Es
führt zu sehr angenehmen Betrachtungen, wenn man den
poetischen Teil der Alchymie, wie wir ihn wohl nennen dürfen,
mit freiem Geiste behandelt.
J. W. v.
Goethe, Von alten und
neuen Alchemisten
Goethe wie Hugo machten
gelegentlich Gebrauch von Bruchstücken der Alchemie, die bei
den Adepten früherer Zeiten zur Rezeptur des Okkulten
zählten. Das Interesse der beiden Schriftsteller an der Ars
Magna galt weniger den Ritualen magischer Operationen, als der in alten
Bildern und Schriften enthaltenen häretischen Symbolik.
Verankert war diese im geozentrischen Weltbild und in einem
kosmosophischen Ideenhimmel, dessen Grund eine geheimnisvolle, zu
allerlei Deutungen herausfordernde Verschmelzung der Erkenntnis mit der
Imagination bildete. Der wahre Alchemist sah sich daher selber gern in
der Rolle des Demiurgen, der mehr als nur eine Kunst zu beherrschen
wusste, um mit ihrer Hilfe eigenwillige Werke hervorzubringen, in denen
– wie flüchtig auch immer – Unsichtbares
sichtbar und das Trübe ins Lichte verwandelt werden sollte.
Rege Geister vom Schlage Goethes und Hugos konnten sich in diesem
Selbstverständnis durchaus wiedererkennen und frei nach
eigenem Gutdünken Figuren wie Faust und Claude Frollo
schaffen, die – auch wenn sie von einem anderen Zeitgeist
beseelt waren – ihre Verwandtschaft mit den antiquarischen
Masken nicht verbergen.
Im Zentrum der Alchemie
stand die Umwandlung, auch Transmutation genannt, unreiner in reine
Substanzen; das passende Bildsymbol war der Destillierkolben. Der
Sublimationsprozess verlief indes weniger geradlinig als zyklisch,
wiederum dargestellt vom Ouroboros, der echsenähnlichen
Schlange, die sich in den Schwanz beißt und ewige Wiederkehr
signalisiert. »Ascendit a terra in coelum, iterumque
descendit in terram, et recipit vim superiorum et inferiorum«
(Steigt von der Erde zum Himmel auf und steigt wieder zur Erde hinab,
um die Kraft der Oberen wie der Unteren aufzunehmen.) heißt
es sinngemäß im ältesten Grundbuch der
Alchemisten, in der
Tabula Smaragdina
des Hermes Trismegistos. Das »Große
Werk«, das der Famulus Wagner in
Faust II
zitiert, bestand insofern eher aus einer kreiselnden Bewegung, als aus
der endlichen Ankunft am ruhenden Pol der Erlösung.
Die
okkulte Kunst enthielt einen widerstandsphilosophischen Kern, und zu
diesem passte die an Irrsinn grenzende Vieldeutigkeit der von ihr
verschlungenen und verdauten Bildsymbole, der Zeichen und
Wörter sowie deren verschlüsselte Koppelung mit den
Instrumenten und Operationen der von Schule zu Schule abweichenden
Praxisrezepte. Und selbst die Praktiken bzw. die magisch induzierten
chemischen Reaktionen ließen sich, je nach Nähe und
Distanz zum Athanor (auch Athenor) genannten Schmelzofen, als
Gleichnisse lesen, deren Semantik zum Beispiel auf die zyklisch
vorgestellte Doppelbewegung des jähen Abstürzens und
der mühsamen Aufstiegsversuche bis hinan zur letzten
ätherischen Stufe verweisen konnte. Goethe prägte
dafür die Kurzformel »Stirb und werde!«
Hugo hat es im Gedicht
Solitudines coeli
unter Anleihe bei der klassischen Alchemistensymbolik
(Auslöschung, Läuterung, Wesenskette, goldene Leiter,
Flamme und Aufstieg) ausführlicher gesagt:
Mourant
pour s’épurer, tombant pour
s’élever,
Chaîne
d’êtres qu’en haut
l’échelle d’or réclame,
Vers
l’éternel foyer volant de flamme en flamme,
Juste
éclos du pervers, bon sorti du mechant;
Montant,
montant, montant sans cesse, et le cherchant.
Sterben,
um sich zu läutern; stürzen, um aufzusteigen,
Nach
oben bedarf die Kette der Wesen der goldnen Leiter,
Von Flamme
zu Flamme eilend bis zum ewigen Leuchten,
Direkt aus dem
Verderben geboren, dem Elend entronnen;
Auf der Suche nach ihm
aufsteigen, aufsteigen, immerzu
aufsteigen.
Die
Sprache der Alchemie ist enorm wandelbar und ein Geflecht unabsehbarer
Transmutationen, das sich in fast beliebiger Weise in allerlei
mystische Sprachspiele einfädeln lässt. Für
die ästhetischen Grenzgänger ist ein solcher Ort von
großem Reiz, da sich in ihm zwei Sphären
durchdringen, die im dualistischen Weltbild einander widerstreiten:
Licht und Dunkel. Ähnlich wie in der Gnosis, die –
freier als die strengere Kabbala – sich für die
buntesten Bildeinfälle offen hielt, ist im alchemistischen
Diskurs der Glanz der Erleuchtung gleichsam in die Finsternis opaker
Materien eingewickelt. Ihn erfolgreich auszuwickeln, ist eben die
Aufgabe des mit dem Feuer und anderen Elementen spielenden Adepten, ein
Spiel das in der
poetischen Alchymie, wie ich das
ästhetisch sublimierte Genre des Goldmachens in Anlehnung an
Goethe hinfort nennen möchte, dem Autor auch ohne
Explosionsgefahr einen Hauptgewinn einbringen kann.
Heute
neigen die Künste, nach dem gewaltsamen Abschied von
klassischen Perfektibilitäten, im diffusen Licht ihrer
pluralistischen Erscheinungen dazu, im Sinn einer umgekehrten
zyklischen Bewegung die Sehnsucht nach Erleuchtung durch Anpassung an
das Grau der schmutzigen, giftigen Ausgangsmaterie
(plumbum)
zu therapieren. Die bleifarbenen Leinwände Gerhard Richters,
Beuys' Filzinstallationen und nicht zuletzt die gewaltigen, aus
Bleimetall und grauem Acryl geschaffenen Skulpturen und Mythografien
Anselm Kiefers gehören zu diesen Erscheinungen eines
ästhetischen Zwielichts, die zugleich – so
kommentiert es Kiefer – mit der Farbe Grau den Zweifel
beschwören. Baudelaire, ein Freund und Kritiker Hugos,
überschrieb eines seiner Gedichte aus den
Fleurs du
Mal »Alchemie des Schmerzes« (Alchemie de
la douleur). Eine Formel, die sich hervorragend als Titel für
die moderne Inversion der poetischen Alchymie eignet, die bereits
Baudelaires Gedicht mit der unter dem Beistand des den Adepten heiligen
Schutzpatrons Hermes (mercurius) ins Werk gesetzten Verwandlung des
Paradieses in die Hölle vollzieht. Von der Alchemie
lässt sich immerhin lernen, dass sich in den Geheimnissen der
Kunst oft genug auch eine »promesse de malheur«
verbirgt.
Unter Hugos zahlreichen Zeichnungen
finden sich mehrere, die den Diskurs der okkulten Wissenschaft
aufgreifen und auf sonderbare Weise umdeuten. Ein ungewöhnlich
großes (470 x 478 mm), beinahe quadratisches, mit Pinsel,
Bleistift, Kreiden, Ruß und weißlicher Gouache
bearbeitetes (hier nicht reproduzierbares) Papier aus der Zeit um 1850
wirkt wie das über die alte Alchemie verhängte
moderne Menetekel des Untergangs. Das Blatt, dessen malerische Effekte
vor allem hell-dunklen Braunlavierungen zu verdanken sind, zeigt einen
zerstörten, nach oben und unten hin aufbrechenden Raum, dessen
mittlerer Hintergrund von einem monumentalen Kamin beherrscht wird. Die
Form des Kamins ist in der unteren Hälfte an die Umrisse des
traditionellen Schmelzofens angelehnt und erinnert an manche
Darstellungen von Alchemistenküchen aus der Hand
niederländischer oder flämischer Maler; um Beispiele
zu nennen: Thomas Wijk, David Teniers und Adriaen van Ostade. Doch
fehlen auf Hugos Blatt die in die Meditation der Secreta versunkene
Figur des Adepten und die genreüblichen
Einrichtungsgegenstände, die er – wie unten zitiert
– im Roman
Notre-Dame de Paris
sorgfältig aufgezählt hat. Zu erkennen sind jedoch
Inschriften, von denen einige lesbar, andere unlesbar sind. Auf der
Abzugshaube des Kamins lässt sich mit einiger Mühe
unterhalb der Darstellung einer mondsichelförmig geschnittenen
Segelbarke das auf den Kopf gestellte Wort »SURGE«
entziffern. In der alchemistischen Bildwelt findet sich neben dem das
Quecksilber (mercurius) repräsentierenden Mond manchmal auch
die mythische Barke des Theseus; »SURGE« bedeutet
»Steige auf« oder »Erhebe dich«
und lässt sich als Hinweis auf die Sublimation lesen, als die
vom Feuer herbeigeführte ›Vergeistigung‹
der Materie. Am Fuß des Kamins liegt, wie zufällig
dorthin geraten, ein abgeschrägtes Steinfragment mit der
Inschrift »HIC CLAVIS ALIAS PORTA« /
»Hier der Schlüssel, woanders die
Tür«.
Auch wenn Hugos
außerordentlichen Bild-Erfindungen selten zu trauen ist, hier
übt er schlicht und einfach die Kunst des Verrätselns
und spielt mit den Erwartungen seiner Bewunderin Juliette Drouet, die,
vermutlich ähnlich wie der eingeweihte Adept, das passende
Türschloss zum Schlüssel im Bild selber zu finden
hoffte. Und selbst eine solche Vermutung mag noch grundlos sein, da der
Zeichner seine Versuche selten mit dem Gedanken an fremde Blicke zu
Papier gebracht hat. Alles in allem aber scheint das besprochene Blatt
die traurigen Reste der Alchemie nicht nur zu
vergegenwärtigen, sondern sie auch – versteht man
das umgekehrte »SURGE« wörtlich
– auf den Kopf zu stellen.
Hugos
Nachlass
Als Victor Hugo im
Frühling 1885, wenige Monate nach seinem 83. Geburtstag,
stirbt, hinterlässt er nicht nur ein riesiges, zu seinen
Lebzeiten von ihm selber veröffentlichtes Werk, sondern auch
unzählige Manuskripte und graphische Blätter.
Handschriften und Zeichnungen wandern, so verfügt es sein
Testament, in die labyrinthischen Archive der
Bibliothèque
Nationale de Paris (heute:
Bibliothèque
nationale de France), eine Einrichtung, die der Autor selber
häufig nutzte und mit der Hoffnung verband, sie werde eines
Tages zur Zentralbibliothek der »Vereinigten Staaten
Europas«. Eine eitle Hoffnung, da Nationalbibliotheken im 19.
Jahrhundert, wie ihr Name sagt, mit dem Ziel gegründet wurden,
den Ruhm des eigenkulturellen Kapitals zu mehren und zu verwalten. Mit
einem Wort, in diesen vom Staat gehätschelten
Scripturalfriedhöfen sollten die politischen, die geistigen
und künstlerischen Errungenschaften Frankreichs zur
machtvollen Einheit verschmelzen und der gebildeten
Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Entsprechend
großartig, weihevoll oder auftrumpfend gerieten die
Architekturdenkmäler, in die sich diese Ausgeburten
kultureller Identitätsträume einnisteten. Die
»Universalschrift der Baukunst« – wie
Hugo die Architekturen vor der Zeit von Gutenbergs Erfindungen nannte
– hatte unter dem Gewicht der Bücher
endgültig ihre schlichte Lesbarkeit
eingebüßt, um einem Sammelsurium hybrider Formen und
Stilrichtungen Raum zu geben.
Hugo machte keinen
Unterschied zwischen Bild und Text als er seine Handschriften mitsamt
den Zeichnungen einem Büchermagazin anvertraute. Sein Ruhm als
Schriftsteller und Republikaner endete zwar nicht an Frankreichs
Grenzen, dafür sorgten nicht nur die Übersetzungen
seiner Werke in zahlreiche fremde Sprachen, sondern auch seine
Anerkennung als Repräsentant demokratischer Freiheiten und
internationaler Friedenskampagnen. Wovon zu seinen Lebzeiten jedoch,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht einmal seine einheimischen
Bewunderer etwas wussten, das war seine heimliche Lust an der
Gestaltung bildnerischer Welten, kurz: sein Talent als Zeichner im
Umgang mit Bleistift, Pinsel, Kohle, Tusche, Tinten und anderen
verwandten Medien. Ein Talent, dem die Nachwelt immerhin die
beeindruckende Menge von annähernd 3500 Arbeiten auf Papier
verdankt; eine Schätzung, da im Laufe der Jahre immer wieder
mal ein neues, bislang unbekanntes Blatt von seiner Hand aufgetaucht
und bis heute kein Ende neuer Funde abzusehen ist. Was auch beweist,
wie lange es dauerte, bis Hugo als Meister der Zeichenkunst bekannt
wurde und, zumindest unter den Connaisseurs, Anerkennung fand. Die
Bibliothekare der
Bibliothéque Nationale
machten übrigens keinen Unterschied zwischen Hugos
Handschriften und Zeichnungen: Ihre übereifrigen
Hände haben in jedem Fall mindestens einen farbigen
Eigentumsstempel irgendwohin auf die Blätter gedrückt
und auf diese Weise nicht nur das ästhetische Erscheinungsbild
der graphischen Papiere verhunzt, sondern zugleich auch dem Autor Recht
gegeben, der selber – wie er in einem Brief an Baudelaire
schrieb – seine »Kritzeleien« als
unterhaltsamen »Zeitvertreib zwischen zwei
Strophen« verstanden hat.
Nicht nur
Baudelaire, auch Théophile Gautier war da ganz anderer
Meinung. Der eine lobte ihn wegen der romantischen Atmosphäre
in seinen Landschaften, der andere hielt ihn schlicht für
einen erstklassigen Meister der Bildnerei, der im Schatten seines
eigenen literarischen Œuvres stehe. Seine Blätter
der Öffentlichkeit zu zeigen, kam Hugo selber nie in den Sinn.
Viele verschenkte er, verwahrte aber alles andere – selbst
zufällig entstandene Spritzer, Flecken und Kleckse –
in jenen Mappen und Alben, die schließlich in den Regalen der
Staatsbibliothek verschwanden. Immerhin wurde bereits drei Jahre nach
seinem Tod in einer Pariser Ausstellung eine kleine Auswahl seiner
Handschriften und Zeichnungen gezeigt. Die verdiente Anerkennung als
Vertreter einer mit der Moderne wetteifernden graphischen Kunst
verschaffte ihm aber erst das 20. Jahrhundert, nämlich der
Surrealismus, allen voran dessen Häuptling Breton, der den
Zeichner Hugo wegen dessen Spielereien mit der Alchemie und dem Zufall
in die Ahnengalerie der Avantgardebewegung einreihte.
Seinen
Weg ins Licht der großen internationalen
Ausstellungsbühnen hat Hugos graphischer Nachlass freilich
erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gefunden: 1993
Venedig, 1998 New York, 2000 Madrid. Der Bürgermeister von
Paris, Jean Tiberi, sprach bei Gelegenheit der
Ausstellungseröffnung im Jahr 2002 von der
»Entdeckung eines ebenso kraftvollen wie subversiven
Bilduniversums« und nannte dessen Schöpfer
»un grand pionnier de la modernité«.
Dieses Lob ist kurios wegen der Bezeichnung Hugos als
»Pionier«, da dieser überhaupt keinen
Ehrgeiz als Bahnbrecher für eine neue pikturale Kunstbewegung
besaß. Und dennoch trifft die damit einhergehende Anspielung
auf technische Geschicklichkeiten nicht völlig daneben, da die
ganz privat ausgelebte Experimentierfreude des Zeichners einen
außerordentlichen Erfindungsreichtum zu erkennen gibt.
Hugo
war kein akademisch ausgebildeter Zeichner, sondern genialer Dilettant.
Er bearbeitete seine Zeichengründe, die aus Papiersorten
verschiedenster Herkunft und Farbe bestehen konnten, auf
gänzlich unorthodoxe Art und Weise mit Pinsel, Feder, Fingern,
Schabern, Graphitstiften, Kreiden, mit Tuschen und Tinten,
Ruß, Asche und Kohle, gelegentlich auch mit Aquarellfarben
und unter Anwendung von Salzen im nassen Auftrag; er applizierte
Schablonen und Découpagen, setzte Prägungen, Tupfer
und Abklatschtechniken ein; er übte sich in Gouache und in
dem, was man sehr viel später Dripping und Action-Painting
nannte; kurz, er brachte es im Verschmelzen unterschiedlichster
Materien und Kunstgriffe zu einer erstaunlichen Könnerschaft
und entwickelte nach und nach einen unverwechselbaren
persönlichen Stil. Bestechend sind die klaren Federzeichnungen
architektonischer Ortsansichten, die er von Reisen durch Frankreich und
andere Länder Europas mitgebracht und nicht selten in seine
unterwegs geschriebenen Journale eingefügt hat. Zahlreiche
andere Blätter, auf denen monumentale Ruinen oder
imaginäre Landschaften zu sehen sind, besitzen eine in
Hell-Dunkel-Kontraste verwobene Aura des Unheimlichen; in einer
weiteren Gruppe herrscht eine transparente, die Konturen konkreter
Dingwelten auflösende Dämmerung; während
nicht wenige Blätter gegenstandsferne, an den abstrakten
Tachismus gemahnende Konfigurationen enthalten; nicht zu vergessen, die
emblematischen und allegorischen Bilder über Tod und
Schiffbruch sowie die Karikaturen und illuminierten
Buchstabenrätsel.
Alles in allem
präsentiert Hugos graphisches Werk eine Fülle von
Themen, Dingen und Verfahren, als deren Gemeinsames die Freude an der
Verwandlung und die Suche nach einer von der mimetischen Wiedergabe des
Realen sich abwendenden, der Träumerei zugewandten Erfahrung
gelten kann. »Wie die Flamme«, schrieb der
62jährige in einem Shakespeare gewidmeten Essay (1864),
»besitzt die Kunst die Kraft, Festes in Flüchtiges
umzuwandeln. Wirf giftige, schmutzige, rostige, oxidierte Substanzen,
den Grünspan und das Arsen in die Kunst wie in die Flamme,
lass das Aufglühende durch das Prisma oder die Poesie sichtbar
werden, und du schaust eine glänzende Erscheinung, das
Hässliche wird sublim und das Böse
schön.«
Ars liberalisHier
ist sie wieder, die Analogie zwischen Alchemie und Kunst, die sich
über die verwandelnde Kraft beider herstellen lässt.
Die Transmutation oder Verwandlung ist aber vorwiegend als
Transportmittel für anderes zu begreifen. Denn die poetische
Alchymie will die Schöpfung wie der Adept in die eigenen
Hände nehmen, und sei es nur, um die versteinerte Macht
autoritärer Herrschaftsansprüche zu brechen. Eine
derart häretische Transmutation mutet Hugo den Lesern seines
Romans
Notre-Dame de Paris zu. Als dieser
während der Julirevolution entstandene Bestseller im Jahr 1831
erschien, löste er binnen kurzer Zeit hektische
Aktivitäten um die Restauration des damals unziemlich
heruntergekommenen Gotteshauses auf der Ile de la Cité aus.
Hugos
Erzähler, der sich bisweilen beinahe gewaltsam dem Autor als
Sprachrohr aufdrängt, beginnt das dritte, in die zweite
Romanfassung eingefügte Buch mit einem Kapitel, in dem er
unter dem Wahlspruch »Tempus edax, homo edacior«
(Die Zeit ist gefräßig,
gefräßiger der Mensch.) kenntnisreich die
Zerstörungen an der alten Kirche beschreibt. Das in ihre
Mauern angeblich eingeritzte griechische Wort für
VERHÄNGNIS (ANAGKH), das der Autor in der Vorrede
erwähnt, gilt in der Tat für das ganze
Figuren-Ensemble inklusive Kathedrale. Denn diese ist nicht nur der
Schauplatz dramatischer Auseinandersetzungen mit tödlichem
Ausgang, sondern auch das erhabene, wenn auch geschundene Petrefakt
sowohl der mittelalterlichen Ars Magna als auch der poetischen Alchymie
zur Zeit der Niederschrift des Romans.
Gewiss, der
Romanschreiber war kein Alchemist im althergebrachten Sinn jener
Feuerköpfe, die sich beim Goldmachen den Bart versengten.
Vielmehr teilte er mit der Geheimlehre in ihrer allegorischen und
späten poetischen Gestalt Eigenschaften, die ihn als Gnostiker
und Adept einer frei mit ausufernden Bildfantasien spielenden
Weltanschauung zeigen. Die Tradition stand einem solchen Zugang
durchaus nicht im Wege, denn unter Alchemie verstand schon das
späte Mittelalter eine freie Handwerkskunst und verborgene
Wissenschaft; mit den Worten der alten Zeit:
ars liberalis et
scientia
occulta. Von Theologie in der Bedeutung
einer kosmosophischen Denk- und Deutungsart der Phänomene war
sie nicht wirklich geschieden, unterwarf sich aber keiner bestimmten
Glaubensrichtung. Im Gegenteil: Sie war, wie das was sie umtrieb, ein
hybrides Konkokt esoterischer Überlieferungen aus jenen
altägyptischen, griechischen, arabischen, jüdischen
und christlichen Quellen, die ihre historische Herkunft unterm Schleier
zeit- und ortloser Legenden zu verbergen suchten. Der Religion, wie
Hugo irgendwo schrieb, aus religiösen Gründen
widerstehen, das hätte wohl jeder antike Gnostiker und
allegorisierende Alchemist mit ähnlichen Worten so sagen
können.
Von jeher stand die allegorische
Alchemie in enger Beziehung mit den häretischen Arcana, mit
Kabbala und Hermetismus. Der Adept las vor diesem Hintergrund die
großen und kleinen Schöpfungsmythen mit der Brille
des Dechiffrierers, der einen fremden Code zu knacken sucht und war
darauf aus, sein aus solchen Lektüren destilliertes Wissen an
wenige Eingeweihte weiter zu geben. Daher ist auch die okkulte Praxis
des wahren Adepten nicht mit der Suche nach neuer Erkenntnis durch
Einblicke etwa in die Struktur der Materie zu verwechseln. Seine
transmutierende Arbeit ähnelte eher der Magie und jener
seltsamen Mnemotechnik, die das Unvordenkliche, mithin das eigentlich
nicht zu Erinnernde in Sinn und Gedächtnis behalten und es als
glänzendes, nur wenigen zugängliches Gold von der
grauen Materie, will sagen: von den auf konventionelle Weise lesbaren
semantischen Brosamen des Überlieferten scheiden wollte.
War
der Alchemist Entzifferer und Interpret tradierten Geheimwissens, so
war er zugleich auch dessen Buchhalter. Es ist daher nicht zu weit
hergeholt, in der Alchemie auch eine rituell kontrollierte Schrift- und
Schreibkunst zu vermuten, die zumindest in den mittelalterlichen Zeiten
vor dem Buchdruck wie selbstverständlich das kontemplative
Handwerk der Buchmalerei einschloss. Auch dafür gab es den
passenden Gründungsmythos. Denn der Gott der Alchemisten, der
zwielichtige Hermes, wurde seit alters mit dem ägyptischen
Thot, dem Erfinder der Hieroglyphenschrift, zusammengebracht. Eine
vielsagende, die Kunst nicht nur des Schreibens, sondern zugleich auch
die der Zeichendeutung (Hermeneutik) einschließende Erfindung.
Die
praktischen Gründe für die professionelle
Nähe der Alchemie zum Hand-Werk der Schreib- und Malkunst sind
durchaus nachvollziehbar, vergegenwärtigt man sich den Bedarf
an Tinten und Farben auf Seiten der Schreiber und Illuminatoren. Auch
Gold von feinstblättriger Qualität war gefragt, denn
das brauchte der Buchmaler für die Illumination etwa der
Hintergründe und Fassungen von Initialen und Marginalien.
Warum also sollte dessen Herstellung nicht, wie auch die der Farben,
Tinten und Tuschen dem eigenen Alchemistenlabor obliegen? Einer, der
diesen Nexus der Buch- und Schreibkunst mit den geheimen
Künsten der Alchemie auf hervorragende Weise
verkörperte, war der Pariser Schreiber und Bauherr Nicolas
Flamel, eine historische Gestalt des späten 14. und
frühen 15. Jahrhunderts, deren legendärer Avatar noch
in den Harry-Potter-Zaubermärchen der J. K. Rowling herumspukt.
Nicolas
FlamelFlamels Name ist Teil eines
Gespinsts aus dunklen, kaum aufzuklärenden Andeutungen und
Gerüchten. Er ist mithin so recht ein Held jener hermetischen
Mythen, die allerlei divinatorische Abenteurer auf den Plan rufen. Der
junge Hugo kannte diese Geschichten. Claude Frollo, seine Erfindung des
finsteren Erzdiakons und Alchemisten im Roman
Notre-Dame de
Paris, besucht Flamels Grabmal auf dem Cimetière
des Innocents, um die in den Stein eingegrabenen Figuren und
Schriftzeichen zu entziffern; er durchstöbere, heißt
es an anderer Stelle im Text, auf der Suche nach der Formel
für den Lapis philosophorum die Kellergewölbe des
Flamelschen Hauses, da auch dort Hieroglyphen und Verse in die
Wände eingeritzt seien; und er verspricht einem Kollegen und
Hermesdiener, der nach dem Rezept des Goldmachens verlangt, gemeinsam
in den Fassaden der von Flamel in Paris gestifteten Spitäler
zu lesen. Doch damit nicht genug: 1854, im dritten Jahr seines
politischen Exils auf Jersey erschien Hugo und seinen Freunden, glaubt
man der im Nachlass erhaltenen Zeichnung, während einer
spiritistischen Abendsitzung eine Figur, die den Namenszug Flamel auf
die präparierten Papiere schrieb und als Adresse für
eine ihr nachtrabende vierfüßige Chimäre
den Planeten Merkur angab.
Doch noch einmal
zurück ins frühe 15. Jahrhundert, bevor wir weiter in
Hugos Nachlässen stöbern! In dem ihm zugeschriebenen
Buch mit dem Titel
Livre des Figures
Hiéroglyphiques, das freilich erst 1612 als
Druckschrift in einer von Arnauld de la Chevalerie edierten
Textsammlung erschien, stellt sich Flamel – dem wir uns hier
zunächst versuchsweise anvertrauen wollen – als
Schreiber
(escrivain) vor, dem im Traum ein
geheimnisvolles Buch erschien, das er eines Tages tatsächlich
– so die Fiktion – käuflich erwerben
konnte: ein golden eingebundener Codex, dessen Rindenblätter
mit rätselhaften Zeichen bedeckt waren und das, von ihm
Abrahams
Buch genannt, auf sefardische Herkunft hinwies. Das
ist eine gelungene, auf Fortsetzung bedachte Invention, denn die
Zeichen zu entziffern, begibt sich Flamel bald auf die Suche nach einem
jüdischen Schriftgelehrten. Da er in seiner Umgebung keinen
Erfolg hat, unternimmt er zu diesem Zweck eine lange Pilgerreise nach
dem spanischen Santiago di Compostela, die ihn erst gegen Ende und
beinahe beiläufig ans Ziel, die Entzifferung der Hieroglyphen,
bringt. Der Traum vom Buch und die Reise stehen, wie könnte es
anders sein, für die Initiation des künftigen Adepten
in die hermetischen Künste.
Dafür
spricht auch die von Flamel gewählte Topografie: Ausgangspunkt
der klassischen Wallfahrt nach Santiago war zu dieser Zeit in Paris die
Kirche St. Jacques-de-la-Boucherie, unweit des damaligen
Cimetière des Innocents gelegen und wenige Gehminuten von
Notre-Dame entfernt. An beiden Orten – Cimetière
sowie St. Jacques – war der historische Flamel zuhause und
unterhielt dort Schreiberwerkstätten, wahrscheinlich auch eine
Manuskripthandlung. Alle genannten Adressen waren überdies
seit langem eng mit der Geschichte der Alchemie verbunden, was damals
zu ihrem Ruf als animistisch belebte Orte nicht wenig beigetragen hat.
In Spanien nach Auflösung der Rätsel des
abrahamitischen Buches zu suchen, lag als Fiktion für den
angehenden Jünger der Hermetik auf der Hand, da sich dort
bekanntlich die Wege der arabischen und jüdischen
Überlieferungen mystisch-hermetischen Denkens kreuzten.
Zurück
von der erfolgreichen Initiationsreise, begann Flamel – traut
man seinen Selbstaussagen – mit der Stiftung zahlreicher
frommer und karitativer Einrichtungen in Paris. Was nur
heißen konnte, davon war die Alchemistengemeinde sofort
überzeugt, dass er den Stein der Weisen
(Lapis
philosophorum) und damit zugleich das Goldmacherrezept mit
nach Hause gebracht hatte. Wer will, kann sich in diesem Verdacht durch
das Flamel zugeschriebene
Livre des Figures
Hiéroglyphiques bestärken lassen. Denn in
diesem Manuskript beschreibt und interpretiert der
Buchkünstler auf hintergründige Weise die Bilder und
Inschriften, mit denen er den Bogen eines von ihm im Jahr 1409 am
Beinhaus des Cimetière des Innocents errichteten Portals
geschmückt haben will. Die Erstausgabe des
Livre des
Figures von 1612 zeigt sogar in einem Holzschnitt Flamels
vermeintliche Installation, und eine so frühe, mit
ikonografischen Kommentaren verbundene Wiedergabe mittelalterlicher
Kunst sollte sehr bald nach den Neuauflagen des
Livre
die historischen Spekulationen über den Konnex zwischen Kunst
und Alchemie gewaltig anheizen. Bemerkenswert ist Flamels
architektonische Konstruktion nicht zuletzt auch wegen ihrer Stellung
im Rahmen einer metaphorischen Spiegelfiktion. Denn das
Livre
des Figures ist ein Reflex des geheimnisvollen
Livre
d’Abraham, dessen hieroglyphische
Rätselschrift es der Form nach in die Bilderschrift auf dem
Cimetière des Innocents überträgt und
zugleich in eine für den Adepten nachvollziehbare Lesart
rückübersetzt.
Die
Farben und ihre verschiedenen symbolischen Valeurs spielen in Flamels
Bildbeschreibungen, wie sich das für die Buchmalerei ziemt,
eine herausragende Rolle: Rot, allerdings eines der erhabenen Art, ist
die Farbe des Lapis philosophorum, des »Pierre
philosophale«: Sie ist männlich, da mit der Sonne
(sol)
verknüpft, ergo heiß und trocken. »Ewiges
Lob sei Gott,« heißt es am Ende des
Livre
des Figures unter Hinweis auf die im Tympanon des Portals
dargestellte Figur des Petrus (Pierre!), »der uns in seiner
Gnade die schöne, vollkommenste Purpurfarbe gezeigt hat, diese
schöne Farbe des wilden Steinmohns, diese feurig funkelnde
Farbe aus Tyros, die gegen jede Veränderung und
Verfälschung gefeit ist, über die weder der Himmel
selbst noch der ihm verbundene Zodiak Macht ausüben
können, dessen blendende Strahlkraft dem Menschen etwas
Überhimmliches
(surceleste) mitzuteilen
scheint und ihn, wenn er die Farbe betrachtend erkennt, zugleich in
Staunen versetzt, erbeben und erzittern lässt.«
Über
mehreren kleinen Kasettenbildern, deren unterste Zone dem
betlehemitischen Kindermord – einer kryptischen Blut-Chiffre
für die Fixation im alchemistischen Prozess –
gewidmet ist, erhebt sich auf einem mit Engeln verzierten Sockel
Christus Triumphator am Tag des Jüngsten Gerichts, flankiert
von Petrus (Pierre) mit dem Schlüssel und Paulus mit dem
blanken
(blanc) Schwert, das den
Purifikationsprozess versinnbildlicht, zu ihren
Füßen die Stifterfiguren und auf beiden
Außenseiten knieende Engel. Flamels Kommentare interpretieren
das Beschriebene in der Weise einer doppelten, nämlich einer
»theologischen« (biblischen) und einer
»philosophischen« (alchemistischen)
Lektüre. Und es ist diese Technik der zwiefältigen
Hermeneutik, die Flamels Hieroglyphenbuch an den Beginn einer
unabsehbar wachsenden Reihe ähnlicher ikonografischer und
literarischer Versuche rückt, die in den Werken
mittelalterlicher Kunst und Architektur nach den Spuren eines
binär codierten Zeichengebrauchs fahnden, der – je
nach Blickwechsel – eine bekannte Geschichte illustriert oder
eine bis dahin unsichtbare Hinterwelt erahnen lässt.
In
Hugos
Notre-Dame de Paris sind die Spuren solcher
Zweideutigkeiten allgegenwärtig. Die Alchemisten,
heißt es in dem Kapitel, in dem der Erzähler den
Zustand der Kathedrale einst und jetzt vergleicht (III/1), konnten
»in den Symbolen des großen Portals einen
ordentlichen Abriss ihrer Wissenschaft finden, für die
Saint-Jacques-de-la-Boucherie eine komplette Hieroglyphe bot. So sind
in Notre-Dame die romanische Abtei, die alchemistische Kirche, die
gotische und sächsische Baukunst, der schwere Rundpfeiler, der
an Gregor VII. [Hauptakteur im Investiturstreit] erinnert, der
hermetische Symbolismus Nicolas Flamels, eines Vorläufers
Luthers, die päpstliche Einheitsmacht, das Schisma,
Saint-Germain-des-Prés [älteste Pariser Kirche] und
Saint-Jacques-de-la-Boucherie gegründet, kombiniert, ja
amalgamiert.« Der Erzähler betrachtet hier das alte
Bauwerk wie eine historische Bibliothek aus der alchemichen Retorte und
befindet sich mit dieser Sicht in bester Gesellschaft. Denn schon im
Hochmittelalter konzipierten fromme Schriftgelehrte die Bildwerke der
gotischen Gotteshäuser als Verkörperungen einer
christlichen Enzyklopädie, in der auch die Symbolik der Ars
Magna Unterschlupf finden konnte.
Notre-Dame,
die Kathedrale der AlchemieDie Pariser
Kathedrale ist nach Auffassung mancher Neo-Alchemisten nichts anderes
als das stumme, für den Eingeweihten indes beredte Buch der
hermetischen Künste. Der Mater Dei gewidmet, verweise sie auf
jenes unverzichtbare Prinzip der
Materia, von dem
ausgehend der Aufstieg zur Erleuchtung in der Doppelbedeutung der
spirituellen Selbsterkenntnis und der moralischen
Perfektibilität gelingen kann.
Dem Autor,
der 1922 unter dem Pseudonym Fulcanelli ein Buch über die
alchemistischen Geheimnisse der französischen Kathedralen
veröffentlichte und Notre-Dame de Paris den bedeutendsten
Denkmälern der hermetischen Kunst zurechnete, war Hugos Roman
nicht unbekannt. Eine der ersten in Fulcanellis Buch abgebildeten
Fotografien zeigt ein in Stein geschnittenes Medaillon aus der Pariser
Kathedrale mit einer sitzenden Figur, deren Haltung an vergleichbare
Mariendarstellungen erinnert, die vielleicht aber auch den thronenden
Christus verkörpert.
In der Rechten hält
die Figur demonstrativ zwei Bücher hoch. Der obere dieser
Codices ist geöffnet und steht, so Fulcanelli, für
die exoterische (biblische), der untere ist geschlossen und steht
für die esoterische (hermetische) Lehre. Zwischen den Beinen
der Sitzfigur lehnt eine 9-sprossige Leiter, die große Scala
philosophorum: Jede Sprosse steht für eine der
Wissensprovinzen, die der Jünger des Hermes auf dem Weg zur
letzten aller philosophischen Erkenntnisse durcharbeiten muss. Das Bild
lässt sich als Allegorie der Alchemie deuten, ein Vorschlag,
der wohl Hugos Beifall gefunden hätte. Die große
Leiter hat übrigens eine kleinere Schwester, auf die ich
weiter unten noch einmal zurückkommen werde. Diese Leiter hat
3 Sprossen, die nach Auffassung bestimmter Schulen die
Hauptfächer der Ars Magna repräsentieren: das Studium
der Mineralien, der Lebewesen und der Gestirne.
In
Hugos Notre-Dame-Roman bezieht sich der Erzähler immer wieder
auf den in die inneren und äußeren Wände
der Kirche eingeschriebenen Alchemistendiskurs. In einem der
Türme hat der finstere Erzdiakon und Alchemist Claude Frollo
sein Labor, das der Erzähler mit Rembrandts
berühmter, nachträglich als Faust-Darstellung
gedeuteter Radierung eines in dunkler Kammer von einer leuchtenden
Buchstabenaura überraschten Adepten vergleicht.
»Inmitten einer düsteren Zelle«,
heißt es in der Parallelbeschreibung von Frollos
Alchemistenbude, »steht ein großer Tisch mit
Zirkeln und Destillierkolben; von der Decke hängen
Tierskelette, eine Himmelskugel rollt über den Boden, da ist
ein Wirrwar von ägyptischen Totenamuletten
(hypocephales),
bauchigen Gläsern, in denen Blattgold flimmert,
Totenköpfen auf mit Figuren und Zeichen bedeckten Pergamenten,
da türmen sich auf dem Tisch dicke Manuskripte mit
rücksichtslos zerfledderten Ecken«. Mit einem Wort:
Der Ort ist verkommen, Staub und Spinnweben überall. Zwar sind
die Wände des Turmzimmers »wie ein Blatt
Papier« über und über mit wirren
Auszügen »aus allen Philosophien,
Träumereien, Weisheiten« in gotischen,
hebräischen, griechischen, lateinischen Schriftzeichen
bedeckt. Was der Erzähler jedoch vermisst, das ist die
lichtdurchflutete Schriftsphäre in Rembrandts Graphik und die
Figur des »ekstatischen Doktors, der diese flammende Vision
betrachtet wie der Adler, der in seine Sonne schaut.«
Der
Vergleich am Ende des Zitats verrät eine genaue Kenntnis der
traditionellen hermetischen Chiffrierung auf Seiten des
Erzählers. Das Bild des in »seine« Sonne
schauenden Adlers symbolisiert die aus den Abgründen der
Materie aufsteigende
›Vergeistigung
‹ in alchemistischer wie
spiritueller Bedeutung. Für Claude Frollo aber, den Bewohner
des verkommenen Turmzimmers, geht es bergab, denn er hat über
der sinnlichen Passion für die tanzende Zigeunerin Esmeralda
seine alte Sehnsucht nach spirituellem Aufstieg vergessen. Seine
Liebeswut macht ihn nicht nur zum Mörder, er wird am Ende des
Romans von seinem eigenen Geschöpf, dem wegen seiner
Hässlichkeit gefürchteten und verfluchten Quasimodo,
vom Turm in die Tiefe gestoßen.
Die
Geschichten, die sich im Roman mit tragikomischer
Ausführlichkeit entfalten, bieten dem zweiten Blick eine Art
alchemistisches Vexierbild. Dessen Spuren werden unter anderm
über die Namensgebung und das Beziehungsgeflecht der Akteure
lesbar: Esmeralda ist das spanische Wort für Smaragd, ein
Mineral, das nicht nur Jungfräulichkeit symbolisiert, sondern
auch auf die Bibel der Alchemisten, die
Tabula Smaragdina
des Hermes Trismegistos, anspielt. Der königliche Offizier, in
den sich Esmeralda
prima vista verliebt,
hört auf den mythologischen Namen Phoebus, steht also, wie es
scheint, für die Sonne, und das hieße im
Alchemistenlexikon: für den Stein der Weisen, wäre
der Kerl nur nicht so ein eitler und törichter Prahlhans. Ohne
es zu wissen, gibt Phoebus, da er Esmeralda, die auch Smeralda gerufen
wird, fälschlich Similar nennt, einen Hinweis auf die
Zeigeunerin als Trugbild, als Simulacrum. Denn in Wahrheit ist sie, die
schuldlos am Galgen endet, ein von Zigeunern entführtes
Christenkind, ein – wenn man so will – falscher
Smaragd. Der schrecklich missgestalte Quasimodo wiederum, eine
Verkörperung der Unreinheit, die ihrerseits Esmeralda, also
die reine Jungfräulichkeit, anhimmelt und umsorgt, verdankt
seinen Namen paradoxerweise jenem Weißen Sonntag (nach
Ostern), der in der Sprache des Kirchenkalenders
»Quasimodogeniti (infantes...)« genannt wird und
auf jene unschuldigen Kindlein anspielt, die, sterben sie als Waisen,
auf dem Cimetière des Innocents just unter Flamels
Darstellung des betlehemitischen Kindermassakers ins Beinhaus geworfen
werden. Bleibt die vierte Hauptfigur, der zwischen Himmel und
Hölle schwebende Erzdiakon Claude Frollo, der als gefallener
Engel nicht nur die Intrigen einfädelt, sondern in
mörderischer Absicht auch selber Hand anlegt.
Die
Konstruktion der von inneren Widersprüchen zerrissenen
Romanfiguren findet, wie hier nur beiläufig anzumerken ist,
ihre Rechtfertigung in Hugos berühmter, 1827
veröffentlichter Vorrede zu seinem ungefügen
Versdrama
Cromwell. In diesem programmatischen Text
bricht er eine Lanze für das Groteske und versteht darunter
eine Verwandlungsqualität der Moderne, die den
Künsten die Darstellung von
»Zwischenwesen«
(êtres
intermédiaires) geradezu aufzwingt. Was hier vor
allem interessiert, das ist die gewollte Doppelspitze dieser
Programmatik. Zum einen ist die Suche nach dem beunruhigenden, ja dem
Unruhe stiftenden
Dazwischen Teil des von Hugo der
– wie er es nannte – »Tyrannei der
Systeme« angesagten Kampfes. Zum andern ist die
Zwischenstellung die pathetische Signatur eines pessimistischen
Daseinsbildes. Denn auf die Frage »Was ist der
Mensch?« antwortet das Gedicht
(Toute la lyre, 1856-58):
»Ein Mittelding zwischen Abgründen.«
(qu’est-ce
que l’homme? Un entre-deux de l’abîme.)
Wir wollen darüber aber das Einfache und
Nächtsliegende nicht vergessen: Die Mischungen bieten einen
Ausweg aus der stupiden Schwarz-Weiß-Malerei, sie steigern,
aufgrund ihrer von Wahnvorstellungen angekränkelten
Expressivität, ganz enorm den Unterhaltungswert epischen
Erzählens.
In welchem Sinne der
Alchemistendiskurs eine Dominante in der Romanwelt von
Notre-Dame
de Paris bildet, zeigt sich vor allem im 5. Buch. Denn dort
überrascht der Erzähler/Autor den Leser mit einem
Kapitel Mediengeschichte, in dem es um jene Entwicklung geht, die er in
die zweideutige Sentenz »Toute civilisation commence par la
théocratie et finit par la démocratie«
(Jede Zivilisation beginnt mit der Theokratie und schließt
mit der Demokratie.) zusammengedrängt hat. Freies Denken,
»in Stein geschrieben«
(écrite
en pierre), das ist die den feudalistischen Dogmatismus
ablösende Errungenschaft der Gotik. »Die Kathedrale,
diese einst so dogmatische Architektur,« heißt es
an der zitierten Stelle, »gehört von nun an [nach
der Romanik] dem Bürgertum, der Gemeinde, der Freiheit; sie
entgleitet dem Priester und fällt unter die Herrschaft des
Künstlers. Der Künstler gestaltet sie nach seiner
Weise: Adieu Mysterium, Mythe, Gesetz – her mit Fantasie und
Caprice! [...] Diese Freiheit geht sehr weit. In manchen
Fällen präsentiert ein Porträt, eine
Fassade, ja eine ganze Kirche eine dem Kultus völlig fremde,
wenn nicht sogar kirchenfeindliche Symbolbedeutung. Solche rebellischen
›Seiten‹ hat im 13. Jahrhundert Guillaume de
Paris und im 15. Nicolas Flamel ›geschrieben‹.
Saint-Jacques-de-la-Boucherie war ganz und gar eine
Oppositionskirche.«
Der Bischof Guillaume
de Paris war maßgeblich am frühen Umbau der
Kathedrale beteiligt, Flamel stand im Ruf eines mäzenatischen
Stifters von sakralen und profanen Bauten im alten Paris. Zusammen mit
St. Jacques bilden die architektonischen Werke der Genannten ein
alchemistisches Dreieck, zumal Guillaume nachgesagt wurde, und der
Romanerzähler kommt hin und wieder darauf zu sprechen, er habe
seine hermetischen Neigungen in den Portalfiguren von Notre-Dame
verschlüsselt. Nicolas Flamel ein Protestant, die
spätmittelalterliche Alchemie ein Freiheitsdiskurs, das ist
eine verwegene Lesart, die – so scheint es auf den ersten
Blick – nicht zu Hugos Bildern einer zerfallenen und
bedeutungslos gewordenen hermetischen Kunst zu passen scheint. Aber
warum soll bei einem Künstler, der dem
More
geometrico des cartesianischen Weltbilds die Logik des Traums
vorzieht, alles glatt aufgehen? Den Erzalchemisten Flamel, die
Ikonografie gotischer Kathedralen und sogar die Bauherren
spätmittelalterlicher Architekturen den rebellischen, den
Feudalismus attackierenden Kräften zuzurechnen, ist so
überraschend nicht. In Hugos nachrevolutionärem
Geschichtsbild ist der Aufstieg des mittelalterlichen
Stadtbürgertums das sichtbare Zeichen für eine weit
in die Zukunft ausgreifende Zeitenwende, deren Höhepunkt die
Erfindung des Buchdrucks bildet. Diese Erfindung ist »das
größte Geschichtsereignis«, behauptet der
Romanerzähler mit ganz ähnlichen Worten wie Condorcet
am Ende des 18. Jahrhunderts, »und die Mutter aller
Revolutionen«.
25 Jahre nach Erscheinen
des Notre-Dame-Romans gestaltete Hugo auf der Kanalinsel Guernsey, der
zweiten und längsten Station seines Exils, die
Innenräume des von ihm erworbenen Hauteville House im Stil
einer neogotischen Fantasmagorie, die auch vor der im Roman
erwähnten epigrafischen Grafitto-Manie der alten Alchemisten
nicht zurückgeschreckt ist: Lateinische Sentenzen und die
Namen der Klassiker sind in Möbel und Holzpaneele eingraviert,
und HUGO reimt sich da auch schon mal auf EGO. Charles Hugo nannte das
Haus ein »Autograph« seines Vaters. Und
tatsächlich gebietet der in Bronze gegossene Name des Autors
dem Besucher schon am Eingangsportal des Hausflurs Einhalt. Dieses
Portal scheint der Flamelschen Arkade auf dem Cimetière des
Innocents und zugleich den Guillaumschen Figurenchiffren der Kathedrale
von Notre-Dame verpflichtet. Es ist wie ein auf mehreren Etagen nach
oben aufsteigendes Altarretabel mit kleinen Skulpturen verziert, die
über einem mittleren Fenster von einem zwischen zwei
große Flügel plazierten Kopf (eine grotesk verzerrte
Hermes-Anspielung?) beobachtet werden. Unter dem Namen des Autors ist
in etwas kleinerer Ausführung »Notre-Dame de
Paris« zu lesen, ein Indiz für die bedeutende
Stellung, die der Autor-Designer diesem Roman innerhalb seines
inzwischen imposant angewachsenen Werks zugestand. Und es ist in meinen
Augen auch ein weiterer Beleg für die Faszination der
poetischen Alchymie, der Hugo vor allem in seinen
bildnerisch-architektonischen Versuchen erlag.
In
der Kunstwelt des Schrift- und Bildstellers macht sich ein Geist der
Verspieltheit bemerkbar, der, wenn die Situation es verlangt, die
theatralische Pose und die verschmitzte Mystifikation nicht
verschmäht. Wohl ist der Schlüssel zur Alchemie
verloren, umso besser lässt diese sich im willkürlich
gewählten historischen Kontext zum Oppositionsdiskurs umdeuten
und vor allem als Ausgangspunkt für solche Formspiele nutzen,
die es verstehen, sogar noch aus dem Zerfall ästhetisches
Vergnügen zu ziehen.
Alchymie,
die ästhetische FreiheitEine von
Hugos bildnerischen Obsessionen ist die Ruine. Das ist nicht
überraschend, da die Ruinenromantik seit langem schon zu der
in Europa grassierenden Bildungsnostalgie gehörte und bei den
revolutionär denkenden Aufklärern zur Chiffre
für den Niedergang der alten Imperien wurde. Ein Klassiker
dieser Tendenz sind Volneys
Méditations sur
les Révolutions des Empires (1791). Ob
Hugo diesen Ruinenhymnus kannte, sei dahin gestellt, immerhin deckt
sich seine Vorstellung vom großen, in Stein verfassten Buch
der alten zerfallenden Baukunst mit Volneys Idee, in den Ruinen wie in
den Untergangsannalen des Ancien Régime zu lesen. Es ist
Zeit, Hugo hierin zu folgen und einigen seiner Ruinenbilder einen
Besuch abzustatten.
In einer auf beigem Papier
aufgetragenen Zeichnung, entstanden 1866, im 15. Jahr seines Exils auf
den Kanalinseln, setzt der Künstler – so meine
Lesart – der 3-sprossigen Scala philosophorum ein
dramatisches Zeichen.
Das
schwarze, wie verkohlt wirkende Ding in der Mitte des Bildes hebt sich
von einem bläulich schimmernden, unruhigen Weißgrund
ab. Es ist eingekeilt zwischen einer Art quecksilbrig-perlig
gestalteter Verfließung linkerhand und einer starren, mit
Ruß befleckten rötlichen Felsklippe oder Fassade
rechterhand. Der Ort ist unwirtlich-unwirklich und für
Besucher eigentlich
off limits. Wieder hat Hugo,
wie so oft, seinem Werk keinen Namen gegeben, so dass uns die Freiheit
bleibt, dieses unheimliche Gebilde entweder unterm Gesichtspunkt der
Technik als Experiment mit dem Zufall oder unter ästhetischem
Gesichtspunkt als Vorstoß ins Reich der unsichtbaren
Traumbilder zu deuten. Der von den Editoren der Ausstellungskataloge
stereotyp hinzugefügte Titel »Turm/Tour«
ist nichtssagend und sachlich nicht überzeugend. Eher sind
hier Mutmaßungen angebracht: Der Zeichner spielt auf diesem
Blatt, wie so oft, mit der Initiale H, verdoppelt sie in der Vertikale,
so dass zwangsläufig das Bild einer aus schweren Balken
gezimmerten Leiter entsteht. Mit Buchstaben bzw. Hieroglyphen bauen,
gehört nach dem Kommentar des Erzählers/Autors in
Notre-Dame
de Paris immerhin zu den urtümlichsten
Zivilisationsleistungen: »Man richtete einen Stein auf und er
ward ein Buchstabe und jeder Buchstabe eine Hieroglyphe, und auf jeder
Hieroglyphe ruhte eine Ideengruppe wie das Kapitell auf der
Säule. [...] Später machte man Wörter. Man
türmte Stein auf Stein, fügte die Granitsilben
zusammen und das Verb erprobte einige Kombinationen.« Nach
dieser Theorie ist nicht Gott, wie in den frühesten
Architekturlehren nachzulesen, der eigentliche Archeget der Baukunst,
sondern der ›schreibende‹ Homo sapiens. Der
Gedanke, die Architektur sei das erste in steinernen Hieroglyphen
verfasste und für jedermann zugängliche
Menschheitsgedächtnis, hat sich auf zahlreichen
Blättern des Zeichners in abgewandelter Form niedergeschlagen.
Diese emblematischen Blätter haben die Gestalt von
Schrift-Bild-Kompositionen, deren Buchstaben oft in der Art des von
William Blake erfundenen Relief Printing mit Schatten unterlegt und,
zeigen sie die handschriftliche Geste der Autor-Signatur, meist
rotfarbig sind.
Beugt man sich der emblematischen
Struktur der Abbildung Nr. 3 und beharrt auf der oben angedeuteten
Lesart der mittleren schwarzen Chiffre als Bild eines
zerstörten alchemistischen Symbols, so lässt sich die
linke Seite der Zeichnung mit Quecksilber (mercurius) assoziieren, die
rechte aber mit der (im Schmelzofen) glühenden Materie oder
gar mit dem rötlich schimmernden Lapis philosophorum
– passende Kontexte für die Scala philosophorum.
Dennoch, wie man es auch dreht und wendet, die Darstellung –
wenn sie überhaupt eine ist – lässt sich
nicht ohne Übertreibungen als eine Konfiguration aus der
Realwelt festlegen.
Bleibt als Ausweg also nur das
Urteil über den Experimentalcharakter des Blattes. Es scheint
– man ist ohne Evidenzen gezwungen, vorsichtig zu formulieren
– es scheint, dass Hugo auf diesem Papier mit einer wahrhaft
alchemistischen Mixtur aus Fettstiften, Tintenlavierungen,
weißen Gouachehöhungen, Aquarellfarben,
Ruß, Schablonen und vielleicht auch mit Salz gewerkelt hat.
Die einzelnen Schritte des Herstellungsverfahrens sind kaum zu erraten.
Das ist ein bemerkenswertes Faktum, da es den Schluss nahe legt, der
Zeichner habe sich, ohne vorgefasstes Konzept, einem aleatorisch
ablaufenden Prozess überlassen. Einem solchen Versuch den
Namen bzw. Titel verweigern, empfinde ich wie eine Offenbarung. Denn
selbst ein so wohlfeiles Dingwort wie »Turm«
reduziert die freiheitlichen Möglichkeiten von
Schöpfer und Betrachter, weil sie den Blick zur Suche nach
einer festgefügten Bedeutungsordnung verdammt. Vergessen wir
diese alberne Fixierung aufs Konventionelle, so bleibt alles offen. Und
es wird klar, der Zeichner hat sich, wie verspielte Kinder das tun,
seinen Einfällen und manchen Zufällen
überlassen, nicht um, so darf man mutmaßen, die ihn
umgebende Welt zu exemplifizieren, sondern um – sich selber
überraschend – Unsichtbares sichtbar werden zu
lassen. Buchstaben und schriftähnliche Figuren oder Chiffren,
manchmal auch Textfragmente vergegenwärtigen auf vielen
Blättern diesen Gedanken und geben dem Schriftsteller Recht,
der nach eigenen Worten in seinen Zeichnungen »vor allem das
[wiederzugeben sucht], was ich im Kopf habe«. Ihn deshalb als
Entdecker der Abstraktion zu feiern, erscheint mir gewagt.
Allein,
eine der Spuren, die er selber gelegt hat, führt wieder, wie
so oft, in paradoxe Verhältnisse. So schrieb er in hohem
Alter, quasi als betagtes Kind sich der schulischen Sudeleien
(griffonages)
erinnernd, in einem Gedicht mit dem Titel
L’Art
d’être grand-père (1877):
Improviser
dans
un livre, partout, en haut, en bas, des fresques,
comme on en
voit aux murs des Alhambras moresques,
des taches
d’encre, ayant des aspects d’animaux,
qui
dévorent la phrase et qui rongent les mots,
et le
texte mangé, viennent mordre les marges. [...]
Überall
in einem Buch, oben und unten,
aus dem Stegreif Fresken
anbringen,
wie man sie auf den Mauern maurischer
Alhambras
sieht, Tintenkleckse tierischen
Aussehens, die den Satz
zerfleischen und
die Wörter benagen, und ist der Text
gefressen,
werden die Ränder zerbissen. [...]
In
diesen Versen sind viele der Motive versteckt, die den Zeichner bewogen
haben, mit einer geradezu wilden Attitüde während der
Arbeit alles Schulgerechte über den Haufen zu werfen: das
Spielerische und Aufmüpfige, die kindliche Freude an der
Ordnungsübertretung und an der Geheimsprache der Zeichen,
nicht zuletzt die Erwartung, dass sich in den zufällig
übers Papier verteilten Flecken, Klecksen, Striemen und Linien
etwas zeigt, das bisher unsichtbar blieb – eine
Schöpfung wider Willen. Vielsagend ist auch der Sprung von der
maurischen Arabeske zum textfressenden Tintenfleck. Denn die Arabeske
ist ornamentale Schrift, also ein das Zeichen- und Bedeutungshafte
verschleierndes, nicht zerstörendes Dekor, und zudem
überführt die arabeske Kalligraphie das Funktionale
der Schrift in einen theologisch geordneten Garten schöner
Formen. Hugos komplexe Zeichenwelt präsentiert das Gegenteil:
Sie verschmäht das Ornamentale zugunsten jener
widersprüchlichen Formen, in denen die Spannungen des
Intermediären herrschen. Und das sind Formen, die –
erstaunlich für einen
homme de lettre(s)
– Gefallen auch am Ruin der Buchstabenschrift finden.
Ähnliche,
wenn auch anders gestaltete Spannungen zeigen zwei zeitlich und formal
benachbarte Ruinen-Stilleben vom Ende der 1840er Jahre. Das Blatt mit
der Inschrift »Hic clavis alias porta« habe ich
oben bereits vorgestellt. Auch die zweite mit Hilfe verschiedener
Medien (schwarze und braune Tintenlavierungen, Graphitstift,
Reißkohle) und Techniken (Aussparungen, Gouache, Abrieb)
realisierte Zeichnung
enthält
eine lateinische Inschrift. In der linken unteren Ecke ist zu lesen:
»Non liber monet, non gladius servat« / Nicht mahnt
das Buch, noch schützt das Schwert. Im Gegensatz zur ersten
Darstellung, die den Blick in einen düsteren, perspektivlosen,
von zerstörten Mauern begrenzten Raum lenkt, geht hier die
Blickrichtung von Innen nach Außen. Allerdings ist die
dargestellte Welt alles andere als romantisch und ruft bei uns, den
Augenzeugen zerbombter Städte, vergleichbare Bilder vors
innere Auge. Auf dem Blatt besteht ein merkwürdiger Kontrast
zwischen der zwar falschen, aber doch sorgfältig elaborierten
Geometrie des offenen Dachgestühls im oberen Teil und den
gestaffelten, aber zerstörten und in Abgründe
führenden Gebäuderesten im unteren Teil des Bildes.
Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird vor allem von den beiden, durch
ihre prominente Position (in der Mitte) aufeinander bezogenen Objekte
gefesselt.
Da ist zum einen die, wie es scheint,
auf ein Säulenkapitel aufgesockelte gesichtslose Skulptur mit
dem Schwert in der Rechten und dem aufgeschlagenen Buch in der Linken.
Wortwörtlich genommen, eine
Bildsäule,
die den in der alten Sakralkunst vielfach vertretenen ikonographischen
Darstellungstypus des Apostels Paulus aufgreift. Flamel hatte die
Haltung der Paulusfigur in seinem Arkadenbild auf dem
Cimetière des Innocents nur leicht abgewandelt, um die Figur
in eine alchemistische Hieroglyphe umdeuten zu können. Hugo
hingegen gestaltet die Figur in der Art einer kostümierten
Gliederpuppe
(mannequin). Selbst wenn in dem Bild
Hugos freie, selbstkritische Religiosität
verschlüsselt sein sollte, wofür die Nähe
des Paulus wie des Flamel zum Lutherschen Protestantismus ein Zeichen
sein könnte, so widerspricht dem doch im Grunde dieses
bemerkenswert anschauliche Ensemble aus Zerstörung und
physiognomischer Negation.
Im Genie-Kapitel seines
viele Jahre nach der Zeichnung entstandenen Shakespeare-Essays (1864)
zählt der Autor den Apostel zu jenen »hommes de
progrès«, die sich tapfer für die Idee
der Freiheit geschlagen haben. Hugo schrieb den Essay im Exil, und es
macht – wie bei manchen Interpreten geschehen –
keinen Sinn, diesen Text zur Deutung der Zeichnung heranzuziehen.
Aufschlussreicher ist das hochragende Objekt im hinteren Zentrum der
Zeichnung, das wahrscheinlich die aus der Distanz unscharf
wahrgenommene pariser Tour Saint Jacques (de la Boucherie) andeuten
soll. Immerhin hatte Hugo in der Zeit vor der Verbannung nicht nur
diesen pittoresken Turm, sondern auch andere pariser Stadtbilder in der
ihm eigenen imaginativen Manier aufs Papier gebannt. Galt ihm St.
Jacques-de-la-Boucherie um 1830 noch als
»Oppositionskirche«, so wirkt das verwaschene Bild
ihres Turms inmitten von Ruinen nach der gescheiterten
Februarrevolution von 1848 wie ein Zeitkommentar. Tatsächlich
hat sich Hugo Ende der 1840er Jahre mit großer Energie in
zahlreichen öffentlichen Auftritten für die Rechte
der Verelendeten, für die Pressefreiheit und gegen die
Todesstrafe ausgesprochen. Das Bild scheint eher das Scheitern solcher
Bemühungen zu illustrieren, zumal sein epigraphischer
Kommentar »Nicht warnt das Buch, noch schützt das
Schwert« die wohltuenden Wirkungen sowohl der geistigen als
auch der politischen Ordnungsmächte verneint.
Eine
andere, weniger zeitgebundene, aber deshalb durchaus nicht abgelegenere
Bilddeutung lässt sich wieder mit Hilfe des
poetisch-alchymistischen Schlüssels herbei zaubern. Der Name
Flamel ist ja bereits gefallen, und St. Jacques gehört nun mal
zu den verwunschenen Orten der priesterlichen Ars Magna. Hält
man das vorliegende neben das »Hic clavis alias
porta« beschriftete Bild und folgt der oben vorgeschlagenen
Deutung, so bilden beide zusammen ein Dyptichon, dessen verschiedene
Darstellungen einander wechselseitig kommentieren: hier ein
zerstörter Außen-, dort ein ruinierter Innenraum,
beide nach unten haltlos offen, die körperlichen Formen
verrätselt, mit lateinischen Bildinschriften wie Grafitti
alter Zeiten, negative Semantik. Es ist, so gesehen, wieder ein freies
Spiel mit den Requisiten der Ars Magna, die hier im Dyptichon eine
pittoreske Bühnenkulisse bilden. Die Geheimnistuerei mit den
Inschriften macht das Spiel zum Vexierspiel. Und zu allem
Überfluss hat Hugo 10 Jahre später auf die rechte
Leiste des Bilderrahmens der Pauluszeichnung einen
›Ausgang‹ mit der ironischen Überschrift
»ULTIM[A] PORT[A]« und irgendwelchen drolligen
Figuren gezeichnet. Das verbindet zwar den Rahmen mit dem Athanor-Bild,
es hilft aber dem, der nach dem Schlüssel sucht, kein
Schrittchen weiter. Nein, es ist doch nützlich, da es den
Deutungshungrigen zur Raison bringen, will sagen: in die Rolle des
still genießenden Betrachters zurück versetzen kann.
Bilderschriften, SchriftbilderDie
Schriftkunst als Fach der Ars Magna mit der Baukunst zu verbinden, ist
– wie bereits gezeigt – eine zwingende Idee, der
Hugo auf vielen seiner Zeichnungen gern nachgegeben hat. Es ist ihm oft
einerlei, ob der als Schriftbild in die Mitte oder an den Rand der
Zeichnung gesetzte Schriftzug – er favorisiert das
Lateinische – mit dem Dargestellten etwas zu tun hat.
Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe er, wie in
Notre-Dame
de Paris beschrieben, die (gezeichneten) Wände und
Mauern nur als Unterlage für dies oder jenes Grafitto nutzen
wollen. Manchmal sind die Buchstaben wie auf dem Dyptichon in der
Manier des Relief Printing quasi in Stein geritzt und daher Teil des
gezeichneten Gemäuers. Hin und wieder kommt es vor, dass der
Zeichner die Buchstaben stark verfremdet, um einen piktografischen
Effekt zu erzielen.
Ein schönes Beispiel
für das auf diese Weise zwischen Bild und Schrift sich
entfaltende alchymistische Interludium zwischen Semantik und
Willkür bietet das Blatt mit der Ortsbezeichnung
Marine
Terrace, datiert auf den 21. Mai 1855, den Vorabend des
Namenstages der hl. Julia und der Geliebten Juliette zugedacht.
Beherrscht
wird diese trübe Landschaftsvedute mit Haus von einem
chimärischen Flugobjekt, das, gemessen an seiner plastischen
Beschaffenheit, eigentlich zu schwer ist, um fliegen zu
können. Trotzdem nenne ich es einen Drachen und meine damit
weniger das leichte, geschickt im Wind gehaltene Spielgerät,
als vielmehr das geflügelte Echsentier der Fabelwelt.
Natürlich zeigt das hier sichtbare Gebilde keine
wortwörtliche Drachendarstellung, aber die hybride –
halb animalische, halb vegetabilische – Form lässt
immerhin die Spuren eines geschuppten, mit Klauen, Zacken und Schwanz
bewaffneten Monstrums erkennen. Der geflügelte Drache mit der
geschuppten Haut des in Erdhöhlen hausenden Reptils ist eines
der ältesten hermetischen Symbole, dessen vielgliedrige Formen
in
einer Gestalt die Reisen des alchemistischen
Dämons zwischen den Elementen der Luft und der Erde
verkörpern.
Der Zeichner hat dieses
Symbol in eine Chiffre verwandelt, die eine gewisse
Ähnlichkeit mit den Zier-Initialen der im alten Stil
illuminierten Manuskripte nicht verleugnen kann. Die Chiffre
umschließt insgesamt 4 ineinander verschlungene Buchstaben:
»VH« für Victor Hugo und
»JD« für Juliette Drouet, das
Monogramm des Meisters in
roter, das der Geliebten
in
grüner Farbe. Wieder gibt die poetische
Alchymie Aufschluss: Denn die gelungene Fusion gegensätzlicher
Substanzen wird in der Ikonologie der Ars Magna als Vereinigung des
weiblichen mit dem männlichen Geschlecht dargestellt. Rot
versinnbildlicht in dieser Konjunktion das Trockene und Heiße
der männlichen, Grün das Feuchte und Kalte der
weiblichen Sphäre. Der symbolvermittelte Ausdruck ist eins mit
den Formen des Denkens, die sich wandelnde, weil häutende
Schlange »seit Adam« – so Hugo
– das Symbol der dynamischen, ordnungssprengenden
Intelligenz. Es ist daher sehr schmeichelhaft für Juliette,
dass Hugo ihr in der Drachenchiffre einen dicken geringelten
Schlangenkörper angehängt hat.
Entstanden
ist die Zeichnung im 4. Exiljahr auf Jersey,
Marine Terrace
der Name des von Hugo und den Seinen bewohnten Hauses. Dessen Abbild
unten rechts hat zum Modell ein Foto, das Charles Hugo wenige Jahre vor
dem Entstehen der Zeichnung aufgenommen hat; wahrscheinlich hat der
Zeichner, um die weißliche Aussparung auf seinem Blatt zu
erreichen, danach eine Schablone zugeschnitten. Hugo selbst war ein
eifriger Befürworter der neuen Kunst, mit Hilfe der technisch
verbesserten Camera obscura und anschließenden Iodin- bzw.
Quecksilberanwendungen geheimnisvolle Bilder aus dem Nichts
hervortreten zu lassen. Er selbst hat nicht mit der Kamera hantiert,
aber auf Jersey zusammen mit seinen Söhnen und Freunden ein
gediegenes Fotoatelier eingerichtet, aus dem eine große Zahl
von Porträtaufnahmen des Dichters in der Pose des auf den Fels
Verbannten – ein anderer Prometheus –
hervorgegangen ist. In diesem Zusammenhang von der Verwandtschaft der
frühen Fotografie mit der Alchemie zu sprechen, ist im
übrigen keine Fantasterei. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts war
das eine selbst bei den positivistischen Beobachtern dieser neuen
Bildertechnik verbreitete Auffassung. Eugène Durieu,
Mitbegründer der
Société
française de la Photographie, verglich in seiner
Inauguraladresse von 1855 ganz offen den Fotografen mit dem Alchemisten
und begründete das unter anderm mit dem von beiden verfolgten
Zweck, Unsichtbares sichtbar zu machen und überhaupt den
Geheimnissen der Natur auf den Grund zu gehen.
EpilogHugos
Sympathie für die poetische Alchymie hat sein Interesse
für die technischen Seiten der Bildwahrnehmung und -produktion
eher bestärkt als behindert. Es ist hier nicht der Ort, seine
Beschäftigung mit der physikalischen Optik, mit den
Geheimnissen der Astronomie und mit den Verfahren der fotografischen
Bildentwicklung näher zu beschreiben. All diesen
Aktivitäten gemeinsam ist die Suche nach Erweiterung der
Wahrnehmungs- und damit zugleich der Ausdrucksmöglichkeiten
jenseits dessen, was dem gewöhnlichen Bewusstsein behagt.
Für
Hugo war das Zeichnen auf Papier keine Kompensation der literarischen
Produktion, eher eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Was sich
wiederum nicht ohne Hinweis auf einen eklatanten inneren Widerspruch
behaupten lässt. Denn insbesondere zeigen die zahlreichen
gegenstandsfernen Blätter aus seinem Nachlass, dass er mit dem
Begriff der »Träumerei«
(rêverie)
– ein Schlüsselwort seiner Poetik
– auch einen Zugang zur gestaltlosen Nacht des Unbewussten
verband. Das zu erklären, dazu bedarf es nicht der von Carl
Gustav Jung erdachten psychologistischen Ziselierung alchemistischer
Symbole. Für Hugo war die Arbeit am Zeichentisch zum einen
therapeutisch, nämlich eine Möglichkeit, ohne formale
und soziale Zwänge tief in den Brunnen der Imagination hinab
zu steigen – auch »eine vergnügliche Art,
sich zwischen zwei Strophen die Zeit zu vertreiben«, schrieb
er an Baudelaire. Zum andern kam diese Freiheit mit der Lizenz
überein, ungestraft gegen geltende Regeln der Bilderfindung
verstoßen und eingeschliffene Darstellungskonventionen
überwinden zu können. Es sind insbesondere seine
experimentellen, vom Zufallsprinzip gesteuerten Zeichnungen, die ihm im
20. Jahrhundert den Weg in die Ahnengalerie der avantgardistischen
Moderne geebnet haben. Merkwürdig, dass dabei die Anregungen
der Ars Magna übersehen wurden.
Literatur
BAUDELAIRE,
CHARLES: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Ders.:
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Abbildungsnachweise
Abb.
1: Tafel Nr. 2, in Fulcanelli 1972
Abb. 2: Nr. 182, in
»du chaos dan le pinceau...« 2000
Abb. 3:
Nr. 76, in Chomard/Harth 2008
Abb. 4: Nr. 102, in
Chomard/Harth 2008
© Alle im Text zitierten
Übersetzungen französischer Quellen sind Eigentum des
Verfassers, D. H.