Roman in zehn Teilen
»Es wird noch einmal die Sinnfrage gestellt, und zwar auf allen Ebenen, was ist möglich, was ist realistisch? Ein Ich/Selbst spricht sich aus, testet die Wirklichkeit und die seines Kopfes und Körpers, ringt um s/einen erweiterten Entwurf. Zu den wiederkehrenden Strängen gehört die Auseinandersetzung mit Carl, einem 18-jährigen Schüler, der sich selbst tötete. Oder analysierende Gedanken zur zweiten Begegnung, nach einem Abstand von 2 Jahrzehnten, mit der einstigen ›großen Liebe‹. Im Vorübergehen werden Phänomene wie ›Wunde und Begehren‹, ›Kindheitserinnerung‹, ›Melancholie‹, ›Opazität‹ oder ›verbliebene Aussichten‹ erweitert erforscht. Erträge und Essenzen werden zuweilen auf Rilkes Engel bezogen, eine ›Figur‹, die somit leitmotivisch wird.«
Sie werden ihn im Zweifelsfall
wieder steinigen, egal mit welchen Mitteln, ein Kind wird das alles wegwischen
indem es sich auf die unschuldigste Weise Pommes wünscht
sie wird Liebe schwören u. ihn wegen der Stelle in Madrid
verlassen; es wird einer studieren, zu einer
„neuen“ Ethik kommen, während der Amtsbruder sie und ihn
mit seinen proletarischen Maßstäben, staatlich gedeckt, denunziert. Es
geht gar nicht anders …: sie werden ihr Leben
auf deinem Tod errichten, ohne es zu wissen
ohne es wissen zu wollen
ohne ein Zeichen zu senden; für wen auch –
»Phobos, oft mit Schaudern übersetzt, gelegentlich auch mit Furcht, entspricht jenem inneren Zittern, das Menschen befällt, die sich plötzlich einem Stück Welt gegenüber befinden statt, wie üblich, in Welt eingebunden zu sein durch Kontexte, die für sie die Wahrnehmungssteuerung übernehmen und ihr Handeln in geeigneten Bahnen verlaufen lassen. Das muss nichts landläufig Schreckliches sein. Die kleinste Wahrnehmung kann zum Auslöser werden, eine Email, eine Szene im Café oder der Anblick einer Ente im Park. Das seismographische Schreiben, das dieses Zittern aufzeichnet, folgt einer langen Tradition. Es kann also nicht so tun, als sei jede seiner Gebärden frisch und jede Vokabel neu. Die Kunst besteht darin, den Einsatz zu finden, Schnitte zu setzen und rechtzeitig auszusteigen, bevor das Bedürfnis, Zusammenhänge herzustellen, die Führung übernimmt. Am Ende ist das die einzige Opposition, die Willms gelten lässt: der vernutzten Welt stellt er nun nicht eine Welt ohne Nutzen gegenüber – wo wäre die zu finden? –, doch mit einer gewissen Entschlossenheit den Anflug der Unvernutztheit: unerwartet, unvermittelt, folgenlos, wenigstens in der Zeitfolge, dabei selbst eine Folge bildend, die vermutlich allem, was wahrnehmend lebt, den letzten Grund zur Empfindung gibt, da zu sein.«
Ulrich Schödlbauer, Nachbemerkung
als ich Prag wieder sah
wusste ich, was
verloren
ist
»Wer sich einträgt, trägt etwas aus: einen Gedanken, eine Differenz, eine Verschiedenheit, die im Meinen befangen bleibt, um sich aus ihm zu befreien. Dazu bedarf es nur einer Fläche, einer Freifläche, von überallher einsehbar, und eines Grundes, der trägt, was man ihm anvertraut. Keinem Grund vertrauen - das sagt sich leicht im Vertrauen, das nirgends ausbleibt, und sei es das auf den kleinen hellen Fleck, der den Eintrag ermöglicht und festhält. Die Nötigung, aufzuschreiben, was ist, weist dem Notat-Gedicht seinen Platz an: das flüchtige, dem Tag oder dem Augenblick entwendete Wort, das sich nirgends zur Rede-Wendung verfestigt, trägt sich in Ordnungen ein, die es übersteigen, um in den Hintergrund zu treten.
Seidentexte: ein Fund-Wort, mit dem Archäologen die 1973 in Mawangdui entdeckten Exemplare des Tao te King und des I Ging bezeichnen. Willms’ Einträge 08 finden, so ließe sich sagen, Grund genug in einem Widerspiel, dem ein schmaler Ausschnitt des I Ging und seiner 64 Hexagramme als Fläche genügt: eine Verbeugung vor der Ordnung der Wörter, vor der sich die Ordnung der Dinge nicht ganz verbergen kann.«
Nachwort von Ulrich Schödlbauer