Dieter Henrich

im Gespräch mit Renate Solbach
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Zukunft im Enden


Die These vom Ende der Kunst: Lesarten und Korrekturen

Solbach: Hegels These vom Ende der Kunst genießt über die philosophischen Fachgrenzen hinaus einen gewissen Ruf. Nicht jedem ist klar, was diese These bedeutet. Es war ja nicht Hegels Ansicht, die Kunst werde irgendwann absterben, so wie Marx dies dem Staat prophezeit hat. Aber dass sie in der Moderne nicht mehr die angemessenste Form sei, in der sich der Geist Geltung verschafft – mit dieser Ansicht steht Hegel nicht allein. Welchen ›guten‹ Sinn besitzt in ihren Augen die These vom Ende der Kunst?

Henrich: Man muss von zumindest zwei Thesen Hegels sprechen, denen zufolge die Kunst an ihr Ende gekommen ist. Zum einen kann im Kunstwerk nicht mehr das Wissen von dem konzentriert und inkorporiert sein, aus dem alles Wirkliche, die Subjekte und ihr Weltverhältnis eingeschlossen, begründet ist und sich ausformt. Vor keinem Kunstwerk beugen sich die Knie, und keine Aufführung ist zugleich das Fest eines Gottes. Dies Ende war nun aber schon mit dem Niedergang der griechischen Klassik eingeleitet. Jedoch ist nach Hegel auch das, was bis ins 18. Jahrhundert die Form von Kunst ausmachte, in einen Zerfall übergegangen, der zudem nicht mehr umzuwenden ist: Die Bewegtheit des Lebens der menschlichen Subjektivität und die Wirklichkeit der äußeren Gegenstände sind auseinander getreten. Zwischen der Erhebung des Subjekts über die Welt im Spiel seiner Einfälle auf der einen Seite und einer naturalistischen Abschilderung der Welt auf der anderen kann es keine Vermittlung, also keine wechselseitige Integration mehr geben. Darum ist aus dem Kunstwerk das, was in Hegels Sinn dessen Wahrheit definiert, die gediegene Einheit von innerem Form- und Lebensprinzip mit äußerem Dasein, notwendig entschwunden. Das schließt nicht aus, dass eine Kunstproduktion weitergeht und sich auch noch weiter perfektioniert, die aus historischer Bildung, aus ästhetischem Sinn, aus dem Sinn für ein von Reflexion durchzogenes Spiel und aus gesellschaftlichen Bedürfnissen aller Art hervorgeht. Sie kann zudem von einem Wissen und Selbstverstehen umgriffen sein, das selbst nicht die Form von Kunstproduktion anzunehmen vermag.

Diese Diagnose ist eindrucksvoll – auch weil sie sich allem entgegenstellt, was in Hegels Zeit en vogue war: darunter sein Freund Schelling, der (als Präsident der Münchener Akademie der bildenden Künste) eine letzte große Synthesis im Epos der Moderne voraussagte, und all den zahlreichen  Programmen zum Wiedergewinn monumentaler oder religiöser Kunstformen.

Aber Hegel hat seine Diagnose selbst nicht in aller Konsequenz durchgehalten. So hat er, um  Goethes West-Östlichem Diwan und Rückerts Poesie, die er hochschätzte, gerecht werden zu können, schließlich noch den Begriff eines ›objektiven Humors‹ als einer Synthesis von subjektivem, aber nicht auf Destruktion zielendem Spiel und in sich belebter Gegenständlichkeit eingeführt. Er ist jedoch innerhalb der Gesamtarchitektur seines Systems nicht konsequent und stabil zu definieren. Vor allem aber hat Hegel kein Verhältnis zu den bedeutendsten Kunstleistungen seiner Zeit gewonnen oder begründen können: Zur Musik der Wiener Klassik, insbesondere Beethovens, und zur späteren Dichtung seines eigenen Freundes Hölderlin.

Man muss folglich das, was in seiner Diagnose augenöffnend ist, auf eine andere systematische Grundlage stellen und in sie einfügen. Festhalten sollte man daran, dass moderne Kunst reflexionsentsprungen und -durchzogen ist und dass auch historisches Bewusstsein für sie unabdingbar ist. Des weiteren sollte man insoweit an Hegels Definition von Kunst festhalten, als auch moderne Kunst, wo sie unbeschnitten als Kunst gelten kann, darauf aus ist, in ihrer Werkform die Wirklichkeit von Subjektivität zu erreichen und etwas von ihr und ihrer Grundverfassung verstehen zu lassen. Doch die Proklamation von  Kunstprogrammen, die Kunst und Leben in einen universalen, direkten und also nicht reflektierten Bezug setzen wollen, und die Erwartung von allbefassenden Aufschlüssen durch Kunstwerke müssen preisgegeben bleiben.

Solbach: Sie haben in Schriften und Vorträgen für die Moderne nach Hegel eine Kunst reklamiert, in Bezug auf die sein Verdikt nicht gilt, die also als genuiner Zugang zur Wirklichkeit gelten muss, der nicht in der Sprache der Theorie und des Begriffs aufgehoben und durch sie eines Besseren belehrt wird. Wäre das in Ihren Augen eine zweite, von der ersten, historischen, so grundlegend unterschiedene Kunst, dass die Begriffe, in denen man sich über die erste Kunst verständigt, für sie nicht gelten et vice versa?

Henrich: Man muss, um Hegels Sprache zu variieren, das Wissen vom Absoluten von einem absolutem Wissen unterscheiden. Ist das Verstehen des Menschen, das ihn selbst und seine Wirklichkeit betrifft, wie Luther nach Paulus sagt, ›Stückwerk‹, dann kann ihm in der Form der Kunst ein Aufschluss über ihn zukommen, der sich in die Weisen seines Wissens von sich einfügt, ohne zur Gänze in eine andere Sprachform übersetzbar zu sein. Verharrt man dennoch weiter auf der Grundlage von Hegels System, dann müsste man nun allerdings sagen, dass dies eine gegenüber der historischen völlig neue Gestalt von Kunst zur Folge hat. Aber Hegels ganze Emphase geht ja doch gerade dahin, die Unterscheidung  zwischen Wissen vom Absoluten und  absolutem Wissen für illegitim und widersprüchlich erklären zu können. Wer sie dennoch macht und ausarbeitet, wird sich  nicht nur von Hegels Grundlegung entfernen, sondern auch die Geschichte der Kunst insgesamt anders als Hegel erklären müssen.

Und in der Tat: Hegels eigene Analysen der ›orientalischen‹ Kunst und der Kunst nach dem Zerfall der antiken Welt lassen sich  vergleichsweise leicht in einen anderen Rahmen transponieren. Hegel blieb Klassizist in dem Sinne, dass er einzig der griechischen Kunst, und deren höchster Manifestation, der Plastik des Phidias, die vollendete Realisierung des Kunstbegriffes zuerkannte. Dafür hatte er freilich eine höchst subtile Erklärung, die noch kaum verstanden ist. Er konnte nämlich das scheinbare Paradoxon verständlich machen, wieso denn die aufgeklärten Athener, die genau wussten, dass Phidias die Athene im Parthenon-Tempel geschaffen hatte und die auch ihn deshalb verehrten, in der Skulptur, und zwar buchstäblich, nicht nur vermittelt durch deren Bild, ihre Göttin anbeten konnten und sogar mussten. Er erklärt dies, kurz gefasst, daraus, dass das Absolute seinem Wesen nach ein Sich-Manifestieren ist, dass es in der Epoche der Kunstreligion in der schönen Gestalt des Werkes zur Manifestation kam und dass der Künstler nur ein Medium ist, vermittels dessen sich diese Manifestation realisiert.

Wir unsererseits können die Kunst der entfalteten Moderne durchaus in die Gesamtgeschichte der Künste integrieren – wenn wir nur dabei über eine differenzierte Theorie der Dimensionen der Kunstproduktion verfügen und wenn wir dann die Voraussetzungen der Modernität, die Hegel wenigstens zu einem wichtigen Teil als erster formuliert hat, konsequent in sie einbringen. Wir können es zumal dann, wenn wir, wie wir doch sollten, den Horizont erweitern und Lascaux, die Venus von Möllendorf und Stonehenge in die Geschichte der Kunst einbeziehen.

Solbach: Die Postmoderne wurde rasch wieder abgeblasen, nachdem man sich darüber verständigt hatte, dass der Schlichtheit ihrer begrifflichen Grundlagen in den Künsten eine naive Inszenierung entsprach, mit der nicht viel anzufangen war. Dennoch bleibt der Ausgangsbefund bestehen: dass die sogenannte ›klassische Moderne‹ zwischen Baudelaire und dem Surrealismus inzwischen in eine historische Distanz gerückt ist, die von den Menschen empfunden wird und beschrieben werden kann. Bietet die Philosophie Mittel, diese Distanz zu beschreiben?

Henrich: Ich habe mich immer über die Einfalt gewundert, mit der ein Begriff, der in der Architekturtheorie Sinn machte, auf den Geschichtsprozess übertragen worden ist. Es machte Sinn, gegen die Fortschreibung des Bauhausprogramms anzugehen. Darüber sind für eine kurze Zeit sehr akzeptable Bauten entstanden. Das hat aber mit dem angeblichen Auslaufen einer Grundströmung, die schon im 17. Jahrhundert dominant geworden war, schlechtweg gar nichts zu tun.

Das Bauhausprogramm lässt sich den vielen Kunstprogrammen zuordnen, die für die klassische Moderne charakteristisch gewesen sind. Sie waren allerdings zumeist kurzatmiger und weniger durch Evidenzen der gelebten und also auch gebauten Umwelten gesättigt als das Bauhausprogramm es war. In ihm haben sich die Impulse, die schon den Impressionismus in der Malerei beherrschten, gegen die monumentalisierenden und zugleich historisierenden Tendenzen der Architektur der Zeit seit dem mittleren 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Insofern ist dies Programm noch heute maßgebend und letztlich auch noch für die fundierend gewesen, die, wie etwa Stirling, ihm entgegen angetreten sind. Es ist aber eine für die moderne Kunst konstituierende Grundbedingung, dass sie sich von universalistischen Ansprüchen fernhalten muss.

So war die dichte Folge von proklamierten Kunstprogrammen, die auch mit so bedeutender Kunst wie der des Kubismus zusammenging, eine Folge einer bestimmten Situation in der Entfaltung der Moderne: Kunst ist immer erkundend. Dies ist ein wichtiges Prinzip zur Erklärung ihrer Dynamik, das ich in dem Versuch über Kunst und Leben des näheren begründet habe. Nach einer Phase, in der die Erkundung unter der Dominanz nicht nur der Reflektiertheit, sondern auch der Beherrschung der historischen Stilformen in Kombination mit den neuen technischen Möglichkeiten und Materialien stand, trat um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Phase ein, in der ganz neue Möglichkeiten der Gestaltung im Ausgang von letztlich derselben Bedingungslage aufgeschlossen und erkundet wurden. Daraus ergab sich – etwa bei Kandinsky - das Missverständnis, dies Neue in revolutionären Proklamationen als das Gründende eines Ganzen von Verstehen unter hypertrophe Ansprüche zu stellen. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies dieselbe Zeit war, in der sich Programme zur politischen Revolution, die auf eine grundstürzende Veränderung der Lebensverhältnisse ausgingen, in ähnlichen Proklamationen zur Darstellung brachten. Sie waren nicht nur in sich Versuche, die sozialen Verhältnisse wie das Material eines Ingenieurs zu behandeln oder ihnen eine Kunstgestalt aufzuzwingen. In Russland und in Italien waren sie zunächst mit Kunstprogrammen ganz direkt und explizit assoziiert.

Die Reflektiertheit moderner Kunst ist aber etwas ganz anderes und viel Subtileres als die praktische und die politisch-projektierende Intelligenz, die in Proklamationen eingeht. Wir können also den Programmieraspekt in der klassischen Moderne an seinem historischen Ort begreifen und als vergangen erfahren. Dadurch werden aber Werke wie die von Cézanne oder von Picasso nicht in jene historische Distanz weggerückt, die es ausschließt, dass Betrachter in ihrer Subjektivität von ihnen noch betroffen werden können.

Solbach: Sie halten also nichts von einer Vermengung der ›Mythen der Moderne‹, ihren ›großen Erzählungen‹, wie Lyotard das ausdrückte, mit dem, was Sie die »Grundströmung« der Moderne seit dem 17. Jahrhundert nennen. Doch woran drückt sich diese Grundströmung aus, wenn nicht in mehr oder minder ›radikalen‹ Programmen, die ja nicht nur in der Kunst nachweisbar sind? Vor allem: Worin läge die Logik ihrer Abfolge?

Henrich: Die Grundströmung der Moderne beruht darauf, dass eine Distanz des Menschen aufkommt und sich etabliert – eine Distanz zu den Weltinterpretationen, die zu generieren und in die sich einzufügen ihm naheliegt, was ihm durch die überkommenen Institutionen und Religionen noch weiter zwingend gemacht ist – damit auch eine Distanz zu den Selbstbildern, die in diese Weltinterpretationen eingefügt sind. Es ist dies dieselbe Distanz, welche die Reflektiertheit seines Lebens ausmacht, die als konstituierender Teil einer neuen Lebensform zu verstehen ist. Mit ihr zusammen geht notwendig eine Aufmerksamkeit auf verdeckte Tendenzen und Dynamiken in diesem seinem Leben und die Bemühung, sich über sie zu verständigen und sie sich entfalten zu lassen, ohne dabei aber jene Reflektiertheit etwa wieder preiszugeben, der sich die Aufmerksamkeit auf sie doch verdankt.

Daraus ergeben sich sehr viele Folgen. Ich nenne nur die Betonung der Individualität des Einzelnen, die Fähigkeit zum Heraustreten aus Institutionen, aufgrund derer dann umgekehrt andere, moderne Institutionen konzipiert werden können, die Spontaneität des Prozesses der Bildung statt der Erziehung auf Vorgaben hin als Grundlage einer neuen Pädagogik, die Zuspitzung von Spannungen wie der zwischen Absturzgedanken und Selbstvertrauen.

Was die Kunst betrifft, so folgt daraus eine Lockerung von Stilprogrammen und eine Verstärkung der Bereitschaft zur Erkundung von veränderten Gestaltungsweisen, wobei diese Tendenz, wie gesagt, ohnedies aller Kunst innewohnt. Das allein kann, sind die Voraussetzungen in der inneren Entwicklung eines Kunstmediums dafür einmal erreicht und bewusst geworden, die Bereitschaft zu radikalen Umstellungen und ganz neuen Konzeptionen von Kunst begünstigen – so wie in der Frühromantik und dann um den Beginn des 20. Jahrhunderts.

Diese Bereitschaft kann des weiteren aber auch durch neu gewonnene Einsichten in die Dynamik der Subjektivität selbst begünstigt werden, ebenso durch die (und sei es vermeintliche) Entdeckung von Möglichkeiten, die innerhalb eines Kunstmediums die Freisetzung von anderen Dimensionen der Subjektivität begünstigen – etwa Mitte des 19. Jahrhunderts in dem Versuch, die Musik poetisch werden zu lassen.

Aber dem voraus liegt das Zusammengehen von Reflektiertheit mit der Aufmerksamkeit auf die Dynamik und die Bedingungen von freigesetzter Subjektivität. Die Rapidität der in allen Umbrüchen dennoch konsistenten Entwicklung der Wiener Klassik vom späteren Mozart über Haydn zu Beethoven und zu dem Kontrast in Kontinuität Schubert ist dafür ein Beispiel – samt der außerordentlichen Bewusstheit der Architektur von subtil komponierten Formverläufen und ihrer Resonanz im bewussten Leben, die für sie maßgebend gewesen sind.

Hegel hat die grundlegende Bedeutung der Reflexionsdistanz aufgewiesen. Die grundlegende Bedeutung von Subjektivität als Thema und als Explikationsmittel der Kunsttheorie hat er wohl gesehen, aber nicht zutreffend lokalisieren können. Sein letztlich klassizistischer Kunstbegriff und sein Grundgedanke der Manifestation des Absoluten in äußerer Wirklichkeit haben ihm das unmöglich gemacht. 

Von der Notwendigkeit und Hinfälligkeit der Kunst

Solbach: In Ihrem Versuch über Kunst und Leben schreiben Sie: »Nur in Kunstwerken kann die gesamte Dynamik der Subjektivität auf andere Weise als innerhalb von deren eigener Bewegung vergegenwärtigt werden.« (S. 226) Das heißt doch auch: Besäßen wir nicht die Kunst, so gäbe es zwar weiterhin Subjektivität, aber es wäre nicht möglich, sie anders als im unmittelbaren Vollzug zu ›vergegenwärtigen‹, also auch zu erfahren. Aber wozu bedarf es dann des zweiten Mediums? Genügt es nicht vollauf, philosophierend um sie zu wissen und zu begreifen, dass sie in den Formen rationaler Verständigung nicht völlig präsent sein kann?

Henrich: Menschen würden ihr bewusstes Leben führen, auch wenn es keine Kunst gäbe,  ebenso wie ohne die Philosophie als Wissensdisziplin. Sie führen es in ihrem Wissen von sich, im Bewusstsein der Spannungen und im Vollzug der Tendenzen, die in ihm aufkommen, in einer Antizipation dessen, worauf es hinaus will und in Gedanken oder Ahnungen von dem Grund, in den es als ganzes eingelassen ist. Weder Kunst noch professionelle Philosophie sind für dies Leben also schlechthin unentbehrlich. Aber die Philosophie ist dennoch fast zur Gänze und die Kunst zu einem gewichtigen Teil in dieser Lebensdynamik begründet. Zudem sind Kunst und Leben auf eine für beide wesentliche Weise aufeinander bezogen.

Auf der einen Seite wird die Kunstproduktion durch die Aufgabe der Selbstverständigung herausgefordert, die sich für das Leben mit Notwendigkeit stellt. Ihre ästhetischen Grundlagen entfalten sich zwar ganz in Zusammenhang mit Gesetzen des Wahrnehmens. Es ist also wichtig, sie von dieser Aufgabe strikt zu unterscheiden, und eine Elementarästhetik diesseits der Kunsttheorie zu entwickeln. Aber die Kunstproduktion kann in den ästhetischen Rahmen Entwürfe von Welten stellen und den Verlauf von Leben in solchen Welten in ihren Gestaltungen hervortreten lassen, die wie Wirklichkeiten auf den Menschen zukommen. Damit erweitert sich die Komplexion des ästhetischen Rahmens ebenso wie der Spielraum der Kunstproduktion. Das Lebensgewicht der Kunst erhöht sich und in einem mit diesem Gewicht die Herausforderung, unter der sie steht, sowie die Erkundungskraft, die sie in Anspruch nimmt.
  
Auf der anderen Seite werden dem Leben in Kunstwerken Perspektiven zu seiner Verständigung erschlossen. Selbst dem Schein nach ganz Einfaches wie Teetassen und Volkslieder können Anmutungen freisetzen, mit denen sich ein Horizont gegliederten und verstandenen Lebens  entfaltet. Große Kunstwerke lassen aber als solche aufgehen, was es heißt, ein Ganzes des Lebens erschlossen zu haben. In vormodernen Gesellschaften können sie darum die Bedeutung von wirklichen Maßstäben des Lebens haben, so noch heute das Ramayana in der Praxis des Wayang kulit, des indonesischen Schattenspiels. Aber auch für die freigesetzte Subjektivität sind sie ein Muster für das, worauf dies Leben aus sich selbst heraus ausgreift. Solche Werke können das Leben also zu sich selbst ermutigen, in dem, was es als ihm wesentlich erfährt, ergreifen, und es aus Aporien oder aus dem Versanden im Gleichgültigen befreien, wenn vielleicht zunächst auch nur für die Zeit der aktuellen Erfahrung des Werkes.

Die rationale Verständigung bleibt nichts desto weniger wesentlich. Sie ist mit der Reflektiertheit des Lebens im Bunde, und nur in ihr kann über die Beziehungen von Kunst und Leben und über dies Leben selbst eine stabile Rechenschaft gegeben werden. Allerdings kann gerade sie auch in die Irre gehen. Dann kann sie wie nichts sonst dazu beitragen, dass Kunst und Leben in eine Einheit hinein hochgesteigert werden. Das Leben der Individuen ist aber deformiert, wenn es als Kunstwerk geführt wird. Und sogar die schlimmsten Staatsverbrechen sind mit der Vorstellung verbunden gewesen, man könne das Zusammenleben der Menschen zum Kunstwerk oder wie ein Kunstwerk ausgestalten.

Solbach: Dieser Gedanke, Kunst und Leben könnten ineinander aufgehen, ist von Künstlern oft als Lüge bezeichnet worden und sie haben nicht selten versucht, ihm mit Mitteln der Deformation innerhalb des Kunst zu begegnen. Wäre in Ihren Augen die ästhetische Deformation ein probates Mittel, die unaufhebbare Differenz von Kunst und Leben in der Kunst zu markieren? Wo sehen Sie den Punkt, an dem die ästhetische Überformung das Leben zu deformieren beginnt?

Henrich: Künstler haben wirklich dem ästhetischen Idealismus des Lebens durch kalkulierte Formbrüche entgegengewirkt. Schon die Frühromantik hat dafür die Stichworte gegeben. So lassen sich Versuche suspendieren, in das eigene Leben eine harmonische Form zusammen mit einer möglichst großen Mannigfaltigkeit einbringen zu wollen und sich einzubilden, man habe damit dem ästhetisch ausgewogenen Kunstwerk als einem gültigen Muster für das Ziel der Lebensführung entsprochen. Es ist legitim und wichtig, sich auch auf diesem Wege einer Fehldeutung des Menschenlebens zu entziehen, die in den klassischen Epochen allerdings oft nahegelegen hat.

Die Problemlage in dieser Sache ist aber doch noch komplizierter. Zunächst muss man erwägen, dass es ja durchaus möglich ist, Formbrüche in Kompositionen als ein für sie konstitutives Moment einzubeziehen. Über Formbrüche lassen sich dann sogar vertiefte Weisen der Einheitsbildung erreichen. Man könnte sagen, dass sich das Leben eben nach solchen Mustern als Kunstwerk ausgestalten lässt und ausgestalten sollte – und zwar dann unter Einbeziehung und eingliedernder Überwindung von Einbrüchen.

Künstler haben aber eine vergleichbare Einebnung von Kunst und Leben auch unter völligem, zumindest angeblichem Verzicht auf ästhetische Einheitsbildung erreichen wollen. In dieser Linienführung lässt sich, von Beuys' Theoretisieren herkommend, behaupten, dass die Bewusstheit einer, auch unter Einbeziehung und Betonung des Zufalls, gestalteten Alltags-Umgebung und die Bewusstheit des Lebens in der gegenwärtigen Welt zu ein und demselben Lebensprozess zusammentreten können und sollten, dass das Leben so zur Kunst wird, und somit jeder Mensch zum Künstler werden kann.
 
Ich sehe auch in solchen modernen Kunstideologien eine Verdeckung dessen, was für die Wirklichkeit des Lebens grundlegend ist: Das Leben kann niemals in eine Einheitsform von Distanz zu sich und Engagement hineingesteuert werden, die für künstlerische Arbeit (und deren Vollendung in einer für die Kunst charakteristischen Qualität) konstitutiv und unabdingbar ist. Deshalb habe ich die Dynamik des Lebens als Verlauf durch verschiedene Formen von Distanz beschrieben, die einzig in der Erinnerung zusammengeführt werden können. Kunst kann Leben wohl vergegenwärtigen, aber eben auch nur vergegenwärtigen, nicht selbst zu Leben werden. Gerade darin ist jedoch dann aber eben auch ihre Bedeutung für das Leben gelegen.

Zu ergänzen ist noch, dass es wirklich ein Ziel des Menschenlebens ist, sich in eine Vielfalt von Herausforderungen zu begeben, sowie diese Herausforderungen und viele Weisen der Erfahrung in einem Lebensfaden zusammenzuführen. Das ergibt eine gewisse Nähe zum ästhetischen Idealismus des Lebens. Schon Platon hat auf dieser Grundlage einem solchen Idealismus wahrscheinlich einen zu großen Wirkungskreis gelassen. Umso wichtiger ist es, neben der engen Zuordnung auch die Grunddifferenz zwischen Kunst und Leben zu erkennen und präzise zu erklären.

Die ›Lebenskunst‹ der Antike beruhte allerdings auf einem Kunstbegriff, der ganz von der Vollkommenheit des technischen Könnens her gedacht war. Auch wir kennen noch einen ihm verwandten, wenn auch nicht mit ihm identischen Kunstsinn, wenn wir etwa von Steuermannskunst oder von ›artistischen‹ Höchstleistungen in der Zirkuskuppel sprechen. Die Kunst des Steuermanns ließe sich am ehesten als Modell eines modernen Sinnes von Lebenskunst akzeptieren. Denn sie bewährt sich in ganz verschiedenen Wettern und unter zufällig einbrechenden Geschehen aller Art. Doch der Kunstbegriff, der unserem Gespräch zugrunde liegt, ist von solchen Bedeutungen von ›Kunst‹ weit abzurücken. In seinem Kern ist für ihn, trotz aller kalkulierten Abweichungen, die einbezogen sein können, das Kunstwerk im weitesten Sinne und in einem damit die ästhetische Distanz in seiner Betrachtung und Beurteilung konstitutiv. 

Solbach: Ein Gedankenexperiment: Angenommen, der Kunstbetrieb käme durch irgendeinen historischen Zufall oder eine ökonomische Katastrophe zum Erliegen und es gäbe nur noch einen schreibenden, malenden oder musizierenden Dilettantismus, der sich weder um Kunst- noch um Reflexionsmaßstäbe scherte, wie ihn vielleicht ein Andy Warhol erträumte, ohne ihn zu realisieren – wäre das dann noch Kunst? An welcher Schwelle beginnt Kunst, wo endet sie?

Henrich: Unser ›Kunstbetrieb‹ ist durch eine Jahrhunderte währende Entwicklung von einer hoch hinausgetriebenen Programmierung und von formellen und informellen Institutionen abhängig – für die Bildende Kunst von einem Zusammenspiel zwischen Experten, Galerien, Kunstkritikern und Kuratoren von Museen, in neuerer Zeit weniger als früher dazu noch von den Kunstschulen. Arthur Danto hat sie, von Ferne nach Wittgenstein, als die ›Art World‹ beschrieben. Er wollte auch zeigen, dass sie es ist, über die entschieden wird, was überhaupt als Kunst gilt. Und so kann Kunst von einem Allerweltsding durch nichts unterschieden sein. Diese ›Welt‹ könnte leicht kollabieren. Unter Stalin und Hitler war sie schon einmal unter ein ideologisches Reglement gebracht. Bräche die westliche Kunstwelt weg, so könnte man in fortdauernder Beziehung auf sie und in noch andauernder Nachfolge zu ihr vielleicht sagen, dass nun nur noch Dilettantismus zurückbleibt.

Doch zum einen würde das eben nur als der Nachklang einer geschwundenen Epoche anzusehen sein. Eine andere Kunstpraxis würde statt dessen wohl bald aufkommen, die eigene Maßstäbe hätte, und zwar durchaus solche von Kunst – beziehungsweise sie würde diese Maßstäbe wieder entstehen und platzgreifen lassen. Vielleicht lassen sich Aspekte davon schon jetzt beobachten, so, um Beispiele zu nennen, im Design und in dem, was man früher ›Volksmusik‹ nannte und was als Beat und Rock eine erhebliche Selbständigkeit und zudem eine gewaltige Resonanz hat.

Erweitert man den Horizont und schaut auf die Geschichte der Menschheit, so sieht man, dass in ihr immer ästhetische Maßstäbe der Kunstproduktion in Geltung waren, ohne dass diese Produktion einen eigenen Status als Kunst im Sinn der Moderne gehabt hat. Kunst ganz separat vom Handwerk hat es sogar weder in der Antike noch im sogenannten Mittelalter gegeben. Die ästhetischen Maßstäbe, die übrigens in sich sehr variabel sind, waren integriert in magische Praktiken, wie in den Masken der ›Negerkunst‹, die Anfang des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit und Bewunderung fand, oder in die Befriedigung von Alltagsbedürfnissen, wie die Töpferei der Jungsteinzeit. Kunst war auch all dies, und zwar insofern und so lange, als sich in ihr eine Aufmerksamkeit auf in sich konsistente Prinzipien der Gestaltung auswirkte, also auf gefällige Formgebung oder auf deren expressive Kraft, so dass also auch die für Kunst charakteristische Erkundung, Modulierung und Steigerung der ästhetischen Wirkungsweise möglich und nahegelegt war. Letztere konnte allerdings durch eine strenge rituelle Festlegung von Mustern abgebremst werden – so wie etwa in der Ikonenmalerei der orthodoxen Kirche.

Zum anderen haben wir doch seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und seit der Pop Art zu konstatieren, dass das, was man auch frei heraus Dilettantismus nennen darf, zu einer Komponente der Art World geworden ist. Der gut oder scheinbar gut motivierte Gegenzug zum Erwarteten, die Transposition von dem, was aller Kunstproduktion fremd zu sein schien (wie ein Schweinestall auf der Documenta), in den von der Art World etablierten Rahmen wird zur Kunst deklariert. Die Überraschung für den der Art World adaptierten Blick und eine damit zusammengehende Sensibilisierung für Wirkliches wird zu einem hinreichenden Kriterium für Kunst. Dabei kann die Ausführung wirklich durch Dilettantismus im Sujet nach dem herkömmlichen Sinn bestimmt sein, wie etwa beim ärgerlich schlecht malenden Baselitz in seinen Kopfstandbildern. Dies alles setzt aber den Fortbestand der Art World voraus. Es würde mit deren Kollaps sehr schnell verschwinden und einer formsensiblen, wenngleich bescheideneren Kunst Platz machen. Bescheiden kann, um auch das noch zu erwähnen, übrigens auch eine Kunst monumentalen Zuschnitts sein, wofür Christo ein Beispiel gibt.

Nun kann eine Kunst, die wesentlich auf Provokation hinausläuft, etwas für die Dynamik der Subjektivität Wesentliches treffen. Ich meine jedoch, dass sie nicht große Kunst werden kann. Die muss sich auch auf die Dynamik der Subjektivität als solche einlassen und das auch zu verstehen geben. Das Positioniertsein im Rahmen der Art World, der nun nichts mehr ausgrenzt, genügt dafür nicht. Diese Welt lebt derzeit noch weiter davon, dass sie einmal aus der Zuwendung zu großer und maßgebender Kunst entstand und dass sie in ihr stabil geworden ist.

Nun weiß niemand mehr, was als große Kunst wirklich zu überzeugen vermöchte. Ich selbst meine, dass die Minimalbedingung dafür die Erfüllung ästhetischer Kriterien bleiben wird, und eine Erkundungsleistung unter deren Voraussetzung – in welchem Medium und an welchen Grenzen von und zwischen Medien auch immer. Wir können daran zweifeln, ob die Kunstwelt noch weiterhin stabil genug sein wird, um eine Übersicht darüber, oder gar über Weisen des Tiefgangs von Erfahrung, zu ermöglichen. Derzeit jedenfalls dient der Kunstbetrieb auch großer Museen eher dazu, die Ausweitung der Kunstpraktiken und der regionalen Kunsttraditionen zu legitimieren, die in den Wahrnehmungsrahmen der Art World einfach nur hineingeschoben werden und die dort dann ein Durcheinander und auch unter den Experten eine beträchtliche Verlegenheit zurücklassen.
 
Nun aber zu dem Entscheidenden in Ihrer Frage! Kunst endet dort, wo der ästhetischen Verfassung des Gebildes, das entsteht, keinerlei eigene Aufmerksamkeit mehr gilt. Diese Aufmerksamkeit ist auch dann am Werke, wenn das Bilden des Gebildes aus anderen Motiven als denen der Kunstproduktion hervorgeht und wenn sie von diesen anderen Motiven beherrscht bleibt. Ohne diese Aufmerksamkeit kann aber weder große noch bescheidene Kunst entstehen.

Auf andere Weise endet Kunst dann, wenn niemand mehr im Bilden wirklich zu gelungener ästhetischer Verfassung gelangt – wenn etwa nur noch Kitsch oder Programmkunst möglich ist. Von diesem zweiten Ende ist aber das Gelingen bescheidener Kunst immer noch weit abgelegen. Denn auch sie entspricht doch einem tief angelegten Bedürfnis des Menschen als solchen – insofern er nämlich wahrnehmendes Wesen und in dieser Wahrnehmung zugleich seiner selbst bewusst ist und folglich auch seiner Wahrnehmungsart bewusst sein kann.

Solbach: Wenn es eine Sozialisation zur Philosophie gibt, dann gibt es auch eine zur Kunst. Beide sind innerhalb unseres Bildungssystems prestigeerzeugende und -fördernde Institutionen. Nun gibt es unterschiedliche Weisen des Hineinkommens und Hineingeratens, Weisen der Selektion, die, wenn sie nicht klug gesteuert und über ein intaktes Fördersystem für ungewöhnliche Leistungen vor Verirrungen geschützt werden, eine dauerhafte Dominanz des Mittelmaßes zur Folge haben können. Sehen Sie da Gefahren und Abhilfen?

Henrich: Der Vergleich, den Sie aufbringen, hat etwas sehr Erhellendes. Die Philosophie würde mit der Universität und den Institutionen der Forschung so wenig verschwinden wie die Kunst mit der Art World und den Kunstakademien. Denn die Philosophie geht, wie die Kunst, aus einem dem Menschen wesentlichen Interesse hervor. So würde sie aus denselben Motiven, die sie ins Dasein brachten, außerhalb der Institutionen weitergeführt werden. Aber sie würde dort wohl den Anschluss an Kriterien der Exzellenz im Begründen, an die Prüfung ihrer Profundität in ihrem Eröffnen von Perspektiven und an die Herausforderung und Klärung durch professionelle Debatten verlieren. In Deutschland riskiert man es derzeit durch eine sogenannte Studienreform, die Philosophie in der Universität zu einer Hilfseinrichtung, etwa in angewandter Ethik, herunterkommen zu lassen und sie ansonsten in eine Winkelposition, am Ende gar in die Emigration aus der Universität zu nötigen.

Aber es lassen sich viele Institutionen denken, die sie aufnehmen würden. Über Jahrtausende hat die platonische Akademie Vorbildfunktion gehabt, in Florenz ist sie nach bald zwei Jahrtausenden wieder auferstanden. Um die Philosophie braucht man sich also weniger Sorgen zu machen als um die Zukunft dessen, was in Deutschland Bildung hieß und was mit ihr die Selbständigkeit des Geistes ausmacht.

Die Kunst ist da wohl in größeren Schwierigkeiten, insbesondere aber die freie und bildende Kunst. Es scheint in ihr bislang keine Einrichtung zu geben, die mit ihren Urteilen und Auszeichnungen ein Gegengewicht zum in Absurdität ausufernden Kunstmarkt sein könnte – wie in der Literatur, besonders aber in der Musik, wo verlässliche Kriterien für bedeutende Leistung weiterhin in Kraft sind, unter anderem auch durch allgemein angesehene Preise wie den Siemens-Musikpreis instrumentiert. Ihm kommt der Nobelpreis für Literatur an Professionalität und Neutralität nicht gleich. Gibt es aber unstrittige Vorbilder, dann auch eine Orientierung für die Jungen und Nachfolgenden – zum Erreichen derselben Höhe, aber auch zur Gegenprofilierung aus dem Eigensten heraus. Das sind dann die Lehrer, welche die Jungen suchen werden, wozu man ihnen dann so viel als möglich helfen kann und sollte. Ein Teil davon wäre wiederum, dass solche Lehrer auf lange zur Lehre ermuntert und instandgesetzt bleiben.

Für die bildende Kunst scheint da institutionelle Phantasie in ganz anderem Maße vonnöten. Die Art World scheint derzeit nicht dazu imstande zu sein, diese Phantasie selbst freizusetzen und dann auch etwas Wirkungsvolles aus ihr heraus wirklich werden zu lassen. Ich weiß aber selbst keinen schlüssigen Rat. Auch von einer Rundfrage bei den wichtigsten Kritikern und Leitern der Museen für moderne Kunst kann man sich nicht allzu viel versprechen. Da gibt es also ein unbebautes Feld für einen großen Mäzen mit schlechtem Gewissen wie Alfred Nobel.

Über den Zusammenhang von Kunst, Leben und Gegenwart

Solbach: Kehren wir noch einmal zu Hegel zurück. Wir beugen nicht mehr das Knie vor einer Statue oder einem gemalten Gott. Dennoch, sagen Sie, ist die Kunst ein und dieselbe – von den uns bekannten Anfängen in Lascaux und anderswo bis zu den flüchtigen Erscheinungen, die in der aufs Heute gestellten Kunstwelt den Ton angeben. Schließt das nicht ein, dass Künstler nie ganz Heutige sein können, dass sie, gegen die ältere Kunst gehalten, eine Art Stellvertreter- oder Platzhalterrang beanspruchen und durch ihre Gegenwart daran erinnern, dass es im Universum der Bedeutungen keine eindeutigen Sieger und Verlierer gibt? Anders ausgedrückt: Residiert nicht auch in der reflektierten Kunst der Moderne ein vorreflexives Moment, das sich eher mit dem Spiel der Hände verbindet als mit dem bloßen Gedanken, ohne deshalb aufzuhören, Gedanke zu sein und, sagen wir, ein Denken zu konturieren? Was bedeutet vor diesem Hintergrund das Sich-Historischwerden der Moderne sowie die Autonomie der Kunst?

Henrich: Die ganze Vergangenheit und jede Zukunft der Kunst haben, insofern sie Kunst sind, Grundzüge miteinander gemeinsam. Das heißt aber nicht, dass sich Epochen und Formen der Kunst etwa nur unwesentlich voneinander unterschieden. Es heißt auch nicht, dass irgendeiner Epoche eine Dominanz über die folgende Geschichte der Kunst eignet, weil in ihr die Kunst etwa eine schlechthin paradigmatische und letztlich verbindliche Gestalt angenommen hat. Vielmehr ergibt sich die umgekehrte Folgerung: Was Kunst als eine einzige und also in sich einige begreifen lässt, lässt ihr in dieser ihrer Einheit zugleich eine unendliche Variabilität zuwachsen. Diese Variabilität macht auch Gipfelzeiten ganz verschiedener Anlage begreifbar.

Die Gründe ihrer Einzigkeit sind eigentlich nur zwei: Zum einen die ästhetischen Grundtatsachen, zuerst also die Distanz des Menschen zur wahrgenommenen Welt, welche ihn befähigt, in allem Wahrnehmbaren eine höhere Dimension der Zuordnung von bewegter Gliederung und Konzentration in eine Gegebenheit einzubringen und das Gelungensein dieser Zuordnung selbst auch zu gewahren. Zum anderen das Grundbedürfnis, das eigene Leben in einem Weltgehalt und diesen Gehalt in Prägnanz vor sich zu bringen und dabei sein Leben als eingefügt in eine Weltform zu gewahren. Wahrnehmungsgesetze unter Bedingungen von Distanz zur unmittelbaren Welt sowie ein Selbstverhältnis, das samt seiner Weltbeziehung im Medium eines Gebildes auf den Menschen zurückkommt – dies beides und nur dies beides eignet jeglicher Kunst von irgendeinem Gewicht. Beide Gründe sind in sich modifikabel; und eine noch größere Modifikabilität ergibt sich daraus, dass beide zudem auf die unterschiedlichste Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Allein deshalb, weil Kunst über diesen ihren Grund immer dieselbe ist, muss man also nicht fürchten, die Kunst einer Gegenwart werde immer gegenüber dieser ihrer Gegenwart selbst auch abständig bleiben.

Zudem hat man noch andere Quellen für den weiten Spielraum von Modifikationen in der Kunstproduktion zu beachten. Denn Kunst ist nicht nur anderen Weisen des Verstehens benachbart; sie kann auch von ihnen umgriffen, also in sie eingegliedert und durch sie modifiziert sein. Das folgt schon daraus, dass gerade große Kunst in dem Selbstverhältnis des Menschen fundiert ist, das seinerseits alle Weisen des Verstehens durchzieht und auf unterschiedliche Weise auch konstituiert.

Damit kommen wir wirklich zu Hegel zurück. Dessen These vom Ende der Kunst hat nämlich nicht nur die ziemlich leicht verständliche und zu akzeptierende Bedeutung, der zufolge im Medium der Kunst das nicht mehr zur Darstellung kommen, also repräsentiert werden kann, was bereits in Hegels Zeit als die letzte Wirklichkeit zu denken war. Er dachte vielmehr ganz im Ernst, dass ehedem, nämlich im klassischen Griechenland, im Kunstwerk selbst das Absolute, also das als letzter und ganzer Grund zu Denkende und zu Erfahrende, in die Wirklichkeit heraustrat, dass also jenes Absolute im Kunstwerk ganz buchstäblich seine Wirklichkeit, nämlich die des Manifestiertseins gewonnen hat. Die Knie beugen sich vor einem solchen Kunstwerk – und zwar insofern es Kunstwerk ist – nur unter solchen Bedingungen, dann aber auch selbstverständlich. Dass im Kunstwerk eine Kunstreligion sich hat realisieren können, macht im emphatischen Sinne das aus, was für Hegel mit der Moderne nunmehr auch in seinen fernsten Ausläufern definitiv zu Ende gegangen ist. Ich sagte schon, dass dieser Gedanke Hegels in seiner ganzen Komplexion kaum irgendwo klar herausgearbeitet ist. Er lässt sich auch nur dann gut erklären, wenn man Hegels Begriff vom ›Absoluten‹ genau zu entwickeln versteht. In ihm sind, um nur ein Minimum zu erwähnen, ein letztgründender Gehalt und die Bezugnahme auf diesen Gehalt zusammengeführt.

Es wäre offenbar nicht angemessen zu sagen, dass Hegel die Wirklichkeit der Kunst unter den Bedingungen der Epoche der Kunstreligion, also unter der Dominanz einer Religion, etwa an einer Grenze ihres eigentlichen Wesens angesiedelt sieht. Denn in dieser Epoche soll ja das Kunstwerk gerade in Wahrung des ihm eigenen Wesens zur Zentralstellung in einer Religion aufgestiegen sein. Dagegen ist die Kunst der Gegenwart wirklich auch in eine solche Grenzposition gelangt, und zwar aus mehreren Gründen.

Schon länger herrschte Misstrauen gegenüber den Assoziationen, die mit einer Kompositionsart verbunden sind, die über Kontraste auf Geschlossenheit ausgeht und die so mit Hilfe einer ästhetischen Gestaltungsart Versöhnung im wirklichen Leben indizieren könnte. Man versucht deshalb immer wieder, innerhalb der ästhetischen Formation des Wahrnehmens selbst gegen diese Konnotation anzugehen. Das kann bis dahin führen, dass sich ein Trend hin zur Anti-Kunst ausbildet, die alle Gegenstände einer ›bloßen‹ Betrachtung durch Denkzeichen und Aktionssignale zu ersetzen sucht. Eine andere Tendenz kann zu dieser parallel entstehen. Sie geht darauf, die überkommenen Formen der Kunst der Aura zu entkleiden, die ihnen während der Jahrhunderte seit der Renaissance und in der Art World der bürgerlichen Kultur zugewachsen war. Von da aus kann man dann dazu übergehen, Kunst auf ihren Alltagsgebrauch auszurichten und in Alltagsumgebungen zu transponieren, schließlich auch so, dass sie selbst zu solchen Umgebungen wird und von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sein soll. In einem damit werden neue Medien, die auf technischen Entdeckungen und Entwicklungen beruhen, als Medien der Kunstproduktion akzeptiert und dabei in eine eigene Entwicklung von Kunstproduktionen versetzt.

All das kann dahin zusammenwirken, dass die Grenzen dessen, was genuine Kunstproduktion ist, gedehnt und oft auch überdehnt werden. Das Wort ›Kunst‹ hat ja wirklich auch viele andere Bedeutungen, die nicht an das gebunden sind, was die Produktion von ›Kunstwerken‹ zu einem vielfältig gegliederten, aber eben doch in sich Einigen macht. So genannte ›Kunststücke‹ aller Art gehören in keine Art World. Die Verblüffung oder das Gruseln, auf die Schausteller, Zauberkünstler oder Hungerkünstler setzen, ist keine Reaktion auf Kunst in deren spezifischem Sinn. Auch die Freude an artistischen Leistungen muss kein ästhetisches Gefallen sein. Nicht der staunenmachende Effekt unter der Zirkuskuppel, sondern allein das Gewahren der Art seines wohlgeordneten Eintretens ist es, was auch die Leistung von Artisten und Sportlern zu einer ästhetischen Tatsache werden lassen kann – wenn auch noch immer zu keinem Kunstwerk.

Vieles von dem, was für die Kunst der entfalteten Moderne charakteristisch ist, lässt sich jedoch nicht auf ein Verwischen solcher Grenzen zurückführen. Seit langem sind in ihr Versuche im Gang, von etwas einen Aufschluss zu geben, das sich nicht auf irgendeine Weise als Gegenstand repräsentieren lässt. Zwar kann die Kunst durchaus vom expliziten Gegenstandsbezug abstrahieren und dennoch Welten repräsentieren, die eben nur in einer Abstraktion zugängliche Welten sind, oder Zustände, die nur in expressiven Akten erfahrbar werden. Die Darstellungsfunktion der Kunst ist damit noch nicht aufgegeben.

Aber es gibt auch Grundsachverhalte des Lebens, die sich jeder Vergegenständlichung entziehen. Die moderne Literatur kann sich auf sie konzentrieren und daraus ganz neue Textformen entstehen lassen. Diese Tendenz hat etwas gemeinsam mit dem gerade eben schon erwähnten Widerstand gegen die Besetzung der ästhetisch-geschlossenen Form mit einer metaphysischen Bedeutung. Mein Freund Wolfgang Iser hat gezeigt, wie in literarischen Texten so etwas wie Endlosigkeit oder Nichtigkeit im sprachlichen Prozess selbst hervorgehen kann. Solche Gedanken sind mit dem Tod und mit dem gleichfalls jedenfalls als solches nicht präsentierbaren Selbstsein des Menschen intern verbunden, und so mit Themen der Philosophie und der modernen Literatur gleichermaßen.

Man muss sich nun allerdings fragen, von welcher Grenzlinie an Texte, in denen sich solche Gedanken artikulieren, von einem Kunstwerk zu einem Experiment philosophischer Erfahrung werden, das es nur womöglich nicht vermeiden kann, in den Anschein zu geraten, ein Kunstwerk zu sein – so wie andere philosophische Werke mit von Paradoxien bedrohten und von ihnen inspirierten Themen auch. Ich selbst meine, dass solche Werke nur dann Kunst sind, wenn sie auf die Rezeption auch in ästhetischer Distanz angelegt sind und wenn sie die gerade mit ihr verbundenen Kriterien von Gelingen in Rechnung stellen – wenn sie sie also auch noch in der Art, wie sie sie etwa verletzen, auf andere Weise auch erfüllen wollen.

Solche Kunst kann, wie überhaupt alle große Kunst der entwickelten Moderne, niemals ein großes Auditorium an sich ziehen. Immerhin kann ihre Wirkung über vermittelnde Zwischeninstanzen bedeutendes Gewicht gewinnen. Die Lebensverhältnisse in der Zivilisation der Massenproduktionen berührt sie direkt allerdings wohl gar nicht oder nur marginal – sicher weniger als Christos Safran-Tore im Central Park oder die vom eigentlichen Kunstprozess weitgehend abgekoppelte Rock- und Gebrauchsmusik. Große Kunst der Moderne ist also auf fernen Gipfeln und abseits des Prozesses der öffentlichen Verständigungen angesiedelt  Aber dennoch zielt sie in die Mitte der Situation des bewussten Lebens in ihrer Zeit.

Solbach: Die Verfügbarkeit der Welt in Symbolen, ihr zweites Vorhandensein im Bild, in der literarischen Fiktion und in den musikalisch-lyrischen Harmonien hat eine lange Tradition magischer Auslegung der Kunst bewirkt, deren Folgen sich noch heute bemerkbar machen. Wenn, um eher triviale Beispiele zu erwähnen, Rockmusiker eine bessere Welt herbeizuspielen behaupten oder Künstler magische Praktiken zu Befreiungszwecken imitieren, dann stellen sie sich, meist mit antiwissenschaftlichem und antiökonomischem Gestus, wissentlich oder unwissentlich in diese Tradition. Welche Mittel bietet die nachidealistische Philosophie, diese Seite der Kunst zu denken?

Henrich: Kunst in unserem Sinn, also eine Kunst, die nicht in einen Mythos oder einen Ritus integriert war, von der auch kein Zauber im vollen Sinn dieses Wortes ausging, hat es in der frühen Menschheitsgeschichte überhaupt nicht gegeben. Selbst einfache Ornamente waren Bedeutungsträger und bewirkten eine Gruppenbindung, im Tanz wurden Gottheiten zur Erscheinung gebracht, Darstellungen waren Machtmittel, indem sie das, dem sie galten, in das Bild bannten.

Auch moderne Künstler waren immer wieder dazu versucht, ihre Kunst in diese wirkungsmächtige Tradition zurückzuführen. Wagners Weihespiel, in dem die Einheit des Volkes verwirklicht werden sollte, ist mit seiner langen Nachgeschichte der wohl bekannteste unter ihnen. Aber Hegel hat schließlich doch überall dort Recht behalten, wo die Moderne sich als Welt ausgebildet hat: Vermittelt durch das Kunstwerk schließt sich das Leben nicht mehr mit der Wirklichkeit als ganzer zusammen. Nichts Übermenschliches und Übernatürliches wirkt in dem Werk und geht von ihm als solchem aus.

Doch jene mächtige Menschheitstradition ist wirklich in einer tief liegenden Zuordnung begründet gewesen. Wir können sie uns mit dem verständlich machen, was unsere  eigene Kunsttheorie von der Verfassung des Kunstgebildes zu sagen hat: Es hebt sich, schon als ästhetischer Gegenstand, aus seiner Umgebung mit seiner internen Stimmigkeit ab, zieht damit die Aufmerksamkeit in sich hinein und nimmt zugleich das Selbstverhältnis des Menschen in Anspruch, das sich seinerseits immer in dem Ganzen einer Welt selbst positionieren muss. Solange das magische Verhältnis zur Welt nicht aufgebrochen ist, ist es darum ganz unumgänglich, dass zwischen dem Kunstprodukt und dem Vollzug von Praktiken, die sich aus diesem Weltverhältnis herleiten, ein Zusammenhang unterstellt wird und dass die Kunstproduktion und der Umgang mit den Kunstprodukten durchgängig darauf eingespielt sind. Gelungene Bildungen erhalten so ganz von selbst die Kraft von Idolen.  Den schwarzen Madonnen und den Ikonen der orthodoxen Kirche wird noch immer eine solche Wirkung zugetraut.

Ein wenig anders, aber letztlich doch im selben Zusammenhang, erklärt sich die Funktion des Kunstwerks als Schmuck und als Erhöhung der Sphären, in denen Herrschaftsmacht  und Göttliches präsent werden. Je selbstverständlicher die Trägerschaft magischer Kraft dem Kunstgebilde zugeschrieben ist, desto enger wird die künstlerische Gestaltung mit dem Heiligen verbunden sein und der Markierung seiner Gegenwart dienen können. In der sakralen Musik besteht diese Verbindung bis in die Gegenwart fort.

Wir aber wissen doch, dass von dem Kunstwerk in seiner materialen Beschaffenheit keinerlei Macht ausgeht und dass es, rein für sich genommen, keiner höheren Ordnung zugehört oder den Eingang in sie aufschließt. Wo immer ihm ein solcher Status eingeräumt war, da ergab sich der eigentliche Grund dafür in Wahrheit einzig aufgrund dessen, was das Kunstwerk in der Subjektivität des Menschen bewirkt und was es in ihr freikommen lässt. Und wenn denn, wie auch ich meine, ein Zusammenhang zwischen dem Grund alles Wirklichen und der Wirklichkeit der Kunst angenommen und verstanden werden muss, dann bildet sich dieser Zusammenhang nicht direkt zwischen diesem Grund und dem materialen Bestand des Werkes aus, sondern zwischen ihm und dem Schaffensprozess, aus dem das Werk hervorgeht, der seinerseits in der Subjektivität des Künstlers  entspringt und von ihr durchgängig getragen wird.

Bedeutende Künstler sind in ihrer Selbstverständigung meist sensibel und aufgeschlossen für eben diesen Zusammenhang. Kaum einer von ihnen versteht sich einfachhin als der findige Ingenieur seiner Werke. Sie erfahren sich vielmehr als ergriffen und erfüllt von ihrer Aufgabe und oft auch als Werkzeuge oder Vollzugsorgane eines Geschehens der Gestaltwerdung. Dem entspricht, dass ihr Werk für sie nicht ein von ihnen frei erdachtes und entworfenes Geschöpf sein kann, sondern ebensosehr etwas, das ihnen zuwuchs und in dem sie einen Auftrag erfüllen.

Aber auch wenn man dies alles sieht und einräumt, ist das Werk doch kein Weltbestand mit extraordinären Potenzen und Ladungen. Es ist nur ein Gebilde, das angelegt ist darauf, verstehend aufgenommen zu werden. Als Kunstwerk existiert es nur für Subjekte und in der Erfahrung von Subjekten, zu denen in ausgezeichneter Weise auch sein Schöpfer selbst gehört. Es ist sowohl in seinem Hervorgang wie auch in denen, für die es sich als Kunstwerk erschließt, ganz und gar von der Subjektivität des Menschen bedingt. In ihr hat es darum seine eigentliche Wirklichkeit, wie sehr diese dann auch, zumindest auf Seiten des Künstlers, eine Ingeniosität im Umgang mit den Materialien voraussetzt, in denen sich das Werk als Gebilde aufbaut.

Hegel ist dieser Tatsache nicht durchgängig gerecht geworden. Er hat zwar, um den Hervorgang des Kunstwerks zu begreifen, den Künstler als solchen berücksichtigt und das, was ihn konstituiert, in den Gedanken von der Manifestation des Absoluten eingeschlossen – samt seiner Verwurzelung in der Zeit und in der für sie eigentümlichen Weise des Sich-Manifestierens. Gleichwohl hat Hegel die Wirklichkeit dieses Absoluten doch im Werk, und primär im Werk als solchem inkorporiert gesehen, und dieser Aspekt ist in der von ihm vorgetragenen Kunstphilosophie überall der primäre. Insoweit gehört auch seine Kunsttheorie der Vorstellungswelt an, an die Ihre Frage erinnert.

Nun ist Hegel mit dieser Vorstellungswelt gewiss auch wieder nur von ferne verbunden. Insoweit er ihr aber doch noch zugehört, ist er innerhalb ihrer zudem reiner Kognitivist und schon deshalb aller Magie abhold: Nach ihm geht im Kunstwerk einzig die Wahrheit über das Ganze dessen auf, was wirklich ist. Diese Wahrheit soll zwar auch nach Hegel frei machen, also in das gesamte Selbstverhältnis eingreifen. Aber die Kunst hat keine performative Bedeutung, die über die Wirkung der kontemplativen Erkenntnis hinausgeht. Das Kunstwerk bewirkt nicht nur keinen Zauber; es stellt in sich selbst auch keine Forderung auf, die darauf geht, sein Leben zu ändern, und setzt keinen Impuls, der daraufhin geht. Ich selbst denke allerdings, dass Kunstwerke doch nicht allein Aufschluss geben, und dass es für sie wesentlich ist, in den Prozess der Subjektivität nicht nur vermittels der Erkenntnis dessen einzuwirken, was eigentlich wirklich ist. Sie vermögen im bewussten Leben noch anderes auszulösen. Denn in ihnen ist die Dynamik möglicher Weisen des Lebens inkorporiert. Darum können sie das Leben, das der Mensch zu führen hat, vor sich selbst bringen, ihm Möglichkeiten verdeutlichen und es im Verstehen solcher Möglichkeiten sogar erschüttern und zu einem Aufbruch inspirieren. Doch auch dies alles ist durchaus nicht die Wirkung physischer Gebilde, sondern der Auslotung von Verläufen des Erfahrens, denen in den Gebilden der Kunst die Gestalt einer wahrnehmbaren Wirklichkeit zugewachsen ist.

Freilich ist das noch immer nicht das Ende aller Nachfragen. Denn aus ihm ergibt sich ein guter philosophischer Grund dafür, auch wissen zu wollen, wieso denn die Übersetzung von Erfahrungsweisen in Gebilde überhaupt möglich ist und in welcher Weise sie sich in den verschiedenen Medien vollzieht.

Solbach: Einen zentralen Begriff der europäischen Kunsttheorie haben wir bisher nicht berührt – den der Mimesis. Reden wir nicht von ›Nachahmung‹, sondern von ›modellhafter Nachbildung‹, etwa einer Praxis, was den Gedanken einer Versuchsanordnung mit einschließt: Ist der aristotelische Begriff wirklich so tot, wie man es vor einigen Jahrzehnten vermuten konnte? Nelson Goodman und andere haben zwar den Realismus in der Kunst als eine – nicht besonders intelligente – Konvention enttarnt, aber rechtfertigt das auch die angenommene historische Zäsur zwischen mimetischer und nicht-mimetischer Kunst? Oder ist vielleicht überall dort, wo Kunst entsteht, auch eine mimetische Bewegung zu registrieren, die eventuell dem entspricht, was Sie die ›Übersetzung von Erfahrungsweisen in Gebilde‹ nennen?

Henrich: Mimesis von Wirklichkeit ist ein vieldeutiges Wort. Wird Wirklichkeit mit wahrnehmbaren Weltgehalten identifiziert, so scheint, was es besagen will, auf die Meisterung der Darstellung von Gegenständen in Raum und Zeit hinauszulaufen. Das ist eine wichtige, niemals ganz zu erschöpfende Aufgabe insbesondere der Malerei, aber nicht deren einzige und gewiss keine Definition von Kunst überhaupt. Im Übrigen kann Wirkliches im Kunstwerk repräsentiert sein, ohne dass die eigentliche Bemühung der Kunst darauf konzentriert ist, solches zu erreichen. Dafür ist das Phänomen des Ausdrucks ein prominentes Beispiel. Eine Ausdrucksqualität kann auch ein Werk haben, das rein nur als formales Ensemble komponiert worden ist. In den Bereich eines Ausdrucks ohne jenen Gegenstandsbezug gehört weiterhin schließlich auch, dass Subjektivität im Kunstwerk vergegenwärtigt sein kann.

Solche Beispiele zeigen, dass Mimesis, verstanden als Bemühung um Gegenstandstreue, als Kriterium für die Kunstproduktion offenbar viel zu eng gefasst wäre. Andererseits ist die alternative Erklärung der Mimesis als das spontane Sich-Angleichen der künstlerischen Produktion an die Kreativität des generativen Naturprozesses, aus der dann Kreationen jeglicher, auch ungegenständlicher Art hervorgehen, zu weit und zu vage. Ihre eigene Anregung, die Kunst in der Nähe zu einer Versuchsanordnung zu verstehen, könnte vielleicht eine Erklärung ergeben, welche die begründeten Elemente in diesen beiden Mimesis-Erklärungen der Tradition miteinander verbindet. Sie kommt zudem meiner These entgegen, dass selbständig geschaffene und vorbildgebende Kunstwerke immer aus einer Erkundung hervorgehen. Wie sich Mimesis als Verfahren der Modellbildung erklären lassen könnte, ist mir aber noch nicht deutlich genug geworden.

Zum Grundsätzlichen ist zu sagen, dass Komponenten von Bezugnahme für die Kunstproduktion ganz sicher konstitutiv sind. Man kann sich das mit Nelson Goodman und also innerhalb der Semiotik deutlich machen – und das, obwohl die Semiotik nicht als erschöpfende Theorie der ästhetischen Tatsachen gelten kann. Denn sie gerät letztlich, wie ich im Versuch über Kunst und Leben zu zeigen versuchte, in einen Zirkel. Goodman sieht in der Ausdrucksbeziehung eines der für das Ästhetische konstitutiven Momente und definiert Ausdruck als metaphorische Exemplifikation – als einen Zeichenprozess nämlich, in dem das Zeichen mit dem, was es bezeichnet, etwas gemeinsam hat, aufgrund dessen es dies andere bezeichnet, aber nicht buchstäblich und durch Deckungsgleichheit (wie im Falle einer Stoffprobe), sondern in einer nur metaphorisch zu verstehenden Gemeinsamkeit. In diesem Sinne kann die Verlaufsform eines Kunstwerks die Dynamik der Subjektivität ›bezeichnen‹. Doch schon für den Formaufbau innerhalb des Kunstwerkes selbst sind solche Ausdrucksverweisungen konstitutiv. So drückt die Wiederaufnahme eines Themas dessen ersten Auftritt im Sonatensatz simpliciter aus, während man seine Umformung als metaphorischen Ausdruck verstehen kann.

Solche Weisen des Ausdrucks müssen aus der kompositorischen Intention des Werkes hervorgehen. Doch sind auch natürliche Ausdrucksbeziehungen wesentliche Komponenten von Kunstwerken. So sind bereits Tonarten und Farben auf natürliche und also auf letztlich nicht eliminierbare Weise mit Emotionen assoziiert, und es gibt zudem kein Kunstwerk, das nicht als Ganzes in eine Gestimmtheit versetzen kann. Doch sind diese Verhältnisse Voraussetzungen der Kunstproduktion, die auch zur Dichte der Komposition beitragen – nicht aber deren Ziel. Sie sind im künstlerischen Kalkül des Entwurfs und der Komposition zu berücksichtigen. Aber dieses Kalkül ist selbst nicht auf sie, sondern auf Formbildung angelegt. Die Formbildung ist ihrerseits allerdings, wie gesagt, wiederum mehr als ein in sich selbst differenziertes Bezugsystem, das rein nur auf sich selbst, nicht aber auf  das Leben verweist, aus dem es hervorgeht und in dem es Bedeutung gewinnt.

Mit all dem habe ich nur ein wenig zu differenzieren versucht, was Sie in dem letzten Satz Ihrer Frage selbst schon nahegelegt haben und dem ich ganz zustimme. Das Verhältnis von Kognitivität und Emotionalität in der Beziehung zur Formgebung wird noch lange weiterer Aufklärung bedürfen.

Besondere Probleme ergeben sich dann weiter noch, wenn man sich die Weise verständlich machen will, in der Kunstwerke die Verfassung und eine historische Form der Selbstverständigung von Subjektivität, mit Goodman gesprochen, ›metaphorisch exemplifizieren‹, also vergegenwärtigen, wie wir, terminologisch lockerer, gesagt haben. Diese ihre Leistung kann kaum aus einer kompositorischen Intention und der Erkundungsleistung hervorgehen, die sie nach sich zieht. Die Weise der Selbsterfahrung der Subjekte in einer Epoche muss sich wohl als Rahmenbedingung für die künstlerische Erkundung geltend machen. So wie das Selbstbewusstsein in allem Denken immer schon vorausgesetzt wird, aber dennoch selbst als ein Denken sui generis begriffen werden muss, so sind auch mit der Selbsterfahrung in einem Zeitalter Grenzlinien für ohne Vorbehalt rezipierbare Werkformen, und für Fluchtlinien in der Erkundung von Gebilden ausgezogen, die in der Tiefe Zustimmung auf sich ziehen können. Die Vergleichsbasis für die metaphorische Exemplifikation einer Selbsterfahrung durch eine Kunstgestalt ist dabei, wie gesagt, in der Dynamik der Selbstentfaltung von Werkform einerseits und von bewusstem Leben andererseits zu suchen. Solche Ausdrucksleistung kann offensichtlich nicht als naturhafter Ausdruck, aber ebensowenig als Ausdruck kraft kompositorischer Maßnahme und Gesetzlichkeit verstanden werden. Denn sie geht unmittelbar aus der Grundlage jeglichen Zusammenhangs zwischen selbstbewusstem Leben und Kunstproduktion hervor. Sie kann keinem Künstler, der große Kunst in seiner Zeit wirklich werden lässt, irgendwie zur Disposition stehen. Er kann sich dieses Zusammenhangs nur bewusst werden und seine Erkundung sich aus ihm heraus vollziehen lassen. Aber auch diese seine aufmerksame Rücksicht wird sich noch im Hintergrund seiner Überlegungen vollziehen, die der Lage des Mediums seiner Kunst und dessen Entwicklungsmöglichkeiten gelten. Nur dann, wenn eine Situation eintritt, in der neue produktive Möglichkeiten in der Entwicklung des jeweiligen Mediums offenstehen, kann eine Wandlung in der Selbstverständigung des Menschen auch eine Epoche höchster Kunstleistungen einleiten – so wie es in der Musik der Wiener Klassik oder in der Malerei der Renaissance des 15. Jahrhunderts der Fall gewesen ist.

Solbach: Um bei der Musik zu bleiben: Auf den Werken der Wiener Klassik, in denen sich die ästhetische Repräsentation des Subjekts vollendet, liegt, schreiben Sie, etwas wie ein Schleier, eine Distanz, eine Art Entrücktsein, das fehlt, wenn man zeitgenössische Musik hört, in denen das Subjekt nur stückweise, kontaminiert und fragmentiert mit heterogenem Weltstoff, zu vernehmen ist. Das wäre doch paradox: wenn Kunst eine, vielleicht die einzige Weise ist, in der Subjektivität vergegenwärtigt werden kann, woher dann die Distanz? Woher die Scheu, sich diesen Gestaltungen hinzugeben? Sehen Sie hier eine historische Differenzierung oder Entdifferenzierung des ästhetischen Sinns?

Henrich: Paradox scheint mir der Befund, auf den Sie sich beziehen, allenfalls auf den ersten Blick zu sein. Ich will versuchen, ihn etwas weiter ausgreifend zu erläutern.
In einem ästhetisch gegliederten Gebilde auf sich selbst zurückkommen, heißt für das Subjekt anderes, als in einem Prozess zu stehen und sich in ihm selbst zu vollziehen. Seiner Dynamik im Kunstwerk inne zu werden kann zwar für diesen Vollzug große Bedeutung haben. Aber das, dessen das Subjekt da innewird, ist doch nicht es selbst in der Aktualität dieses seines jeweiligen Lebens – sei es dem, in dem es gerade jetzt steht, sei es das einer zurückliegenden Phase seines eigenen bewussten Lebens, die nunmehr in seine ebenfalls gelebte Erinnerung eintreten kann. In seinem wirklichen und verwirklichten Selbstsein versammelt es sich einzig in dieser seiner Erinnerung. Im Kunstwerk ist es sich dagegen im Modus der Möglichkeit gegenwärtig. Was es in diesem Modus erfährt, ist zum einen eine mögliche Weise, in einer Welt, die es selbst einbegreift, Subjekt zu sein und in der Dynamik der Subjektivität zu stehen. Zum anderen ist es die Erfahrung eines möglichen Ganzwerdens des bewussten Lebens, sei es im Gelingen einer Zusammenführung der Tendenzen seines Leben, sei es im Scheitern jeglichen Zusammenschlusses als dem letzten Resümee, zu dem es gelangen kann.

Für das Kunstwerk ist allerdings weiterhin noch charakteristisch, dass es zwar nur eine Möglichkeit der Erfahrung von Selbstsein vergegenwärtigt, dass dies im Kunstwerk aber auf eine sehr besondere Weise geschieht, nämlich so, als wäre sie gerade wirklich zur eigenen geworden. Die Möglichkeit ist also nicht eine in abstracto erwogene, sondern eine in concreto vorgestellte und angemutete. Was als Möglichkeit erfahren wird, vollzieht sich zugleich in klarer Gegenwärtigkeit, Artikulation und Plastizität, so dass es für die Zeit, in der die Erfahrung andauert, das eigene Leben in seiner Aktualität der Phase, die es gerade durchläuft, sogar noch zu übersteigen scheint. Von der Möglichkeit, wiewohl nur als einer solchen, wird die ganze Aufmerksamkeit absorbiert. Das Leben ist in einer Erfahrung dieser besonderen Art von einem Kunstwerk nicht einzig in der verstehenden Betrachtung der Komposition des Werkes versunken. Das Subjekt kann auch von der Dynamik, die sich im Werk aufbaut, so weit gefangen genommen sein, dass die Kunsterfahrung dem ganz persönlichen Vollzug dieser Dynamik so nahe kommt, wie es denn unter der Voraussetzung überhaupt möglich ist, dass die Differenz zwischen Kunsterfahrung und Lebensvollzug doch nicht aufgehoben werden kann und dass sie deshalb grundsätzlich immer auch als solche bewusst ist. Der Verlust dieses Bewusstseins würde die Kunsterfahrung als solche geradezu aufheben und in etwas ganz anderes (etwa eine magische Transsubstantiation) verwandeln.

Aus dieser besonderen Weise, in dem Kunstwerke eine Lebensmöglichkeit nicht nur in abstrakter Erwägung zu vergegenwärtigen, erklärt sich sowohl die Intensität der Erfahrung von bedeutenden Kunstwerken wie auch die Fähigkeit, in das jeweils eigene Leben hineinzuwirken, welche solchen Werken innewohnt  –  sogar auf Dauer und dies Leben verwandelnd – und das gerade auch deshalb, weil die Werkerfahrung vom Lebensvollzug selbst immer auch klar unterschieden geblieben ist.

Dass von Kunstwerken, zumal den musikalischen, eine solche Wirkung ausgehen kann, erklärt sich weiter noch daraus, dass sie Lebensmöglichkeiten nicht in diskursiver Sprache und über Abstraktionen ausgearbeitet vorstellen, sondern dass sie diese Möglichkeiten in ihrer eigenen dynamischen Verfassung und damit zugleich über den Ausdruck der Emotionen vergegenwärtigen, die in ihrem Vollzug aufkommen und die ihn charakterisieren. Das heißt nun nicht etwa, dass die Emotionen vom Kunstwerk im Leben dessen, der sich auf es einlässt, auch wirklich induziert und ausgelöst werden, so dass sie sein eigenes Leben und Erleben durchtränken und einfärben. Die Distanz, welche für die Betrachtung und also für jegliche Kunsterfahrung konstitutiv ist, bleibt ohne Verkürzung erhalten. Aber der Umstand, dass im Nachvollzug des Werkes die in ihm inkorporierten Emotionen zum Gehalt der Betrachtung werden, bringt das Werk ganz unangesehen des Fortbestehens der Distanz der Betrachtung doch näher an die Subjektivität als solche heran, als dies würde geschehen können im Sicheinlassen auf die Kalkulation von Werkformen oder auch auf bloße Mitteilungsarten, die anderen Medien, zumal dem sprachlichen, zugehören.

Alle diese Tatsachen kommen nur dann in anderer Weise zur Auswirkung, wenn eine in einer Werkform inkorporierte Weise des Vollzugs von Subjektivität in den Subjekten selbst auf veränderte Rezeptionsbedingungen trifft. Solche mögen einem historischen Wandel und können insbesondere einer vertieften oder auch nur verschobenen Verständigungsart über Subjektivität entspringen. Dann kann die Anmutung einer möglichen Lebensweise, die von der Werkform ausgeht und die aufgenommen werden muss, sofern das Werk auch nur adäquat nachvollzogen wird, insofern von der Erfahrung einer Entfernung überlagert werden, als die Grundausrichtung der Subjektivität einer wirklichen Ausnahme der Anmutung in den eigenen Lebensvollzug entgegengeht und damit, wenigstens zunächst einmal, einer erfahrenen Anmutung auch widerstrebt. Wenn man von einigen späten Werken der Meister absieht, kann man von der Kompositionsform der Wiener Klassik sagen, sie sei in ihrer Anlage, der Architektur ihres Satzbaus nach, mit der Erfahrung der Entfaltung von Gegensätzen verbunden, die über ihren Entwicklungsgang stets zu einer Auflösung der Kontraste in einen harmonischen Zusammenklang führt. Wenn nun die Subjektivität einmal dahin gelangt ist, in ihrer Selbstverständigung, allem anderen voran, auf den dunklen Grund zu achten, der sich in der Dynamik ihrer Selbstentfaltung auswirkt, dann wird sie die Anmutung einer Werkgestalt als ihr selbst näher kommend erfahren, in der die Entfaltung von Kontrasten mit der jederzeit mithörbaren Anlage auf schlussendlichen Einklang hin nicht die offenkundige Dominanz innehat. Sie wird in den Anmutungen einer Kompositionsart, deren Verlaufsform auch auf ein Stocken, auf Abbrüche und Abgründe zuzugehen vermag, eine größere Nähe zur eigenen Befindlichkeit erfahren.

Der Unterschied, den wir bei solchen Überlegungen beachten, ist ein solcher in der Architektonik der Werkform insgesamt, im Formverlauf eines musikalischen Satzes als eines ganzen. Seiner bewusst zu sein, nimmt die Fähigkeit zur wahrnehmenden Übersicht über die gesamte Entwicklung einer Komposition in Anspruch, also das, was man als ›Fernhören‹ bezeichnet hat. Diese Fähigkeit hat eine solide musikalische Erfahrung zur Voraussetzung, wenn auch nicht die Spezialkenntnisse eines Analytikers von Partituren. Musik baut sich dagegen in kleinen Perioden, Phrasen und Taktfolgen auf. Sie sind es, die in der Präsenzphase des Bewusstseins das eigentlich und im buchstäblichen Sinn Gehörte ausmachen. Aber die Weise, wie diese Phasen strukturiert sind, ist doch von der viel größeren Einheit der Werkform der Komposition her bestimmt. Ohne dass die gehörten Phasen auf die Einheit der Satzform und die mit ihr verbundenen Anmutungen ausgerichtet werden, würden die Entwurfsprinzipien der größeren Einheit gar nicht zur wirklich durchgeführten und im Gewahren überzeugenden Gestalt geführt werden können.

Die Verständigung über diese Zusammenhänge ist während der letzten Jahre in den kontroversen Debatten zwischen den amerikanischen Musiktheoretikern Peter Kivy und Jerrold Levinson um ein gutes Stück vorangebracht worden. Aufgrund ihrer wird es auch verständlich, dass der Hörer schon von wenigen Takten klassischer Musik in den Bereich von deren Anmutungen hineingezogen wird. So können sich gänzlich unmusikalische Personen, die sich mit klassischer Musik nur als Hintergrund ihrer Arbeit berieseln lassen, dennoch in ihrem Anmutungsbereich aufhalten – und ihn womöglich gerade wegen der Ferne von deren Anmutungsart zum eigenen Erleben als beruhigend empfinden.
Ich sollte noch hinzufügen, dass die moderate Ferne, die über der klassischen Musik für den von der entfalteten Modernität bestimmten Hörer liegt, nicht den geringsten Abstrich an derjenigen Ergriffenheit zur Folge hat, welche aus der Einsicht in die kompositorische Größe ihrer Werkes im erfahrenen Hörer hervorgehen wird. Sie ist dann rein nur eine immanente und als solche sogar notwendige Folge der vertieften ästhetischen Betrachtung. Auch diese Betrachtung als solche muss sich zwar der Anmutungen des Werkes bewusst sein, wird ihnen gegenüber aber in der Distanz der reinen Betrachtung verharren, also in der ästhetischen Einstellung das Insspielkommen der Subjektivität des eigenen bewussten Lebens beiseitegesetzt halten. Jedenfalls ist jene Ergriffenheit keine Folge von persönlichem Engagiertsein, sondern des Verstehens und der Bewunderung großer Kunst. Die Wirklichkeit kann allerdings in ganz anderer Weise das eigene Leben betreffen und ergreifen. Und so kann eine in dieser Gegenwart wurzelnde Musik oder auch eine historische Musik, die gegenwärtigen Erfahrungen näher zu kommen scheint, auch ästhetisch auf eine Weise berühren, über die jener Schleier, von dem wir sprachen, nicht ausgebreitet ist.

Schließlich sollte gesagt sein, dass damit, dass in einer Phase ihrer Entfaltung andere Momente der Subjektivität zur Prominenz gekommen sind, deren Ausgriff auf Ausgleich nicht etwa schlechtweg abgewiesen und zur Fiktion abgewertet wird. Es wird nur darauf insistiert werden, dass die Möglichkeit dieses Ausgleichs nicht als fraglose Prämisse im Spiel gehalten wird, so dass zusammen mit der Kompositionsform von Werken auch diese Anmutung immer im Modus der Fraglosigkeit mit ins Spiel kommt. In der Phase einer ersten Freisetzung von Subjektivität, die sich über sich selbst in einem Ganzen verständigt weiß, wird das verstehbar, wahrscheinlich sogar notwendig und also mehr als nur legitim sein. Nach den Erfahrungen der weiter entfalteten Subjektivität in der Moderne kann aber wohl ein Ausgleich im Leben nur noch unter der Voraussetzung der Ungewissheit über seine Möglichkeit – für mein eigenes Leben oder für bewusstes Leben überhaupt – Inhalt einer Vergewisserung werden.

Solbach: Sie haben zu Beginn dieses Gesprächs gesagt: »Kunst ist immer erkundend.« Sie haben diese These in mehrfacher Hinsicht präzisiert: in Abwehr gegen eine bestimmte Lesart der These vom Ende der Kunst, gegen vergangene Versuche, eine gleichsam orthodoxe Moderne zu schaffen, gegen das magische Missverständnis sowie zur Erklärung dessen, dass es möglich bleibt, große Kunst zu bewundern, die ihre Zeit hatte, aber aufgrund von Veränderungen im Bereich des bewussten Lebens neuen Erkundungsgängen Platz machen musste und deshalb die motivierende und lebensändernde Kraft einbüßen konnte, die Kunst auch in der Moderne innewohnt. Wenn ich vorhin von Mimesis als Versuchsanordnung sprach, so dachte ich, vielleicht durch die Literatur verführt, weniger an Gegenstandsdarstellung als an modellhafte Bezugnahme auf Handlungen (wobei das ganze Spektrum von der klassischen Bühnenhandlung über die verschiedenen Formen selbstbezüglichen Agierens bis hin zum leisesten gestisch-emotionalen Aufruf in der Musik, im Ballett oder in einem gegenständlichen Gebilde gemeint wäre). Eine solcher starker Bezug auf das Konzept eines zwar nicht verantwortlichen, aber im Modus imaginativen Erprobens verantworteten Handelns könnte es der Kunst auch ohne den Rückgriff auf Tragödientheorie und Gesamtkunstwerk erlauben, Belastungsszenerien und Freiheitsräume unter den Vorzeichen jeweils neuer und jeweils dominanter Gegenwartserfahrungen zu entfalten und damit der Rezeption durch die Zeitgenossen zuzuarbeiten. Sie selbst sprechen vom Zusammentreffen zwischen Wandlungen in der Selbsterfahrung der Subjekte und ›neuen produktiven Möglichkeiten in der Entwicklung des jeweiligen Mediums‹, das notwendig sei, damit höchste Kunstleistungen entstehen können. Das legt die Frage an den Philosophen nahe, welche Arten von Erkundung uns in der Kunst – nicht in ferner Zukunft, sondern im Horizont gegenwärtiger Erwartung – ins Haus stehen mögen. In welchen Versuchen kann sich das ästhetische Weltverhältnis aktuell erkennen, ohne sich sagen zu müssen, dass in dieser Hinsicht bereits alles gesagt und getan sei? Gibt es in Ihren Augen ein ungestilltes Explikationsbedürfnis, dessen Artikulation sich hier und heute regt oder regen könnte, einen Anlauf zu neuen Aufschlüssen, zu neuen Konkretisationen, zu neuen Erfahrungs- und Verständigungsweisen des Subjekts, für die eine adäquate Kunst erst gefunden werden müsste?

Henrich: Was Sie jetzt zur Erläuterung Ihrer Anregung innerhalb der letzten Frage sagen, könnte uns in ein weiteres Gespräch hineinziehen. In ihm müssten wir über den Zusammenhang zwischen Dynamik, Emotion und Handlung und diesem allem mit Bewusstsein, Leben und Kunst eingehender nachdenken. Kunst und Philosophie sind beide selber Aktivitäten. In ihrer Frühzeit gab es gar keine Kunstbetrachtung, sondern alles Gewahren war eingebunden in ein kollektives Tun, das selbst wieder als einbegriffen in ein noch größeres, meist kosmisches Geschehen verstanden war. Auch das spricht für den Ansatzpunkt Ihrer Überlegungen. Ich meine allerdings, dass die große Kunst seit ihrer Lösung aus dem Ritus, ebenso wie die Philosophie, letztlich der Aufgabe nachgeht, den Rahmen zu vergegenwärtigen, in dem Leben sich vollzieht und in Beziehung auf den es sich verstehen kann. Zwischen dieser Vergegenwärtigung und der betrachtenden Distanz, die schon in der Situation der elementarästhetischen Wahrnehmung vorausgesetzt wird, besteht ein Zusammenhang. Dieser Rahmen könnte der eines Prozedierens sein, und er könnte über ein Geschehen oder ein paradigmatisches Handeln zur Deutlichkeit kommen. Aber er selbst und auch das Wissen von ihm lassen sich nicht ihrerseits wiederum als Vollzug eines Handelns beschreiben. Das alles ist auch von Interesse für die Philosophie. Denn seit Kant und dann wieder seit Wittgenstein ist ja die Frage nach dem Verfahren ihrer Grundaufklärung mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen (mentalen oder sprachlichen) Handlungen und dem Wissen von nicht mehr hinterfragbaren Prinzipien verbunden.

Dann ist da weiter auch noch die Frage, wie tief jener Rahmen in die Bewusstseinslage einer Zeit und deren Untergrund eingebettet ist. Einiges von dem, was Sie sagen, erinnert mich an John Dewey. Er verstand die Kunst aus der Aufgabe, die Menschen vorab in neue Gestaltungen gesellschaftlichen Lebens Eingang finden zu lassen. Von da her könnte man nun einwenden, solches leisteten heute die Reklameindustrie und die vielen Varianten von Popular Musik am besten. Daraus ergäbe sich, zusammen mit einer kritischen Pointe zur Medien- und Massengesellschaft, leicht die Möglichkeit zu einer neuen Begründung der These vom Ende der Kunst im bisherigen hohen Anspruchssinn. Solches wollen Sie aber vermutlich gerade nicht nahelegen. Also, es scheint: wir können für diesmal Ihrem Faden nicht so nachgehen, wie er es verdient.

Der andere Teil Ihrer Frage nimmt alles Vorausgehende zusammen, könnte mich aber auch in die undankbare Rolle hineinbringen, eine Prognose geben zu müssen. Der Soziologe Daniel Bell, mein Kollege in Harvard, bemerkte Mitte der Siebziger Jahre aus Anlass meiner Frage, wie er die Vereinigten Staaten nach der Jahrtausendwende sehe, es werde wohl eine Präsidentenwahl stattfinden. Auf meine enttäuschte Reaktion, dass diese Prognose doch recht wenig Gehalt habe, erwiderte er, auch dies sei doch nicht selbstverständlich und man könne froh sein, wenn man in einem Land wenigstens so viel ziemlich sicher voraussagen könne. Man sollte also der These, die Kunst sei am Ende, besser nicht damit entgegentreten, dass man eine Geschichte von ihrer Zukunft erzählt. Da jedoch diese These, wo sie seriös begründet war, eigentlich auf eine Diagnose der Gegenwart hinauslief, kann man es immerhin riskieren, Faktoren zu benennen, die in jeden Ansatz zu einer künftigen Kunst mit einem Tiefgang ins Leben werden eingehen müssen.

(1) Diese Kunst wird reflektiert sein. Das heißt nunmehr auch, dass sie nicht als selbstverständlich unterstellen wird, was Kunst ausmacht. Sie wird sich darum als die Kunst, die sie ist oder sein will, eigens herausstellen – mit wahrscheinlich hintersinnigen Mitteln. Es versteht sich, dass dies auch dadurch geschehen kann, dass sie eingewurzelte oder inzwischen naheliegende Erwartungen dementiert oder ins Leere gehen lässt. (2) Aus demselben Grunde wird solche Kunst sich mit keiner Lebensform assoziieren, ohne die Grenzen und Abstürze, die ein solches Leben mit einschließt, gleichfalls in den Blick zu bringen. (3) Solche Kunst wird sich in den Prozess der Ausweitung von Kunst in neue Medien und Techniken eingliedern und sich innerhalb seiner, so oder so, ganz explizit positionieren – auch wenn sie die Medien der bisherigen Kunst explizit wieder privilegieren sollte. Deshalb wird es wohl auch so bald keine länger andauernden, in sich kohärenten Entwicklungen in einem einzigen Medium mehr geben, wie in der Malerei vom Beginn des Impressionismus über Cézanne bis hin zum Kubismus. 4) Sie wird das Ganze des Lebens nicht unmittelbar vergegenwärtigen wollen und auch darum in ihrer Partialität wiederum hintersinnig sein. Vielmehr wird sie davon ausgehen, dass der Prozess des Lebens durch einen Wechsel von Distanzen zu sich selbst, zur Welt und zu den eigenen Lebensphasen hindurchführt, die sich als solche im Kunstwerk nicht wiederholen lassen. Denn das Kunstwerk ist, wie gesagt, auf der stabilen Distanzform der ästhetischen Betrachtung fundiert – auch dann, wenn es sich gegen sie sperrt und stemmt und mit eigenen Distanzbildungen experimentiert. (5) Solche Kunst könnte deshalb dazu tendieren, multidimensional und auch multimedial zu sein, eben deshalb, weil es für sie keinen Weg zurück zur Vergegenwärtigung des ganzen Lebens in einem Medium oder in der plumpen Koppelung von Medien zu einem Gesamtkunstwerk geben kann. Dann wird es ihr aber zum Problem werden, unter solchen Bedingungen schließlich doch Prägnanz und Transparenz zu erreichen.

Nimmt man nur diese wenigen Momente zusammen, dann ergibt sich schon das Profil einer komplexen Aufgabe. Eine Lösung mit zwingender Kraft kann nur durch die Erkundungskraft von Künstlern zustandekommen. Immerhin kann man aber an Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern, von denen man denken kann, sie hätten bereits im Gravitationsbereich dieser Aufgabe gearbeitet. Für mich gehören zu ihnen Josef Beuys und Samuel Beckett.

Beuys’ überanstrengtes Freistil-Theoretisieren konnte ich ignorieren angesichts der evozierenden Kraft seiner immer neu entworfenen Werkformen, deren ästhetische Qualität und Anmutung zwar verhohlen, aber doch eindrucksvoll war. So hat er mich überzeugt, als noch die Bewunderer der informellen Malerei, zu denen ich auch gehörte und gehöre, ziemlich unisono über ihn entrüstet waren.

Auf ganz andere Weise fasziniert Becketts Technik der Reduktion der Subjektivität und der Selbstaufhebung der sprachlichen Mitteilung. Er vollzieht sie offenbar in der Absicht, hinter den Oberflächen von Leben und Sprache etwas Unerfasstes und Unformulierbares hervortreten zu lassen. Und das alles lässt er sich in einer geradezu klassisch zu nennenden Kompositionstechnik vollziehen. Wie dies zusammengehen kann, ist, wie ich meine, nicht nur unbegriffen. In ihm könnte sich auch ein Potential für künftige Kunst großen Zuschnitts anzeigen.

Dem entspricht übrigens, was ich für eine offene und somit künftige Aufgabe der Philosophie halte: Die Endlichkeit und die Hinfälligkeit des Lebens als definitiv begreifen zu lassen, und doch nicht der Folgerung nachgeben zu müssen, die unter solchen Voraussetzungen unwidersprechlich scheinen könnte: dass dies Leben nichts anderes sei als ein, wie immer bemerkenswert subtiles, Produkt der sogenannten Evolution. Ich denke und wünsche mir, dass eine Philosophie, welche diese Aufgabe tief genug ansetzt und auch nicht hinter unübersehbar vielen Problemen professioneller Feinmechanik versteckt, und eine Kunst der Zukunft in einem Bund miteinander stehen werden und sich wechselseitig etwas zu sagen haben und bedeuten können – natürlich ohne jegliche Koordination, aber eben doch im Gleichklang ihrer Bedeutung für Menschheitsaufgaben und also für die Menschheit.

Die ökonomische Globalisierung und wohl auch eine politische Weltordnung für die Menschheit vollziehen sich unter dem Vorzeichen des zwar schon geläufigen, im Leben selbst vorerst aber doch nur untergründigen Wissens von der endlichen Lebensgeschichte dieses kleinen blauen Planeten in einem Kosmos, der mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis immer unverständlicher wird. Zu diesem Grundfaktum werden Kunst und Philosophie in ein sicheres Verhältnis kommen müssen. Nur dann sind sie anderes als ein mitgezogenes Beiwerk und Funktions- und Kompensationsmittel der Selbstorganisation des Lebens der Art homo sapiens – in einem Prozess, der das vermutlich einzige bewusste Leben in diesem riesigen Kosmos aufkommen lässt, mit sich zieht und schließlich wegsaugt, ohne dass dies Leben sich selbst zu begreifen und über sich selbst irgendeine schlüssige Rechenschaft zu geben vermöchte. Schon allein um profund bleiben zu können, werden aber Kunst und Philosophie in allem Bemühen um ein solches Verstehen, auch ein Verstehen ihrer selbst, wohl immer von dem Gedanken begleitet und beunruhigt bleiben, dass dies am Ende doch die ganze Wahrheit gewesen sein könnte.

Solbach: Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.