»Wenn die Sekunden der fremden Erfahrung verstrichen sind, muß die Maske energisch wieder abgezogen werden. Dahinter erscheint ein lachendes Gesicht, und lachen muß, wer immer den Vorgang sieht. Es ist das Lachen einer Freiheit, die sich selber wieder etwas besser kennt.«
Peter von Matt: [Essay über Elias Canetti]

 

Bei meinen früheren Aufenthalten in Kairo habe ich die Altstadt vorzugsweise spätabends und nachts durchstreift. Dies geschah vor allem deshalb, weil mein Freund und Führer, verschwiegener Kenner aller Gassen und Winkel, tagsüber beschäftigt war, aber ein leidenschaftlicher Nachtgänger ist. Mir war es recht, ich bin’s auch, und wie ich später erkennen sollte, hatte es sein Gutes: Es vermied einen möglichen Schock, denn die Nacht mildert die Züge des Verfalls, des Ruinösen, schützt Armut und Elend vor dem zudringlichen Blick.

»… in its dilapidation the city helps the illusion. Its ruined houses, which no one thinks of repairing …«

Die Nacht gibt nur direkt beleuchtete Szenerien frei. Und daran fehlt es ja nicht: Rund um den Kopf herum müsste man Augen haben, um alle Bewegungen, Drolerien und Absonderlichkeiten des Kairoer Straßenlebens gleichzeitig zu erfassen. Kaum wendet man sich den Männern – perfekte Mimen ihres Genres – in einem Straßencafé oder einem Laden zu, hebt im Rücken ein raffiniertes Streitgespräch zwischen einem Autofahrer und einem Eselskarrenbesitzer an über das Für und Wider des Befahrens von Einbahnstraßen in Gegenrichtung oder über die verschiedenen Techniken des Ausweichens. Noch ganz gefangen von den Sophistereien und der Kunst der Argumentation, je nach Gesprächslage bald das Absurde streifend, dann wieder in gewaltigen Bilderbergen kumulierend, wird man durch eine jäh aufgackernde Frauenstimme in der Höhe abgelenkt, die im Dunkeln, irgendwo darüber noch, in einem Weibergelächter ihr Echo findet. Einige Schritte weiter, wir sind aus dem Lichtkegel der Szene herausgetreten, führt die Gasse uns ins Dunkle und in die Stille. An einer Ecke, halb sitzend, halb liegend, eingehüllt in eine löcherige Decke, hebt ein Bettler, ein Versehrter, irgendein elender, armer Teufel, sein Gesicht zu mir auf. Er lächelt mich still an. Ich habe ihm nichts gegeben, bin fast schon vorbei, bevor ich ihn bemerke; und dieser Mensch lächelt dem Fremden aus seiner Einsamkeit im Dreck der Gosse zu.


Über den Autor

Gennaro Ghirardelli, geboren 1944 in Zürich. Studium in Ethnologie, Philosophie, Religions- und Kulturwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Mehrere lange Forschungs- und Arbeitsaufenthalte in arabischen Ländern, insbesondere in Syrien und Ägypten. Ehemals Lektor bei Athenäum Verlag, Frankfurt a. M., Herausgeber der „Edition Pandora“ im Campus Verlag, Lehrtätigkeiten an den Kunsthochschulen Berlin und Hamburg. Arbeitet als Übersetzer und freier Publizist.

 

Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen unter vielen anderen:

  • Albert Hourani, Der Islam im europäischen Denken, Frankfurt/M, S. Fischer Verlag 1994.
  • James N. Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen, Berlin, Siedler Verlag 1999.
  • Natalie Zemon Davis, Leo Africanus, Berlin, Verlag Klaus Wagenbach, 2008.
  • Michael Axworthy, Iran. Weltreich des Geistes. Von Zoroaster bis heute, Berlin, Verlag Klaus Wagenbach 2011.
  • Rémi Brague, Die Weisheit der Welt, München, Verlag C. H. Beck 2006.
  • Charif Majdalani, Das Haus in den Orangengärten, Roman, München, Knaus Verlag 2008.

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