Quer über dem verstaubten Schaufenster stand: »IRRE«. Die Schrift war nicht groß, nicht klein, wirkte wie im Vorbeigehen hingeschrieben, obwohl der Schriftzug dafür eine Spur zu gekonnt daherkam. Andererseits laufen in einer Großstadt viele Schreibtalente herum, auch wenn nicht jeder einen Pinsel und einen Eimer mit weißer Farbe dabei hat. Handelte es sich überhaupt um Farbe? Die Schrift konnte aufgezogen sein, solche Buchstaben lassen sich kaufen, ein Besitzer kann sie ganz regulär anbringen lassen, auch wenn nicht jeder Ladeninhaber gerade einen solchen Schriftzug auf seinem Schaufenster schätzen dürfte. In der Auslage stapelten sich ein paar alte Schachteln, jemand hatte sie nachlässig übereinander getürmt, die obere war heruntergefallen und lag nun schräg auf ein paar hochkarätig ausgezeichneten Flaschen. Die Schachteln bestanden aus eher unauffälligem, hellgrauem Karton, das einzig Bemerkenswerte an ihnen war der aufgedruckte Schriftzug IRRE, der sich las, als handle es sich um eine Marke oder ein Emblem. Die schwarze Schrift bezeugte vergangenen Adel, als stünde in unsichtbarer Tinte daneben: Baskerville.

Wider Erwarten gab die Eingangstür bereits dem leichtesten Druck nach und schwang, während ein winziges Beben sie durchlief, weit in die Tiefe des Raumes. Auf ihrem Weg löste sie eine Klingel aus, deren scheppernder Klang den letzten Zweifel verscheuchte: Der Besucher hatte es mit einem jener zähen Hauptstadtlädchen zu tun, die in den vergangenen Seuchenmonaten hart um ihre Existenz hatten kämpfen müssen. Offensichtlich hatte dieses hier überlebt, und wenn der Besitzer – oder die Besitzerin – vorerst nicht in Erscheinung trat, mochte das verschiedene Gründe haben. Im Laden war es nicht sonderlich hell, es fehlte die diskrete Unterstützung des Tageslichts durch die sonst allgegenwärtigen Deckenfluter. Allerdings reichte das Tageslicht vollkommen aus, um den Inhalt zu inspizieren. Das Angebot schien in der Krise gelitten zu haben. Hinter einigen teils verschlossenen, teils aufgerissenen und entleerten Kartons mit dem bekannten Aufdruck IRRE sah sich der Besucher einer mit Socken unterschiedlichster Größe und Farbe vollgestopften Stellwand gegenüber. Hier und da fehlten die Preisschilder; offenbar war bei einigen Sockenreihen der Preis im Lauf der Zeit mehrfach herabgesetzt worden, jedenfalls klebten die Schildchen in mehreren Lagen übereinander, was einen schmutzigen, geradezu abstoßenden Eindruck erzeugte.

Ein Sockenpaar hatte es ihm besonders angetan, es trug ein Etikett mit der Aufschrift »Unser Preis ist hoch«, er drehte es in der Erwartung um, das vertraute »IRRE« zu finden, aber dort stand nur »Du wirst hier nichts finden« und er ließ die beiden leicht erschrocken fallen. Wurde man in diesem Laden geduzt?

Aus dem Raum hinter der Stellwand scholl ein kratzendes Geräusch herüber, so dass der Besucher, die Wand behutsam zur Seite schiebend, der bereits eingetretenen Enttäuschung zum Trotz nach einem kurzen Moment der Besinnung neugierig weiterging. Noch immer ließ sich weder ein anderer Kunde noch irgendeine Bedienung blicken. Das kratzende Geräusch kam von einer Modelleisenbahn, die auf einer annähernd quadratischen, den größten Teil des sich öffnenden Raumes ausfüllenden Anlage ihre Bahn zog, wobei sie einmal mit dem einen, einmal mit dem anderen Anhänger verkuppelt und kurz darauf wieder getrennt wurde: offenbar das ausgeklügelte System eines Liebhabers, dem der Platz für sein Spielzeug im eigenen Haus zu eng geworden war. Auf der Zugmaschine, dem feinziselierten Modell eines ES64P, auch Euro-Sprinter genannt, stand, wie zu erwarten, in klarer, dem DB-Logo nachempfundener Schrift: IRRE. Die Dächer der Anhänger waren in ähnlicher Weise beschriftet, dort las man, ohne erkennbares System, die Ausdrücke VERSIBEL, GULÄR, LEVANT, PARABEL, DENTA und so fort. In einer anderen Umgebung hätte der Kunde das kratzende Geräusch sicher als nervig empfunden, doch hier, inmitten der ungebrochenen Stille, kam es ihm stimmig vor; es hätte ihm etwas gefehlt, wäre das kleine Kraftbündel durch einen Zufall aus der Bahn gefallen oder einfach mangels Stromzufuhr stehengeblieben. Auf seiner Rundfahrt passierte der kleine, von Geisterhand immer wieder umgruppierte Zug ein kompliziertes Tunnelsystem, bestehend, wie ein kontrollierender Rundblick ergab, aus einer Reihe von Großbuchstaben, und der Kunde war weder erstaunt noch unangenehm berührt, als er feststellte, dass es sich dabei um verschiedene, zum Teil recht kunstvoll gefügte Zusammenstellungen der Buchstaben I-R-R-E handelte.

»Was denn sonst?« sagte er halblaut zu sich, registrierend, dass sich in diesem Moment ein Schatten von einem bisher übersehenen Schreibtisch erhob. Der Schatten hatte es nicht eilig näherzukommen, in der Hand trug er einen Staubwedel, mit dem er, offenbar um das eine und andere Objekt im Vorübergehen zu säubern, gelenkig nach links und rechts ausschlug; schließlich stand er vor dem Kunden und ließ den Wedel absichtslos auf die Eisenbahnplatte sinken. Der Kunde sah das Malheur nahen, seine Sinne arbeiteten fieberhaft, doch bevor er eingreifen konnte, war der zierliche ES64P gegen den Wedel geprallt und arbeitete sich nun an dem Hindernis ab, während das angenehme Kratzen einem wachsenden Kreischton wich, der für die nahe Zukunft nichts Gutes erwarten ließ. Der Schatten, von der Einlage unberührt, blickte dem Kunden mit wässrigen Augen ins Gesicht und sagte fürs Erste nichts, dann seufzte er, zog ein Papier aus der linken Brusttasche, strich es glatt, warf einen Blick darauf und überreichte es ihm mit einem, wie es letzterem vorkam, vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, der allerdings gleich wieder ins Unbestimmte zerfloss.

»Was soll das?« hörte dieser sich fragen, »ich habe bei Ihnen nichts bestellt. Auch scheint mir der Geldbetrag viel zu hoch zu sein. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.« Der Schatten seufzte, nahm den Wedel von der Modelleisenbahn, der kleine Zug schoss nach vorn, kullerte vom Gleis und blieb, entfernt an einen strampelnden Käfer gemahnend, auf dem Dach liegen. Der Anhänger mit der Aufschrift PARABEL löste sich aus der Kupplung und fuhr noch ein paar Zentimeter weiter, ehe er stehenblieb. Eine Fliege kletterte auf ihm herum. Der Kunde fahndete interessiert nach dem Brandzeichen IRRE, fand aber nichts. Der Schatten war seinem Blick gefolgt, lächelnd griff er nach der Fliege, drehte sie um und wies auf das gesuchte. »Das gefällt mir«, hörte der Kunde sich sagen, »das ist doch einmal etwas anderes als der übliche Floh im Ohr. Wer will nicht fliegen?« Schon im Begriff, die Geldbörse zu zücken, sah er den Schatten energisch auf das Papier deuten und mit den Fingern die Bewegung einer Unterschrift in die Luft zeichnen. »So also läuft das hier«, ging es ihm durch den Kopf, »man verkauft seine Werte und erhält dafür ein Nichts, das fliegen will.« Schon saß ihm die Fliege auf der Hand und schien sie zu führen, jedenfalls klappte es mit der Unterschrift ganz wunderbar, gleich darauf verschwand das Blatt, kaum unterzeichnet, so abrupt, dass sich der Kunde fragte, in welcher Falte des zusehends zerfasernden Schattens es wohl Zuflucht gefunden hatte.

»Das ist doch irre«, sagte er sich, als er den Laden verließ und er das schon halb vertraute Kratzen der Fliege über dem Herzen spürte, denn der Schatten hatte sie ihm, in eine Schachtel verpackt, mit dem Ausdruck plötzlicher Ergriffenheit in die Hand gedrückt, »so bist du jetzt also stolzer Besitzer einer Fliege, von der du weißt, dass sie dir, sofern sie es will, die Hand zu führen imstande ist, ohne dass du dich dagegen auflehnen würdest, während du sie doch wieder, sobald dir der Wille danach steht, zwischen zwei Fingern zerquetschen könntest. Dabei weißt du nicht, welche unbekannte Macht hinter ihrem Willen steht. Auch weißt du nicht, ob sie dort stehen bleibt oder ob nicht über kurz oder lang eine andere Macht an ihre Stelle treten wird. Aber vielleicht ist diese Sorge unbegründet und die Fliege verfügt über einen eigenen, ein für allemal in sie einprogrammierten Willen. Sollte das der Fall sein, dann kannst du dich ja auf einiges gefasst machen. Wer war überhaupt dieser Schatten, der hinter dem Schreibtisch auftauchte, als habe er dort die ganze Zeit gesessen, während du hättest schwören mögen, dass dort kein Schreibtisch stand, als du den Laden betratest, geschweige denn ein Schatten? Sollte es der Schatten der Vergangenheit sein, dann wäre es gut möglich, dass er dir aus der Zukunft entgegenkam, jetzt, nachdem du ihm die Fliege abgekauft hast, durch die sich dein Schicksal mit seiner glanzlosen Schamlosigkeit verbindet. Es könnte also sein … ach was, Fliegen sind Fliegen und wer sie für etwas anderes hält, der ist binnen kurzem verrückt.«

 

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