Zeit des Wandels
Heute kann es keinerlei Zweifel mehr darüber geben, daß die Sozialdemokratie diejenige Partei war, die in der Nachkriegszeit am entschiedensten und nachhaltigsten für die deutsche Einheit stritt. Ihre Deutschlandpolitik mit der klaren Zielsetzung einer möglichst raschen Wiederherstellung der Einheit und das weite Feld der Sozialpolitik bildeten die beiden großen politischen Themen, bei denen die Sozialdemokraten Profil zeigten. In nahezu allen Verträgen und Abkommen mit anderen Staaten sowie der gesamten Bündnispolitik der damaligen Bundesregierung prüfte die SPD zuerst, ob diese der Wiedervereinigung dienten oder ihr hinderlich waren. Das »Nein« der Sozialdemokraten stand so gut wie fest, wenn sie in den Verträgen einen triftigen Hindernisgrund auf dem Weg zur baldigen Erlangung der deutschen Einheit ausmachte.
Die Pariser Verträge z.B. lehnte die SPD am 27. Februar 1955 im Deutschen Bundestag mit der Begründung ab, »die Wiedervereinigung sei nur zu erlangen, wenn das wiedervereinigte Deutschland weder ›sowjetischer Satellit‹ noch ›amerikanischer Truppenübungsplatz‹ wird.«
Auch bei der Kabinettsumbildung im Herbst 1956 stellte die SPD mit großer Sorge fest, daß keinerlei Anzeichen für dringend notwendige Bemühungen um neue, realistische Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit zu erkennen waren.
In der SPD gab es sogar prominente Stimmen, daß es wichtiger sei, für die Wiedervereinigung zielweisende Gedanken zu entwickeln, als die Resonanz dieser Politik in der Wählerschaft zu berücksichtigen. Carlo Schmid erklärte nach der Bundestagswahl 1957, eine Partei müsse, »was sie für richtig hält, auch dann vertreten, wenn sie weiß, daß ihr das von dem Wähler nicht abgenommen wird, wenn andere Vorstellungen oder Parolen oder Stimmungen eher die Gunst der Wählers gewinnen können«. (Carlo Schmid in: Vorwärts, Bonn 27.9.1957, S.4)
Im Mai 1958 stellte die SPD zum erstenmal den Zusammenhang zwischen massiver Abrüstung und der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands her: Die Sozialdemokraten, in der Nachkriegszeit stark geprägt von Kurt Schumacher, hatten sich der Bundesrepublik gegenüber zwar loyal gezeigt, dennoch diesen Staat lediglich als Fragment Gesamtdeutschlands anerkannt – und so wiesen ihre politischen Vorstellungen denn auch konsequenterweise in vielen Fällen über die Bundesrepublik Deutschland hinaus und klar auf ein wiedervereinigtes Deutschland hin.
Die Sozialdemokraten befürchteten in den fünfziger Jahren am meisten eine Auseinanderentwicklung der beiden deutschen Staaten. Die Wiedervereinigung war ihrer Ansicht nach umso gefährdeter, je mehr sich beide Teilstaaten zu unabhängigen Gebilden mit ihren je spezifischen politischen Strukturen entwickelten. Der Einbindung in die beiden großen Blocksysteme wollte man daher zeitweise mit einem System kollektiver Sicherheit – vgl. den Ollenhauer-Plan vom 23. Mai 1957 (vgl. den Ollenhauer-Plan in: Tudyka 1965, S.127ff.) –, ab 1957 mit dem Gedanken eines militärischen Disengagements zwschen Ost und West – vgl. den Deutschlandplan der SPD vom 18. März 1959 (abgedruckt in: SODAPE-Rednerdienst o.J.) – entgegentreten. An diesen Plänen wurde bereits deutlich, daß die SPD hinsichtlich einer unmittelbar zu erlangenden Wiedervereinigung zu einer nüchterneren Einstellung als in den Jahren zuvor gefunden hatte. Erstes Ziel wurde es nun, zunächst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die dann die Lösung der deutschen Frage ermöglichen helfen sollten.
Der Deutschlandplan als letzte große Konzeption der Sozialdemokraten, als Alternative zur Adenauerschen Deutschlandpolitik, wurde schon bald von der eigenen Partei auf Eis gelegt, nachdem er heftige Reaktionen – nicht nur im Inland – ausgelöst hatte. Endgültig zu den Akten gelegt wurde dieser Plan von Herbert Wehner in seiner berühmt gewordenen Rede im Deutschen Bundestag vom 30. Juni 1960 (Plädoyer für eine gemeinsame Politik, in: Jahn 1981, S.232ff.): »Dieser Deutschlandplan«, so führte Wehner aus, »(...) hat sich während der Genfer Konferenz ungeachtet mancher Berührungspunkte, die sich hinsichtlich der Methode und hinsichtlich des Geistes boten, in dem man an die schwierig gewordene Problematik der Wiedervereinigung herangehen muß (...), nicht durchsetzen lassen. Damit ist er genau wie die Vorschläge, die wir zu anderen Außenministerkonferenzen gemacht haben, ein Vorschlag, der der Vergangenheit angehört«. (Jahn 1981, S.243f.)
Nach den Bundestagswahlen von 1953 und 1957, die für die SPD enttäuschend geendet und sie weiterhin auf die Oppositionsrolle fixiert hatten, setzte, zwar zögerlich aber dennoch bestimmt, ein Prozeß in der Sozialdemokratischen Partei ein, der sie über das Godesberger Programm bis hin zu Herbert Wehners »Plädoyer für eine gemeinsame Politik« auf den Weg zur Identifikation mit der westdeutschen Gesellschaft brachte. Zur Revision sozialdemokratischer Grundgedanken führten sowohl innen- wie außenpolitische Faktoren, die einen Lernprozeß auf den Weg brachten, der letztlich dazu führte, daß sich die Sozialdemokratie vollständig auf eine westdeutsche Gesellschaft einstellte.
Zu den innenpolitischen Faktoren gehört insbesondere der Wandel der SPD zu einer Volkspartei, wie er auf dem Außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959 radikal vollzogen wurde. Die Partei hatte erfahren müssen, daß es deutliche Unterschiede zwischen ihren deutschland- und außenpolitischen Ideen und denen der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit gab. In der Wirtschaftspolitik vertrauten die Wähler ihr nicht so recht und in der Wiedervereinigungspolitik, in der sie sich am stärksten von den Regierungsparteien unterschied, konnte sie beim Wähler noch kein erkennbares Profil gewinnen. Tatsächlich zeigten Umfragen bereits 1956, daß Aspekte und Probleme der Wirtschaftspolitik in den Augen des Bürgers selbst vor allgemein bedeutenden Problemen wie der Wiedervereinigung rangierten.
Unleugbar war ebenfalls, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits einen hohen Grad der Integration in den Westen erreicht hatte, der selbstverständlich, wegen der geschlossenen internationalen Vereinbarungen, den außenpolitischen Handlungsspielraum einengen mußte. Zu lange waren die Sozialdemokraten, wie zuletzt das Scheitern des Deutschlandplans aufzeigte, dieser Einengung nicht mit dem angebrachten Realismus begegnet. Als Katalysator für den deutschland- und außenpolitischen Kurswechsel der SPD, der gewissermaßen in einem »Abbau ihres deutschlandpolitischen Realismusdefizits« bestand, gilt die Moskaureise Fritz Erlers und Carlo Schmids im März 1959. Die seit 1949 entstandenen »unverrückbare(n) Realitäten« schlossen, so Schmid in seinen Erinnerungen die Ergebnisse der in Moskau geführten Gespräche resümierend, die Wahrscheinlichkeit aus, »in absehbarer Zeit auf internationalen oder nationalen Wegen zur Wiedervereinigung Deutschlands zu gelangen.«