Borges hatte sich das Paradies als eine Art
Bibliothek vorgestellt.
Andere hielten die ganze Welt
für ein Buch.
Inmitten der Bibliothek von Babylon
oder Alexandria – wer wusste das – befand
sich das Große Verzeichnis der Geheimnisse. Längst
nicht mehr vollständig. Weniges nur war noch verzeichnet.
Das
Schicksal der Bibliothek wie aller Literatur war eines davon.
Niemand
außer das Große Verzeichnis selbst vermochte dessen
Geheimnisse zu lösen. Falls sie vorhanden waren.
Fünf
Fragen durfte man dem Großen Verzeichnis vorwerfen zur
Beantwortung.
Bejahte es die Fragen, war die Zukunft
erkennbar. Verneinte es sie, schwieg es erstarrt für alle Zeit.
Nun
betrete ich die Teppiche des Clemens von Alexandrien. Zumute ist mir
wie dem letzten der Lehrlinge zu Sais. Schon brennt mein Verlangen mir
auf der Zunge. Wissen will ich, ob das Ende gekommen ist allem
Geschriebenen.
Ich stelle meine Fragen.
Eins
Die Frage nach dem Lesen
Ist das Lesen
aufzufassen als Abteilung des Selbsterkenntnisprozesses, als Teil der
erweiterten Reproduktion des Denkens.
Lässt
sich das Lesen als geistige und körperliche Tätigkeit
in Beziehung setzen zum Gelesenen.
Gibt es Arbeitseinheiten
des Lesens.
Wie überhaupt sollte gelesen
werden.
Grammatiklos. Klanglos. Sprachlos. Über alle
Füllwörter hinweg. Das Literarische meidend.
Schlagwörter, die als erkannt gelten, auslassend.
Ist
das Buchstabieren, das Wort-für-Wort-Lesen nur noch
möglich, wenn ein Wort an der Zimmerdecke, das
nächste über der Straße steht.
Dem
fliehenden Blick die Wörter voraus sind, im dauernden Wechsel
von Ort und Zeit, dem nervös flatternden Überfliegen
nur durch Stehen, Sitzen, Liegen ein Ausgleich zu verschaffen geht.
Oder
muss viel ritualisierter gelesen werden. Beherrschter.
Sybillinischer.
In einer die Meditation fördernden
Haltung. Mit entsprechender Atemtechnik. Sogar gemeinschaftlich im
Chor. Hymnisch begeistert. Ekstatisch verzückt.
Was
bedeutet es für das Lesen, wenn je nach dem und wie man liest,
das zu Lesende sich ändert. Im sich ändernden
Lesegeschehen die Situation des Lesers wechselt, er Protagonist, sein
Lesen szenisch wird.
Zu einem derart mitwirkenden
Lesen gehörte, außer was wie wo steht auch, wie
lange das zu Lesende dasteht, lesbar bleibt.
Die Lesart wird
dadurch abhängig von Verweildauer, Beobachtbarkeit und
Sichtbarkeit des Erzähl- und Lesepartikels im
Diskontinuum des räumlichen Sprachzeichenensembles.
Dem,
der so schauend liest, kehren die Buchstaben zurück als
Bausteine der Welt und die Realität des Geschriebenen wird ihm
zur Wirklichkeit seines Erlesens.
Vielleicht findet er dann
bis zur Frühgeschichte der Lesbarkeit zurück, als die
Mondphasen als verschiedene Ansichten des Stiergottes dargestellt
wurden, mit einer Genauigkeit, die mathematisch war. Und sein Lesen
wird wieder Berechnung. Also schöpferische Arbeit, aufbrechend
vakuole Strukturen, hermetische Denkweisen, eine Veranstaltung
der Freiheit, menschlicher Beweis.
Aber auch
Prüfung, Pflicht. Und das Nichtlesen endlich eine Schuld.
Das
Große Verzeichnis antwortet
WORTWÄRTS
Zwei
Die Frage nach dem Schreiben
Was ich
tue ist alt. Ich schreibe Buchstaben auf Papier. Mir genügt
die einfache Lust an der Kunst des Schreibens.
Aber
die Überwindung alles Mechanischen, die Einführung
des integrierten Schaltkreises hat das Schreiben verändert.
Nun
lassen sich seelische Erlebnisse in der Art ihrer Entstehung im Gehirn
beschreiben. Neuronale Netze als Modelle der Informationstechnologie
sind Analogien für neue Schreibmuster. Cerebrale Strukturen
formalisieren die Ebenen und Sphären der Texte. Die
Psychoanalyse wird abgelöst von der Psychosynthese.
Die
Hirnforscher haben einer Definition des Schreibens sich
genähert, die existentiell statt ästhetisch ist. Es
besteht kein Grund zu der Befürchtung, dass der
Mensch durch die Benutzung elektronischer Werkzeuge seine
schöpferischen Fähigkeiten
einbüßt.
Doch sollte diesem neuen
Schreiben zur Seite stehen eine theoretische Literatur, die nicht die
vorhandene wissenschaftlich deutet und aufbereitet, sondern die
entstehende sich vorstellt, vorausschauend modelliert, methodisch wie
thematisch ausspäht.
Eine solche
theoretische Literatur wäre schon mit Gewinn betrieben, wenn
durch sie es möglich würde, Fälle zu
erörtern, die bisher in ihrer Unbeschreibbarkeit sich
behaupteten.
Der Darstellung beispielhaft
zugänglich zu machen ist das metaphysische Überleben
des Menschen im Raum, in den Zuständen seiner universalen
geistigen Freiheit, angesichts des sich unbegrenzt wandelnden Ensembles
begrenzter Möglichkeiten den Tod zu erreichen.
Wie
also soll ich vorgehen. Soll ich deklarativ schreiben. Oder prozedural.
Beides tun. Oder keines. Unter Beibehaltung oder Aufgabe meiner
seelischen Eigenschaften, der Entäußerung meines
Gedächtnisses, der gesichts- und geschichtslosen
Digitalisierung meiner Vergangenheit.
Wenn Grundlage
des Moralischen die Suche nach Wahrheit ist, das Schreiben selbst keine
moralische Tat, im Verhältnis von Nichtwissen zu etwas weniger
Nichtwissen aber katalytisch zu wirken vermag, worin könnte
die Katharsis liegen.
Das Große
Verzeichnis antwortet
SPRACHWÄRTS
Drei
Die Frage nach dem Buch
Die Rasanz der
Entwicklung wird nur überboten von der Ignoranz der
Betroffenen.
Die mediale Revolution ist der Erfindung des
Buchdrucks vergleichbar.
Am gedruckten Buch scheiterte
Inquisition und Zensur – also das Verbieten von
Büchern.
Das elektronische Medium macht die
urheberrechtliche industrielle Vermarktung überwindbar
– also das Verdienen an Büchern.
Der
Autor wird frei, denn es geht nicht mehr um ihn.
Alles ist
nun Sache des Lesers als des alleinigen Inhabers des Rechtes auf das
Buch.
Aus den Beziehungen der Leser untereinander
erwächst dem medialen Buch ein neues soziales Konzept.
Das
Buch wird zum fraktalen Ereignisgitter einer medialen Raumzeit.
Es
wird selbst zu der Vorstellung, die es während seines
Gelesenwerdens erzeugt.
Ein solches Buch wird aufsuchbar,
betretbar. Es wird zur virtuellen Behausung des Lesers.
Das
aus den Lesern gebildete Buch aktiviert, verändert die
Vorgaben des eigenen Modells.
Nicht geschehene Geschichten
werden erzählt.
Sondern Geschichte selbst wird
entworfen und verworfen, bis das Buch und sein Gegenstand identisch
geworden sind.
Aber die poetische Revolution ist
ausgeblieben, das neue literarische Medium in einem Programm der
Textbe- und -verarbeitung versackt.
Noch gibt es den
Leser und Schreiber in mir. Und beide als das Buch vor mir.
Wäre
dieses nichts weiter als ein Ensemble gesellschaftlicher
Verhältnisse, es wäre unnötig.
Bücher sind weit mehr als nur der Ausdruck der sie umgebenden
oder hervorbringenden Raumordnungen und deren Insassen.
Traumgemeinschaften,
Erinnerungskollektive, Vergesstnichtsbrigaden sind mir
zuwider.
Das Buch ist und bleibt die geistige Alternative
zum Staat.
Wie könnte es also aussehen,
dieses Buch, welches gleichzeitig in uns allen und in jedem
für sich entsteht und vergeht.
Das
Große Verzeichnis antwortet
DENKWÄRTS
Vier
Die Frage nach der Sprache
O diese
immerwährende Litanei.
... alles Wissen
ver-sagt. Alle Wörter zer-schwiegen. Seit dem ersten Wort
fällt die Schöpfung auseinander. Sprache –
der Verfall des einen ersten Wortes. Statt mit nur einem Wort wieder
alles zu sagen. Eine Sprachwelt schaffend, in der Menschen
wie Wörter sind. Ihre Taten Gedichte. Ihr Schicksal
Geschichte.
Aber wir sagen nichts mehr. Denken selbst unser
Schweigen nicht.
Verlieren ein Wort aus dem anderen. Mauern
mit jedem Wort uns ein.
Jedes Wort ein Stein. Wände
reden wir, von unserem Schweigen zusammengehalten. Erstickt. Ohne alle
Wörter. Nach Verlust aller Wörter. Im
nächsten Anfang wird kein Wort sein. Wenn es ein Wort gab, das
die Welt erschuf, muss es eines geben, das sie
einstürzen lässt. In die Irre dieses
Schrecks gehen wir...
Oder ist die Sprache das
Produktionsverhältnis der Gedankenarbeit, um den literarischen
Gegenstand, seine Einfachheit, seine Bedingtheit gedanklich zu
erfassen, den Gedanken mit der Sprache ins Verhältnis zu setzen,
die Sprache zu Wort kommen zu lassen.
Ist Sprache
die Chemie des Alphabets, die Alchemie des Fabets. Das Formulieren die
Bindungsfähigkeit – und -geneigtheit von
Sprachpartikeln, das Auffinden von Bildungsgesetzen hochpolymerer
Strukturen, die Prognose von Reaktionsverläufen. Setzt
Sprachenergie unkritische zu kritischen Massen zusammen. Formeln
fabelnd.
Wie das narrative Element
verstärken, dass die Permeabilität der Prosa
für den Gedankentransport erhöht wird. Wie zu
elastischeren Formen des Denkausdrucks gelangen und formularisierte
Überlegungsabläufe wie Ableitungen in der
Mathematik erzählen. Wie das Denktempo der Prosa-Sprache auf
Lichtgeschwindigkeit bringen und mit dreihunderttausend Sachen
erzählen.
Erzeugt solche Sprache noch das
Menschliche oder entfremdet sie sich diesem. Strebt eine Sprache,
welche das Subjekt verlassend weiter tätig ist, ihrem eigenen
Bilde nach.
Machen computerisierbare leseprogrammierte
literarische Weisen, macht das digitale Denken eine andere Sprachweise
des Bewusstseins erforderlich beziehungsweise stellen sie
diese her. Vervollkommnet sich diese Sprachweise, bis ihr eigentlicher
sprachlicher Teil sich abhebt.
Wird da etwas aufgegeben,
zerstört, überwunden, etwas Europäisches,
etwas Humanistisches.
Das Große
Verzeichnis antwortet
GEISTWÄRTS
Fünf
Die Frage nach dem Dichter
Hat man sich
zwingend einzulassen auf die Vorstellung einer Kultur ohne Dichter.
Fängt
diese andere Art der Kultur schon damit an sie sich vorzustellen.
Ist
der Dichter tatsächlich überflüssig, nur
weil er sich nicht verindustrialisieren lässt. Oder
wäre es nicht gerade seine Verindustrialisierung, die ihn
überflüssig machte.
Wie aber soll
der Dichter weiter auf dem Grat des Überflüssigen
sich erhalten.
Ersteht die geistige Figur des
Dichters doch aus seinem ›außerirdischen
Bewusstsein‹ nicht im Sinne einer verwirklichten Metaphysik.
Eher im Hölderlinschen Sinn des »von der Erde
Verlassenen«. Und der soziale Typus des
dichterischen Menschen ist Subjekt und Verrichtungsweise einer
archetypisch beschriebenen Arbeit, Lebensbeweis einer unfassbaren
Wirklichkeit zu sein, gleichnishaft unverständlich in seiner
Unmissverständlichkeit, noch hinter allem Bewusstsein das Bild
des Lebens entfaltend, seines Ge- und Entborenwerdens.
Der
Dichter, nicht so interessant als Beruf des Schreibens, ist interessant
als Daseinsweise, als existentielle Form.
Ausgerichtet an der
fortgeschrittensten Entwicklung, in die Richtung, die sie nimmt,
spähend, also der Komplex aus Seele, Sprache, Wort, Geist.
Der
Dichter als die konsequente Berücksichtigung der Einsicht,
dass wir dominant geistige Wesen werden müssen,
wollen wir überleben.
Insofern scheint
dieser Daseinsversuch (überhaupt: Leben – ein
Daseins-Versuch) für die Zukunft wichtiger und
aufschlussreicher als die zur Zeit praktizierten modischen,
also nicht evolutionären Arten und Weisen, die
allesamt davon ausgehen, wie man aus einer Masse von über
sechs Milliarden für den Bruchteil eines Momentes sich in das
mediale Wahrnehmungsraster einpasst, um sofort von der austauschbaren
Gleichwertigkeit verdrängt zu werden.
Wenn
wir uns vorstellen, dass unsere zukünftige Lebensform
damit fertig werden muss, viele Lichtjahre weit allein durch
den Raum zu fliegen, scheint d a s im Augenblick die Alternative:
entweder ephemerer ›Lichtpunkt‹
über die Länge der Strecke, gleichwertig signalhaft
erneuert. Oder das Modell des poetischen Intellekts, also der Dichter,
der immer wieder neue geistige Kindheit setzt in jedes materielle
Weltalter.
Das Große Verzeichnis
SCHWEIGT
Und
Lesen, Schreiben, Buch und Sprache schlagen in einer gewaltigen Synopsis
über mir zusammen.