flamels Darstellung des betlehemitischen Kindermassakers ins Beinhaus geworfen werden. Bleibt die vierte Hauptfigur, der zwischen Himmel und Hölle schwebende Erzdiakon Claude Frollo, der als gefallener Engel nicht nur die Intrigen einfädelt, sondern in mörderischer Absicht auch selber Hand anlegt.

Die Konstruktion der von inneren Widersprüchen zerrissenen Romanfiguren findet, wie hier nur beiläufig anzumerken ist, ihre Rechtfertigung in Hugos berühmter, 1827 veröffentlichter Vorrede zu seinem ungefügen Versdrama Cromwell. In diesem programmatischen Text bricht er eine Lanze für das Groteske und versteht darunter eine Verwandlungsqualität der Moderne, die den Künsten die Darstellung von »Zwischenwesen« (êtres intermédiaires) geradezu aufzwingt. Was hier vor allem interessiert, das ist die gewollte Doppelspitze dieser Programmatik. Zum einen ist die Suche nach dem beunruhigenden, ja dem Unruhe stiftenden Dazwischen Teil des von Hugo der – wie er es nannte – »Tyrannei der Systeme« angesagten Kampfes. Zum andern ist die Zwischenstellung die pathetische Signatur eines pessimistischen Daseinsbildes. Denn auf die Frage »Was ist der Mensch?« antwortet das Gedicht (Toute la lyre, 1856-58): »Ein Mittelding zwischen Abgründen.« (qu’est-ce que l’homme? Un entre-deux de l’abîme.) Wir wollen darüber aber das Einfache und Nächtsliegende nicht vergessen: Die Mischungen bieten einen Ausweg aus der stupiden Schwarz-Weiß-Malerei, sie steigern, aufgrund ihrer von Wahnvorstellungen angekränkelten Expressivität, ganz enorm den Unterhaltungswert epischen Erzählens.

In welchem Sinne der Alchemistendiskurs eine Dominante in der Romanwelt von Notre-Dame de Paris bildet, zeigt sich vor allem im 5. Buch. Denn dort überrascht der Erzähler/Autor den Leser mit einem Kapitel Mediengeschichte, in dem es um jene Entwicklung geht, die er in die zweideutige Sentenz »Toute civilisation commence par la théocratie et finit par la démocratie« (Jede Zivilisation beginnt mit der Theokratie und schließt mit der Demokratie.) zusammengedrängt hat. Freies Denken, »in Stein geschrieben« (écrite en pierre), das ist die den feudalistischen Dogmatismus ablösende Errungenschaft der Gotik. »Die Kathedrale, diese einst so dogmatische Architektur,« heißt es an der zitierten Stelle, »gehört von nun an [nach der Romanik] dem Bürgertum, der Gemeinde, der Freiheit; sie entgleitet dem Priester und fällt unter die Herrschaft des Künstlers. Der Künstler gestaltet sie nach seiner Weise: Adieu Mysterium, Mythe, Gesetz – her mit Fantasie und Caprice! [...] Diese Freiheit geht sehr weit. In manchen Fällen präsentiert ein Porträt, eine Fassade, ja eine ganze Kirche eine dem Kultus völlig fremde, wenn nicht sogar kirchenfeindliche Symbolbedeutung. Solche rebellischen ›Seiten‹ hat im 13. Jahrhundert Guillaume de Paris und im 15. Nicolas Flamel ›geschrieben‹. Saint-Jacques-de-la-Boucherie war ganz und gar eine Oppositionskirche.«

Der Bischof Guillaume de Paris war maßgeblich am frühen Umbau der Kathedrale beteiligt, Flamel stand im Ruf eines mäzenatischen Stifters von sakralen und profanen Bauten im alten Paris. Zusammen mit St. Jacques bilden die architektonischen Werke der Genannten ein alchemistisches Dreieck, zumal Guillaume nachgesagt wurde, und der Romanerzähler kommt hin und wieder darauf zu sprechen, er habe seine hermetischen Neigungen in den Portalfiguren von Notre-Dame verschlüsselt. Nicolas Flamel ein Protestant, die spätmittelalterliche Alchemie ein Freiheitsdiskurs, das ist eine verwegene Lesart, die – so scheint es auf den ersten Blick – nicht zu Hugos Bildern einer zerfallenen und bedeutungslos gewordenen hermetischen Kunst zu passen scheint. Aber warum soll bei einem Künstler, der dem More geometrico des cartesianischen Weltbilds die Logik des Traums vorzieht, alles glatt aufgehen? Den Erzalchemisten Flamel, die Ikonografie gotischer Kathedralen und sogar die Bauherren spätmittelalterlicher Architekturen den rebellischen, den Feudalismus attackierenden Kräften zuzurechnen, ist so überraschend nicht. In Hugos nachrevolutionärem Geschichtsbild ist der Aufstieg des mittelalterlichen Stadtbürgertums das sichtbare Zeichen für eine weit in die Zukunft ausgreifende Zeitenwende, deren Höhepunkt die Erfindung des Buchdrucks bildet. Diese Erfindung ist »das größte Geschichtsereignis«, behauptet der Romanerzähler mit ganz ähnlichen Worten wie Condorcet am Ende des 18. Jahrhunderts, »und die Mutter aller Revolutionen«.

25 Jahre nach Erscheinen des Notre-Dame-Romans gestaltete Hugo auf der Kanalinsel Guernsey, der zweiten und längsten Station seines Exils, die Innenräume des von ihm erworbenen Hauteville House im Stil einer neogotischen Fantasmagorie, die auch vor der im Roman erwähnten epigrafischen Grafitto-Manie der alten Alchemisten nicht zurückgeschreckt ist: Lateinische Sentenzen und die Namen der Klassiker sind in Möbel und Holzpaneele eingraviert, und HUGO reimt sich da auch schon mal auf EGO. Charles Hugo nannte das Haus ein »Autograph« seines Vaters. Und tatsächlich gebietet der in Bronze gegossene Name des Autors dem Besucher schon am Eingangsportal des Hausflurs Einhalt. Dieses Portal scheint der Flamelschen Arkade auf dem Cimetière des Innocents und zugleich den Guillaumschen Figurenchiffren der Kathedrale von Notre-Dame verpflichtet. Es ist wie ein auf mehreren Etagen nach oben aufsteigendes Altarretabel mit kleinen Skulpturen verziert, die über einem mittleren Fenster von einem zwischen zwei große Flügel plazierten Kopf (eine grotesk verzerrte Hermes-Anspielung?) beobachtet werden. Unter dem Namen des Autors ist in etwas kleinerer Ausführung »Notre-Dame de Paris« zu lesen, ein Indiz für die bedeutende Stellung, die der Autor-Designer diesem Roman innerhalb seines inzwischen imposant angewachsenen Werks zugestand. Und es ist in meinen Augen auch ein weiterer Beleg für die Faszination der poetischen Alchymie, der Hugo vor allem in seinen bildnerisch-architektonischen Versuchen erlag.

In der Kunstwelt des Schrift- und Bildstellers macht sich ein Geist der Verspieltheit bemerkbar, der, wenn die Situation es verlangt, die theatralische Pose und die verschmitzte Mystifikation nicht verschmäht. Wohl ist der Schlüssel zur Alchemie verloren, umso besser lässt diese sich im willkürlich gewählten historischen Kontext zum Oppositionsdiskurs umdeuten und vor allem als Ausgangspunkt für solche Formspiele nutzen, die es verstehen, sogar noch aus dem Zerfall ästhetisches Vergnügen zu ziehen.

Alchymie, die ästhetische Freiheit


Eine von Hugos bildnerischen Obsessionen ist die Ruine. Das ist nicht überraschend, da die Ruinenromantik seit langem schon zu der in Europa grassierenden Bildungsnostalgie gehörte und bei den revolutionär denkenden Aufklärern zur Chiffre für den Niedergang der alten Imperien wurde. Ein Klassiker dieser Tendenz sind Volneys Méditations sur les  Révolutions des Empires (1791). Ob Hugo diesen Ruinenhymnus kannte, sei dahin gestellt, immerhin deckt sich seine Vorstellung vom großen, in Stein verfassten Buch der alten zerfallenden Baukunst mit Volneys Idee, in den Ruinen wie in den Untergangsannalen des Ancien Régime zu lesen. Es ist Zeit, Hugo hierin zu folgen und einigen seiner Ruinenbilder einen Besuch abzustatten.

In einer auf beigem Papier aufgetragenen Zeichnung, entstanden 1866, im 15. Jahr seines Exils auf den Kanalinseln, setzt der Künstler – so meine Lesart – der 3-sprossigen Scala philosophorum ein dramatisches Zeichen.

Zeichnung Victor Hugo

Das schwarze, wie verkohlt wirkende Ding in der Mitte des Bildes hebt sich von einem bläulich schimmernden, unruhigen Weißgrund ab. Es ist eingekeilt zwischen einer Art quecksilbrig-perlig gestalteter Verfließung linkerhand und einer starren, mit Ruß befleckten rötlichen Felsklippe oder Fassade rechterhand. Der Ort ist unwirtlich-unwirklich und für Besucher eigentlich off limits. Wieder hat Hugo, wie so oft, seinem Werk keinen Namen gegeben, so dass uns die Freiheit bleibt, dieses unheimliche Gebilde entweder unterm Gesichtspunkt der Technik als Experiment mit dem Zufall oder unter ästhetischem Gesichtspunkt als Vorstoß ins Reich der unsichtbaren Traumbilder zu deuten. Der von den Editoren der Ausstellungskataloge stereotyp hinzugefügte Titel »Turm/Tour« ist nichtssagend und sachlich nicht überzeugend. Eher sind hier Mutmaßungen angebracht: Der Zeichner spielt auf diesem Blatt, wie so oft, mit der Initiale H, verdoppelt sie in der Vertikale, so dass zwangsläufig das Bild einer aus schweren Balken gezimmerten Leiter entsteht. Mit Buchstaben bzw. Hieroglyphen bauen, gehört nach dem Kommentar des Erzählers/Autors in Notre-Dame de Paris immerhin zu den urtümlichsten Zivilisationsleistungen: »Man richtete einen Stein auf und er ward ein Buchstabe und jeder Buchstabe eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Ideengruppe wie das Kapitell auf der Säule. [...] Später machte man Wörter. Man türmte Stein auf Stein, fügte die Granitsilben zusammen und das Verb erprobte einige Kombinationen.« Nach dieser Theorie ist nicht Gott, wie in den frühesten Architekturlehren nachzulesen, der eigentliche Archeget der Baukunst, sondern der ›schreibende‹ Homo sapiens. Der Gedanke, die Architektur sei das erste in steinernen Hieroglyphen verfasste und für jedermann zugängliche Menschheitsgedächtnis, hat sich auf zahlreichen Blättern des Zeichners in abgewandelter Form niedergeschlagen. Diese emblematischen Blätter haben die Gestalt von Schrift-Bild-Kompositionen, deren Buchstaben oft in der Art des von William Blake erfundenen Relief Printing mit Schatten unterlegt und, zeigen sie die handschriftliche Geste der Autor-Signatur, meist rotfarbig sind.

Beugt man sich der emblematischen Struktur der Abbildung Nr. 3 und beharrt auf der oben angedeuteten Lesart der mittleren schwarzen Chiffre als Bild eines zerstörten alchemistischen Symbols, so lässt sich die linke Seite der Zeichnung mit Quecksilber (mercurius) assoziieren, die rechte aber mit der (im Schmelzofen) glühenden Materie oder gar mit dem rötlich schimmernden Lapis philosophorum – passende Kontexte für die Scala philosophorum. Dennoch, wie man es auch dreht und wendet, die Darstellung – wenn sie überhaupt eine ist – lässt sich nicht ohne Übertreibungen als eine Konfiguration aus der Realwelt festlegen.

Bleibt als Ausweg also nur das Urteil über den Experimentalcharakter des Blattes. Es scheint – man ist ohne Evidenzen gezwungen, vorsichtig zu formulieren – es scheint, dass Hugo auf diesem Papier mit einer wahrhaft alchemistischen Mixtur aus Fettstiften, Tintenlavierungen, weißen Gouachehöhungen, Aquarellfarben, Ruß, Schablonen und vielleicht auch mit Salz gewerkelt hat. Die einzelnen Schritte des Herstellungsverfahrens sind kaum zu erraten. Das ist ein bemerkenswertes Faktum, da es den Schluss nahe legt, der Zeichner habe sich, ohne vorgefasstes Konzept, einem aleatorisch ablaufenden Prozess überlassen. Einem solchen Versuch den Namen bzw. Titel verweigern, empfinde ich wie eine Offenbarung. Denn selbst ein so wohlfeiles Dingwort wie »Turm« reduziert die freiheitlichen Möglichkeiten von Schöpfer und Betrachter, weil sie den Blick zur Suche nach einer festgefügten Bedeutungsordnung verdammt. Vergessen wir diese alberne Fixierung aufs Konventionelle, so bleibt alles offen. Und es wird klar, der Zeichner hat sich, wie verspielte Kinder das tun, seinen Einfällen und manchen Zufällen überlassen, nicht um, so darf man mutmaßen, die ihn umgebende Welt zu exemplifizieren, sondern um – sich selber überraschend – Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Buchstaben und schriftähnliche Figuren oder Chiffren, manchmal auch Textfragmente vergegenwärtigen auf vielen Blättern diesen Gedanken und geben dem Schriftsteller Recht, der nach eigenen Worten in seinen Zeichnungen »vor allem das [wiederzugeben sucht], was ich im Kopf habe«. Ihn deshalb als Entdecker der Abstraktion zu feiern, erscheint mir gewagt.

Allein, eine der Spuren, die er selber gelegt hat, führt wieder, wie so oft, in paradoxe Verhältnisse. So schrieb er in hohem Alter, quasi als betagtes Kind sich der schulischen Sudeleien (griffonages) erinnernd, in einem Gedicht mit dem Titel L’Art d’être grand-père (1877):

Improviser
dans un livre, partout, en haut, en bas, des fresques,
comme on en voit aux murs des Alhambras moresques,
des taches d’encre, ayant des aspects d’animaux,
qui dévorent la phrase et qui rongent les mots,
et le texte mangé, viennent mordre les marges. [...]

Überall in einem Buch, oben und unten,
aus dem Stegreif Fresken anbringen,
wie man sie auf den Mauern maurischer
Alhambras sieht, Tintenkleckse tierischen
Aussehens, die den Satz zerfleischen und
die Wörter benagen, und ist der Text gefressen,
werden die Ränder zerbissen. [...]

In diesen Versen sind viele der Motive versteckt, die den Zeichner bewogen haben, mit einer geradezu wilden Attitüde während der Arbeit alles Schulgerechte über den Haufen zu werfen: das Spielerische und Aufmüpfige, die kindliche Freude an der Ordnungsübertretung und an der Geheimsprache der Zeichen, nicht zuletzt die Erwartung, dass sich in den zufällig übers Papier verteilten Flecken, Klecksen, Striemen und Linien etwas zeigt, das bisher unsichtbar blieb – eine Schöpfung wider Willen. Vielsagend ist auch der Sprung von der maurischen Arabeske zum textfressenden Tintenfleck. Denn die Arabeske ist ornamentale Schrift, also ein das Zeichen- und Bedeutungshafte verschleierndes, nicht zerstörendes Dekor, und zudem überführt die arabeske Kalligraphie das Funktionale der Schrift in einen theologisch geordneten Garten schöner Formen. Hugos komplexe Zeichenwelt präsentiert das Gegenteil: Sie verschmäht das Ornamentale zugunsten jener widersprüchlichen Formen, in denen die Spannungen des Intermediären herrschen. Und das sind Formen, die – erstaunlich für einen homme de lettre(s) – Gefallen auch am Ruin der Buchstabenschrift finden.

Ähnliche, wenn auch anders gestaltete Spannungen zeigen zwei zeitlich und formal benachbarte Ruinen-Stilleben vom Ende der 1840er Jahre. Das Blatt mit der Inschrift »Hic clavis alias porta« habe ich oben bereits vorgestellt. Auch die zweite mit Hilfe verschiedener Medien (schwarze und braune Tintenlavierungen, Graphitstift, Reißkohle) und Techniken (Aussparungen, Gouache, Abrieb) realisierte Zeichnung

Zeichnung Victor Hugo

enthält eine lateinische Inschrift. In der linken unteren Ecke ist zu lesen: »Non liber monet, non gladius servat« / Nicht mahnt das Buch, noch schützt das Schwert. Im Gegensatz zur ersten Darstellung, die den Blick in einen düsteren, perspektivlosen, von zerstörten Mauern begrenzten Raum lenkt, geht hier die Blickrichtung von Innen nach Außen. Allerdings ist die dargestellte Welt alles andere als romantisch und ruft bei uns, den Augenzeugen zerbombter Städte, vergleichbare Bilder vors innere Auge. Auf dem Blatt besteht ein merkwürdiger Kontrast zwischen der zwar falschen, aber doch sorgfältig elaborierten Geometrie des offenen Dachgestühls im oberen Teil und den gestaffelten, aber zerstörten und in Abgründe führenden Gebäuderesten im unteren Teil des Bildes. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird vor allem von den beiden, durch ihre prominente Position (in der Mitte) aufeinander bezogenen Objekte gefesselt.

Da ist zum einen die, wie es scheint, auf ein Säulenkapitel aufgesockelte gesichtslose Skulptur mit dem Schwert in der Rechten und dem aufgeschlagenen Buch in der Linken. Wortwörtlich genommen, eine Bildsäule, die den in der alten Sakralkunst vielfach vertretenen ikonographischen Darstellungstypus des Apostels Paulus aufgreift. Flamel hatte die Haltung der Paulusfigur in seinem Arkadenbild auf dem Cimetière des Innocents nur leicht abgewandelt, um die Figur in eine alchemistische Hieroglyphe umdeuten zu können. Hugo hingegen gestaltet die Figur in der Art einer kostümierten Gliederpuppe (mannequin). Selbst wenn in dem Bild Hugos freie, selbstkritische Religiosität verschlüsselt sein sollte, wofür die Nähe des Paulus wie des Flamel zum Lutherschen Protestantismus ein Zeichen sein könnte, so widerspricht dem doch im Grunde dieses bemerkenswert anschauliche Ensemble aus Zerstörung und physiognomischer Negation.

Im Genie-Kapitel seines viele Jahre nach der Zeichnung entstandenen Shakespeare-Essays (1864) zählt der Autor den Apostel zu jenen »hommes de progrès«, die sich tapfer für die Idee der Freiheit geschlagen haben. Hugo schrieb den Essay im Exil, und es macht – wie bei manchen Interpreten geschehen – keinen Sinn, diesen Text zur Deutung der Zeichnung heranzuziehen. Aufschlussreicher ist das hochragende Objekt im hinteren Zentrum der Zeichnung, das wahrscheinlich die aus der Distanz unscharf wahrgenommene pariser Tour Saint Jacques (de la Boucherie) andeuten soll. Immerhin hatte Hugo in der Zeit vor der Verbannung nicht nur diesen pittoresken Turm, sondern auch andere pariser Stadtbilder in der ihm eigenen imaginativen Manier aufs Papier gebannt. Galt ihm St. Jacques-de-la-Boucherie um 1830 noch als »Oppositionskirche«, so wirkt das verwaschene Bild ihres Turms inmitten von Ruinen nach der gescheiterten Februarrevolution von 1848 wie ein Zeitkommentar. Tatsächlich hat sich Hugo Ende der 1840er Jahre mit großer Energie in zahlreichen öffentlichen Auftritten für die Rechte der Verelendeten, für die Pressefreiheit und gegen die Todesstrafe ausgesprochen. Das Bild scheint eher das Scheitern solcher Bemühungen zu illustrieren, zumal sein epigraphischer Kommentar »Nicht warnt das Buch, noch schützt das Schwert« die wohltuenden Wirkungen sowohl der geistigen als auch der politischen Ordnungsmächte verneint.

Eine andere, weniger zeitgebundene, aber deshalb durchaus nicht abgelegenere Bilddeutung lässt sich wieder mit Hilfe des poetisch-alchymistischen Schlüssels herbei zaubern. Der Name Flamel ist ja bereits gefallen, und St. Jacques gehört nun mal zu den verwunschenen Orten der priesterlichen Ars Magna. Hält man das vorliegende neben das »Hic clavis alias porta« beschriftete Bild und folgt der oben vorgeschlagenen Deutung, so bilden beide zusammen ein Dyptichon, dessen verschiedene Darstellungen einander wechselseitig kommentieren: hier ein zerstörter Außen-, dort ein ruinierter Innenraum, beide nach unten haltlos offen, die körperlichen Formen verrätselt, mit lateinischen Bildinschriften wie Grafitti alter Zeiten, negative Semantik. Es ist, so gesehen, wieder ein freies Spiel mit den Requisiten der Ars Magna, die hier im Dyptichon eine pittoreske Bühnenkulisse bilden. Die Geheimnistuerei mit den Inschriften macht das Spiel zum Vexierspiel. Und zu allem Überfluss hat Hugo 10 Jahre später auf die rechte Leiste des Bilderrahmens der Pauluszeichnung einen ›Ausgang‹ mit der ironischen Überschrift »ULTIM[A] PORT[A]« und irgendwelchen drolligen Figuren gezeichnet. Das verbindet zwar den Rahmen mit dem Athanor-Bild, es hilft aber dem, der nach dem Schlüssel sucht, kein Schrittchen weiter. Nein, es ist doch nützlich, da es den Deutungshungrigen zur Raison bringen, will sagen: in die Rolle des still genießenden Betrachters zurück versetzen kann.

Bilderschriften, Schriftbilder

Die Schriftkunst als Fach der Ars Magna mit der Baukunst zu verbinden, ist – wie bereits gezeigt – eine zwingende Idee, der Hugo auf vielen seiner Zeichnungen gern nachgegeben hat. Es ist ihm oft einerlei, ob der als Schriftbild in die Mitte oder an den Rand der Zeichnung gesetzte Schriftzug – er favorisiert das Lateinische – mit dem Dargestellten etwas zu tun hat. Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe er, wie in Notre-Dame de Paris beschrieben, die (gezeichneten) Wände und Mauern nur als Unterlage für dies oder jenes Grafitto nutzen wollen. Manchmal sind die Buchstaben wie auf dem Dyptichon in der Manier des Relief Printing quasi in Stein geritzt und daher Teil des gezeichneten Gemäuers. Hin und wieder kommt es vor, dass der Zeichner die Buchstaben stark verfremdet, um einen piktografischen Effekt zu erzielen.

Ein schönes Beispiel für das auf diese Weise zwischen Bild und Schrift sich entfaltende alchymistische Interludium zwischen Semantik und Willkür bietet das Blatt mit der Ortsbezeichnung Marine Terrace, datiert auf den 21. Mai 1855, den Vorabend des Namenstages der hl. Julia und der Geliebten Juliette zugedacht.

Bild Hugo Marine Terrace

Beherrscht wird diese trübe Landschaftsvedute mit Haus von einem chimärischen Flugobjekt, das, gemessen an seiner plastischen Beschaffenheit, eigentlich zu schwer ist, um fliegen zu können. Trotzdem nenne ich es einen Drachen und meine damit weniger das leichte, geschickt im Wind gehaltene Spielgerät, als vielmehr das geflügelte Echsentier der Fabelwelt. Natürlich zeigt das hier sichtbare Gebilde keine wortwörtliche Drachendarstellung, aber die hybride – halb animalische, halb vegetabilische – Form lässt immerhin die Spuren eines geschuppten, mit Klauen, Zacken und Schwanz bewaffneten Monstrums erkennen. Der geflügelte Drache mit der geschuppten Haut des in Erdhöhlen hausenden Reptils ist eines der ältesten hermetischen Symbole, dessen vielgliedrige Formen in einer Gestalt die Reisen des alchemistischen Dämons zwischen den Elementen der Luft und der Erde verkörpern.

Der Zeichner hat dieses Symbol in eine Chiffre verwandelt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Zier-Initialen der im alten Stil illuminierten Manuskripte nicht verleugnen kann. Die Chiffre umschließt insgesamt 4 ineinander verschlungene Buchstaben: »VH«  für Victor Hugo und »JD«  für Juliette Drouet, das Monogramm des Meisters in roter, das der Geliebten in grüner Farbe. Wieder gibt die poetische Alchymie Aufschluss: Denn die gelungene Fusion gegensätzlicher Substanzen wird in der Ikonologie der Ars Magna als Vereinigung des weiblichen mit dem männlichen Geschlecht dargestellt. Rot versinnbildlicht in dieser Konjunktion das Trockene und Heiße der männlichen, Grün das Feuchte und Kalte der weiblichen Sphäre. Der symbolvermittelte Ausdruck ist eins mit den Formen des Denkens, die sich wandelnde, weil häutende Schlange »seit Adam« – so Hugo – das Symbol der dynamischen, ordnungssprengenden Intelligenz. Es ist daher sehr schmeichelhaft für Juliette, dass Hugo ihr in der Drachenchiffre einen dicken geringelten Schlangenkörper angehängt hat.

Entstanden ist die Zeichnung im 4. Exiljahr auf Jersey, Marine Terrace der Name des von Hugo und den Seinen bewohnten Hauses. Dessen Abbild unten rechts hat zum Modell ein Foto, das Charles Hugo wenige Jahre vor dem Entstehen der Zeichnung aufgenommen hat; wahrscheinlich hat der Zeichner, um die weißliche Aussparung auf seinem Blatt zu erreichen, danach eine Schablone zugeschnitten. Hugo selbst war ein eifriger Befürworter der neuen Kunst, mit Hilfe der technisch verbesserten Camera obscura und anschließenden Iodin- bzw. Quecksilberanwendungen geheimnisvolle Bilder aus dem Nichts hervortreten zu lassen. Er selbst hat nicht mit der Kamera hantiert, aber auf Jersey zusammen mit seinen Söhnen und Freunden ein gediegenes Fotoatelier eingerichtet, aus dem eine große Zahl von Porträtaufnahmen des Dichters in der Pose des auf den Fels Verbannten – ein anderer Prometheus – hervorgegangen ist. In diesem Zusammenhang von der Verwandtschaft der frühen Fotografie mit der Alchemie zu sprechen, ist im übrigen keine Fantasterei. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts war das eine selbst bei den positivistischen Beobachtern dieser neuen Bildertechnik verbreitete Auffassung. Eugène Durieu, Mitbegründer der Société française de la Photographie, verglich in seiner Inauguraladresse von 1855 ganz offen den Fotografen mit dem Alchemisten und begründete das unter anderm mit dem von beiden verfolgten Zweck, Unsichtbares sichtbar zu machen und überhaupt den Geheimnissen der Natur auf den Grund zu gehen.

Epilog

Hugos Sympathie für die poetische Alchymie hat sein Interesse für die technischen Seiten der Bildwahrnehmung und -produktion eher bestärkt als behindert. Es ist hier nicht der Ort, seine Beschäftigung mit der physikalischen Optik, mit den Geheimnissen der Astronomie und mit den Verfahren der fotografischen Bildentwicklung näher zu beschreiben. All diesen Aktivitäten gemeinsam ist die Suche nach Erweiterung der Wahrnehmungs- und damit zugleich der Ausdrucksmöglichkeiten jenseits dessen, was dem gewöhnlichen Bewusstsein behagt.

Für Hugo war das Zeichnen auf Papier keine Kompensation der literarischen Produktion, eher eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Was sich wiederum nicht ohne Hinweis auf einen eklatanten inneren Widerspruch behaupten lässt. Denn insbesondere zeigen die zahlreichen gegenstandsfernen Blätter aus seinem Nachlass, dass er mit dem Begriff der »Träumerei« (rêverie) – ein Schlüsselwort seiner Poetik – auch einen Zugang zur gestaltlosen Nacht des Unbewussten verband. Das zu erklären, dazu bedarf es nicht der von Carl Gustav Jung erdachten psychologistischen Ziselierung alchemistischer Symbole. Für Hugo war die Arbeit am Zeichentisch zum einen therapeutisch, nämlich eine Möglichkeit, ohne formale und soziale Zwänge tief in den Brunnen der Imagination hinab zu steigen – auch »eine vergnügliche Art, sich zwischen zwei Strophen die Zeit zu vertreiben«, schrieb er an Baudelaire. Zum andern kam diese Freiheit mit der Lizenz überein, ungestraft gegen geltende Regeln der Bilderfindung verstoßen und eingeschliffene Darstellungskonventionen überwinden zu können. Es sind insbesondere seine experimentellen, vom Zufallsprinzip gesteuerten Zeichnungen, die ihm im 20. Jahrhundert den Weg in die Ahnengalerie der avantgardistischen Moderne geebnet haben. Merkwürdig, dass dabei die Anregungen der Ars Magna übersehen wurden.

Literatur

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CHOMARD, FRANÇOISE UND DIETRICH HARTH: Tintenauge und Schattenmund. Victor Hugos Zeichnungen. Ostfildern 2008.
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»du chaos dans le pinceau...« – Victor Hugo, Dessins. Ausst.-Kat. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid; Maison de Victor Hugo, Paris, hg. v. Jean-Jacques Lebel und Marie-Laure Prévost. Paris 2000.
DURIEU, EUGENE: Procès-verbal de la séance du 25 janvier 1855. In: Bulletin de la Société française de la photographie. Januar 1855.
FULCANELLI: Il mistero delle Cattedrali e l’interpretazione esoterica dei simboli ermetici della Grande Opera. Rom 31972.
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GAGNON, CLAUDE: Description du Livre des Figures Hiéroglyphiques attribué à Nicolas Flamel, suvie d’une réimpression de l’édition originale et d’une reproduction des sept talismans du Livre d’Abraham, auquels on a joint le Testament authentique dudit Flamel. Montréal 1977.
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HUGO, VICTOR: Notre-Dame de Paris. In: Œuvres, Tome Premier. Brüssel 1842, 293-502.
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HUGO, VICTOR: Der Glöckner von Notre-Dame, übers. v. Else von Schorn. Frankfurt a.M. 2001.
KAISER, LEANDER UND MICHAEL LEY (HG.): Von der Romantik zur ästhetischen Religion. München 2004.
ANSELM KIEFER im Gespräch mit Thomas Macho über »Kunst und Gnosis«. In: Kaiser/Ley 2004, 223-236.
KUSPIT, DONALD: The Spirit of Gray. (http://www.artnet.com/magazine/FEATURES/kuspit/kuspit12-19-02.asp)
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LÜDEKE, ROGER: Politische Institution und ästhetische Souveränität. Zu Schrift und Bild in William Blakes Book of Urizen. In: M. Schmitz-Emans (Hg.): Visual Culture (Hermeia, Bd. 10). Heidelberg 2008, 285-297.
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VAN LENNEP, JACQUES: Art et alchimie: Étude de l’iconographie hermétique et de ses influences. Brüssel 1971.
VICTOR HUGO – l’homme océan, Ausst.-Kat. Bibliothèque nationale de France, hg.v. M.-L. Prévost. Paris 2002.
VICTOR HUGO pittore, Ausst.-Kat. Galleria d’Arte Moderna Ca’ Pesaro. Venedig 1993.
Wamberg, Jacob (Hg.): Art & Alchemy. Kopenhagen 2006.

Abbildungsnachweise
Abb. 1: Tafel Nr. 2, in Fulcanelli 1972
Abb. 2: Nr. 182, in »du chaos dan le pinceau...« 2000
Abb. 3: Nr. 76, in Chomard/Harth 2008
Abb. 4: Nr. 102, in Chomard/Harth 2008

© Alle im Text zitierten Übersetzungen französischer Quellen sind Eigentum des Verfassers, D. H.