Goethe hat Johann Georg Jacobi eben­so beleidigt wie zuvor dessen Freund Heinse. Er sagt zu Herrn von Seefeld in diesem Zusammenhang in aller Öffent­lichkeit: »Was wollen wir von Jacobi? Er soll uns auf doppelte Weise gefallen, als Beamter und Philosoph. Beides vermag er nicht, weil er beides miteinander ver­knüpft hat. Es ist die italienische Weise, die nichts auseinanderhalten kann, le­ben und streben, glauben, handeln, genießen, es ist alles einerlei und verliert sich im Menschlichen.«
Im ›Frankfurter Gelehrten Anzeiger‹ steht nichts dergleichen, dort hält »Das Unglück der Jacobis« diesen Gedanken mehr im Hintergrunde der Satire fest und bindet das Wesen dieser eigentlich guten Freunde an deren bedeutende Kraft, der Aufklärung zu widersprechen. Goethe, hier vom Zeitgeist ergriffen, urteilt als Deutscher und nicht als Zeit­genosse Vallots, den er ebenfalls liebt und schätzt, aber gleichzeitig beißend kritisiert hat. Es ist die gleiche Gefühls­welt der Trennungskraft seines Geistes, die hier wie so oft aus ihm spricht. Ita­lien und die Niederländer. Seine Besu­che in Düsseldorf bei den Jacobis lassen ihn ›italiänisch‹ empfinden, seine Besu­che in der dortigen Galerie gelten aber den Niederländern.
Es gibt ein bescheidenes Bild von Lot­te Gravinius, zart skizziert und von Reh­berg lange nach Goethes Tod etwas schwerfällig beendet. Goethe sitzt auf einem Berg von Kissen, den Arm an Jacobis Schulter und ihn zurückstoßend.
Ein eigentümlicher, fast photographi­scher Reiz geht von der Szene aus: Goe­the von einem Wandschirm mit aufstei­genden Enten überragt, hat die Iphigenie offenbar vom Tisch geworfen, denn sie liegt, pikanterweise als Wiener Nach­druck, am Boden. So wie hier ist Goethe wahrhaftig der unbekannte und feurige Denker, der nichts mit Grillparzers Besenstiel mit dem Ordensstern zu tun ­hat. Die Wut Goethes als leidenschaftli­cher Geist und Redner am Arm Jacobis hat etwas Mitreißendes. Die Schwerfäl­ligkeit in den Details hindert uns keineswegs, die Wirklichkeit zu fühlen. Ja, gerade das Derbe, fast Klobige des deut­schen Mobiliars, ist eine Sache für sich. Tische und Stühle sind so kräftig verziert, daß die honigfarbenen Ornamente Gefäßen gleichen, die man an Brettern befestigt hat. Man kann sich im Glanz dieser Dinge in ihrer gewölbten Gegenwärtigkeit wohl fühlen.
Selbst der entsetzte Jacobi scheint gut gebettet. Ein brauner Schatten umgibt ihn wie eine Brotrinde. Der Schrecken hat seine genießbare Grenze. Man kann sich sogar fragen, ob dem künstlerisch so kraftvoll sprießenden Dilettantismus ein bloß etwas handgreiflicher Witz durch Hilflosigkeit ins Dramatische entglitten ist. Andererseits täuscht eben kein ent­wickeltes Stilgefühl über das höchst Wahrscheinliche des Vorgangs hinweg. Weder Jacobi noch Goethe sind im Zustand dieser Fixierung Männer von Welt, sondern eher gewöhnliche Bürger, die sich bedrohen, weil beim Kartenspiel jemand gemogelt hat.
Von der Hand der Malerin gibt es ein anderes Aquarell, das den Kölner Prälaten Schnütgen, neben sich eine Muttergottes, beim Abendessen zeigt. Der Braten ist groß und zeigt wüste Spuren eines etwas vulgären Appetits, aber der leidenschaftliche Sammler, durch eine plötzliche Einge­bung abgelenkt, blickt wild, die Gabel in der Faust, ein zusammengedrücktes Papier in der Linken, über Echtheit oder Falschheit des Stückes wie vom Donner gerührt, über den Tisch. Dieser lange Blick, den man messen könnte, hat soviel Wahrscheinlichkeit, daß er, durch Kunst hervorgerufen, nur von einem Meister chaotischer Manieren wie Hogarth hätte bewältigt werden können.
In diesem Werk der Gravinius ist es das knopfartig starre Auge, größer als die blaue Berlocke auf der Soutane, bei dem Bilde Goethes das viel zu große Profil, das Doppelkinn und der unbemeisterte Blick, die das Furchtbare nicht vertuschen. Der Dichter trägt graue Gama­schen, die zum Morgenrock gar nicht passen wollen, es wirkt so, als habe er sich verkleidet, gewissermaßen ein Wolf im Schafspelz, ein versteckter Wanderer oder Jäger. Groß und französisch schwe­ben die Blumen des Mantels in den etwas wulstigen Falten. Ein Aufbruch von der Idylle zur Tragödie bereitet sich vor, der besonders gesteigert wird durch einen wie zufällig im Fensterausschnitt durch die Rabatten sprengenden Reiter mit einer Lanze. Man weiß nicht so ganz, ist es ein Kosak wie aus Gessners Schweizer Bildern oder ist es bloß ein instinktiv erfundenes Symbol?
Man hat Wein und Kaffee getrunken, eine winzige Münze, ein antikes Stück, dessen Umschrift die Künstlerin nicht bewältigt hat, deutet auf ein abge­schweiftes Gespräch, wie es Goethe liebt, und auch auf die immer gleich den Beweis hinzuziehende Gründlichkeit in Goethes Wesen. Hier zwingt Goethe alles. Er zieht die Tischdecke mit dem Knie herab und drückt die stützende lin­ke Hand tief in den Berg aus Kissen, in denen er wie ein riesiges Kind fast etwas lächerlich niedergesunken ist. Diese himmelblauen Kissen sind etwas Weibli­ches und bestätigen die ganz andere, die weibliche Seite des großen Dichters als erlaubte Form in einer Zeit, die weit ent­fernt ist von der Männerbeschränktheit späterer Epochen. Es ist nicht ganz aus­zumachen, ob er in diesen Kissen so sehr versinkt, daß er wie in einem kindlichen Ausgleich das graue, viel zu kleine Füß­chen erhebt, weil ein Schatten darunter vielleicht auch ein Bänkchen sein kann. Trüge Goethe einen Turban, wie er in Frankreich in diesen Zeiten einer zau­berhaften Gemütlichkeit vorkommt, so wäre das Bild vollkommen; so bleibt es deutsch und zeigt das bloß Übergestülpte des Rokoko im Zeitalter einer schon antiluxuriösen Epoche der Aufklärung. So wie ein Liotard ist dieses Bild eben nicht.
Es ist eigentlich sogar furchtbar, das heißt, die Unmittelbarkeit ist so be­drängend, als habe Kleist sie erfunden.
Wir besitzen im Grunde kein kriti­sches Vermögen mehr, solche Sachen auch nur annähernd aus einer winzigen Überlegenheit heraus zu sehen.  Wäh­rend Herr Beuys Lehmhaufen ins Mu­seum klatscht, stehen wir fassungslos vor Goethes Konterfei, seinem Streit mit Jacobi, dessen Ursache bei weitem die Grenze dessen überschreitet, was wir gerade noch sehen und fühlen können. Wie der Streit über die heilige Dreifaltig­keit zwar das abendländische Denken bis in die Wesenzüge der Wissenschaf­ten beeinflußt haben mag, ohne daß wir je klar erkennen werden, aus welchen Symbolen der Christenheit die Logarith­mentafeln bestehen, haben wir auch die letzte Pfiffigkeit eines Wirtes eingebüßt, der den Streit Jacobis und Goethes durchs Schlüsselloch beobachtet. Wir wissen nicht, wie wir ihn einschätzen sollen, um Nutzen daraus zu ziehen. Um wieviel kälter wir auch aus der Schule unserer geschärften Blindheit die Blüten betrachten, die so steil aus dem Blumen­topf aufsteigen, als wollten sie später, ohne an Weite gewonnen zu haben, dicht neben den Stengeln in die Wein­gläser stürzen, dies mögen wir noch leichtfertig berechnen, was aber beide Persönlichkeiten aneinandergeraten läßt, entzieht sich unserer Kenntnis von
Liebe und Wut zwischen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts.
Die Spuren einer poetischen Angst, die auch sonst unfehlbar aus der genau­en Betrachtung eines älteren Bildes auf­steigen, befallen uns mit einer Prise zer­streuter Erinnerungen als fortwährende Ablenkungen vom Kern der Sache. Was bedeutet der Reiter in den Rabatten? Aber schlimmer noch, wir haben keinen wahren Vergleich für Zügel und Steig­bügel oder den ausgefallenen Sattel, des­sen Knauf wie ein Hirschgeweih sich über dem Rücken des Pferdes teilt, nach links und rechts weit auslädt, damit eine Anzahl Dolche und Säbel darin hängen können, als sei das ganze ein barbari­scher Kleiderständer. Wie will er damit durch einen Wald oder auch nur an einer Hecke vorbeikommen? Selig ist, wer sich unter solchen Gedanken an Madame Gravinius hält. Was macht die Riesenblume in Goethes Schlafrock so frei und leicht? Was läßt uns an Goethe den Turban vermissen? Es ist das pflanzlich Aufgelöste, das von Viereck und Eisen entfernte Schwebende und Weiche eines von Wille und Härte ver­lassenen Stils süßer, reiner Nahrung.
Die weibliche Malerei eines Kindes oder die kindliche Malerei einer Frau ist nach den Maßstäben eines empfindli­chen, leicht von Panik befallenen Be­trachters den Fresken Michelangelos vorzuziehen, besonders während eines Anfalls von Schwermut. Ein Gift, ein Staub, ein ätzendes Lösungsmittel für den Schmelz der Früchte des Himmels ist über das heute verbliebene Licht in die Zeit gefallen und hat sie verkürzt. In zusammengeschrumpfter Gestalt, im Takt des von Männern erfundenen Ungeziefers aus Uhren vollzieht sich die Verriegelung des Geistes durch Lärm.
Madame Gravinius stammt aus Dres­den. Was für ein Vorzug! Sie besitzt die lichte Gestalt einer leichtfertigen Torte. Sie hat eine heitere Intelligenz, die den Begriff eines Landeskindes ins Engelhaf­te erhebt und das Wort Bevölkerung zu einer Verwünschung aus dem Geiste der Akten macht. Mit einer vom Dialekt beeinflußten Sentimentalität gelingt es ihr leicht, bedeutende Persönlichkeiten und selbst Generäle für sich einzuneh­men. Als Tochter eines Kuchenbäckers, der im Alter schwermütig das Kaffeehaus an der Brühl'schen Terrasse mit Backwerk beliefert, lernt sie früh die höheren Kreise Dresdens kennen.   
Sie arbeitet schon bald als Patisseuse und Speisemalerin in der königlichen Hofkonditorei. Ihre Aufgabe besteht darin, Landschaften auf Pasteten zu malen. Eine davon, die sächsische Schweiz bei Liebenau, erregte die Aufmerksamkeit des Königs. Er läßt diesen Kuchen unter einer Haube aus Glas bis zum Zerfall präsentieren.
An der Dresdner Akademie erhält sie jetzt kostenlosen Unterricht. Sie verlegt sich auf die menschliche Gestalt und das Porträt. Es gelingt ihr ein berühmt gewordener Marmorkuchen, der August den Starken fast lebensgroß auf dem pol­nischen Adler zeigt. Durch das Abfeuern der salutierenden Kanonen bricht er vor versammeltem Hof zusammen.
Der König schenkt ihr gerührt eine Abfindung und Privilegien zum Titel einer ›Königlich Sächsischen Kuchenfi­guristin‹. Sie selbst vergleicht sich in einem Brief mit Leonardo da Vinci, des­sen Reiterstandbild bekanntlich von Gascogner Bogenschützen zerstört wur­de.
In Karlsbad, wo sie Studien zu einer gebackenen Ansicht des Gräfenbergs treibt, lernt sie Goethe kennen. Sie backt ihm vierzehn Seiten aus Werthers Lei­den, die Schrift spiegelverkehrt, »für das Lesen im Magen«, wie sie Goethe bekennt. Gemeinsam verspeisen sie vier, die anderen nimmt er mit nach Weimar. Die Brücke, die alle Großen der Zeit mit Goethe verbindet, ist so geschlagen. Sie backt Jäger und Wild für eine Kuchen­jagd, wagt sich an mehrere Szenen zu Shakespeares Sommernachtstraum und erfindet ein Büttenpapier aus Weizen.
Die meisten der darauf gemalten Aquarelle sind später einer seltsamen Laune Ludwigs II. von Bayern zum Opfer gefallen. Er ließ sie überall suchen, weil er in ihnen nicht ganz zu Unrecht ein Heilmittel gegen Schwermut sah. Zu Oblaten geschnitten nahm er sie, ohne den Bildern darauf besonde­ren Wert beizumessen, zu sich. »Ohne diese Dresdner Pfannkuchen«, schreibt Wagner etwas ungeniert an Cosima, »ist nichts mit ihm anzufangen, wenn sie ihm einmal ausgehen sollten, mußt Du ihm welche malen.«
Heute sieht man das etwas bunt gera­tene Bild, von der Abgeschlossenheit sei­ner zweifach zu genießenden Bedeutung in eine unbesiegbare Lebendigkeit versetzt, es ist eine Reli­quie. Es ist ein Schutzschild in einem Alptraum. Man muß gesehen haben, wie nach einer Demonstration von Teufeln jeder von ihnen wie durch ein Fensterchen Goethe die Hand gibt, unter seinen Blicken die palästinensischen Halstü­cher niedersinken und alle der verblöde­ten Aufklärung durch die bloße Berüh­rung der Knie Jacobis entsagen.
Tatsachen werden zur Materie des unbekannten Lichtes. Sie sind wegspa­ziert, um zu leuchten, sie bedrohen nie­manden mehr. Unter diesem zauberhaf­ten Zusammenbruch einer ebenso hart­näckigen wie unsichtbaren Grenze läßt Goethe die Hand, die er gegen Jacobi erhoben hat, sinken, ja steht aus den Kissen auf, hilft Jacobi aus der etwas peinlichen Haltung, und da steht er groß und schön im farbigen Mantel versöhnt mit Jacobi fast schon in einem anderen Deutschland.

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