Ulrich Schödlbauer

Lettmiliw war ein rüstiger Brigadier. Seit ich einst eine Erzählung mit diesem Satz begann, bekomme ich keine Ruhe mehr. Was habe ich getan? Ich weiß es nicht. Ist es wichtig? Wichtig vielleicht nicht, aber auch nicht richtig. Wieso Brigadier? meldet sich eine Stimme im linken Ohr. Was soll diese Anspielung? Du kennst keinen Brigadier. Also solltest du sie dir verkneifen. Aber, wende ich ein, würde ich einen kennen, so würde das die Sache nur schlimmer machen. Das ist richtig, schaltet eine andere Stimme sich zu. Dann käme zur Diskriminierung die persönliche Herabwürdigung hinzu. Ich habe niemanden diskriminiert, wende ich zögernd ein, halb wissend, was jetzt bevorsteht. Und warum nennst du ihn rüstig? plärrt die zweite Stimme. Ich kann ihren Stimmaufwand nicht anders nennen, denn er lässt das Ohr vibrieren, ohne dass ich mich dagegen zu wehren vermag. Sehr richtig, meldet sich eine Stimme von rechts, es gab also auch nichtrüstige Brigadiers? Willst du das sagen? Willst du das wirklich sagen? Es heißt ja nicht blutrünstig, wende ich ein. Soweit geht doch kein Mensch. Ich auch nicht. Das also war deine Assoziation, empört sich die erste Stimme. Nein, war sie nicht. Warum fällt dir das Wort dann ein? Nein, ich weiß es nicht, muss also passen. Er muss passen! meldet sich eine gewichtige neue Stimme zu Wort. Er muss immer passen, wenn man ihm auf die Schliche kommt. Woher ich das weiß? Ich beobachte ihn schon länger. Du beobachtest ihn? vibriert eine weibliche Stimme. Ich hoffe, ich schreibe nichts Falsches, aber sie kommt mir weiblich vor. Das ist diskriminierend, ich weiß es wohl. Also streiche ich diesen Passus. Nein, ich habe mir nichts dabei gedacht. Nichts hat er sich dabei gedacht, zwitschert die Runde. Sie scheint nicht besonders aufgebracht, eher belustigt. Er hat sich vorgestellt, du seist weiblich, Erna. Hast du es registriert? Und er hat sich nichts dabei gedacht. Jedenfalls denkt er so weit voraus, dass er dein Geschlecht ausstreichen möchte. Hörst du: ausstreichen. Ich streiche niemandem das Geschlecht, ich denke mir nur keins dabei, rufe ich entnervt. Ist das verboten? Die Runde schweigt. Ich nutze die Gelegenheit, um auch den ersten Satz auszustreichen. Du streichst Brigadier Lettmiliw aus? kreischt eine Vettel. (Ich nenne sie Vettel, weil mein Unterbewusstsein auf sie anspricht und mir das Wort diktiert.) Nimm das sofort zurück! Aber ich nehme es zurück, entfährt es mir wie ein Seufzer. Ich nehme alles zurück. Gerade das werfen wir dir vor. Du nimmst alles zurück, was wir gemeinsam erreicht haben. Du stiehlst dich aus deiner Verantwortung. Ich trage meine Verantwortung, brülle ich und erbebe dabei. Brigadista Terrorista. Kein Brigadier der Welt... Du bestreitest seine Existenz? Du erschreckst uns. Dass es so um dich steht, wussten wir bisher noch nicht. Wie steht es um mich? Leicht zitternd stelle ich diese Frage, denn die Besorgnis im Ohr überträgt sich auf meine Psyche. Das solltest du dich schon selbst fragen, verlangt die weibliche Stimme, die keine sein will. Was ich will, geht dich gar nichts an. Das hier ist allein meine Entscheidung. Dann entscheide dich doch, rufe ich flüsternd und höre: Auch das ist meine Entscheidung. Ich, mich zur Höflichkeit zwingend: Also scheint sie zwischen uns nicht weiter wichtig zu sein. Damit lässt sich doch umgehen. Was tuschelt ihr beiden da, drängt sich die erste Stimme von links zwischen uns. Hier wird nicht getuschelt. Der Angriff, so unvermutet wie roh, stiftet eine Gemeinsamkeit zwischen Erna und mir, die ich auszubauen beschließe. Erna ist traurig, wage ich zu erklären, denn sie bekommt... Weiter komme ich nicht. Woher weißt du das mit den Sommersprossen? Das ist ausschließlich meine Privatsache. Ich untersage dir –... Aber jetzt gerate ich in Fahrt. Ich bin in meinem Leben vielen Ernas begegnet, ich weiß, wie man solche Situationen gestaltet. Erna ist müde, erkläre ich kategorisch. Brigadier – Sprich den Namen nicht aus, zischt eine Stimme, die ich so bisher nicht kannte. Sprichst du ihn aus, bist du ein toter Mann. Schlimm, schlimm. Was hat mein Leben mit dem Namen Lettmiliw zu tun? Gehts noch? Welche Leute halten mein Ohr besetzt? Wie sind sie hereingekommen? Habe ich sie hereingebeten? Ich kann mich nicht erinnern. Nein, beim besten Willen: daran kann ich mich nicht erinnern. Ist das wichtig? Vielleicht, da es jetzt, wie es scheint, ums Leben geht. Um welches? Um meines? Wer gibt ihnen das Recht, mit meinem Leben zu spielen? Wir haben alles Recht der Welt. Warum? Weil wir es uns nehmen. Das Recht ist ein herrenloses Gut. Jeder nimmt sich, soviel er davon brauchen kann, und lässt den Rest liegen. Und wo bleibt mein Recht? Falsches Bewusstsein! Dein Recht ist kein Recht. Da geht es hin. Fang es oder lass es. Du wirst es nicht fassen, es sei denn... Ja? Es sei denn, du verzichtest darauf. Warum das denn? Das ist unsere Auffassung. Du solltest sie dir zu eigen machen. Nein? Du bist dagegen? Du beharrst auf deinem Recht? Es wäre besser, sie dir zu eigen zu machen. Bist du erst unserer Auffassung, sind wir uns einig. Einig worin? Dass unsere Auffassung besser ist. Besser als was? Besser als meine? Das müsste ich wissen. Nichts weißt du. Hast du das nicht bereits vorhin beteuert? Haben wir es dir nicht abgenommen? Wir haben es dir abgenommen, nicht wahr? So weit sind wir dir also entgegengekommen. Es wäre an der Zeit, dass auch du dich bewegst. Du willst nicht? Auch gut. Im Grunde bleibt es sich gleich. Du brauchst uns und wir brauchen dich. Ihr braucht mich? Gut, dass ich das weiß. Das wird sich noch herausstellen. Du fragst nicht, wofür wir dich brauchen. Das ist verräterisch, denn es zeigt uns, dass du bereits resignierst. Ich resigniere nicht, ich höre euch zu. Das ist gut, das ist gut so. Dadurch erfährst du etwas. Also hör uns zu –... Die Stimme schweigt. Ich glaube ein Räuspern zu hören, aber ich bin mir nicht sicher. Wäre ich sicher, ich müsste es überprüfen. So, im Zustand der Unsicherheit, darf ich mir relativ sicher sein und koste es gnadenlos aus. Du liegst falsch, entringt sich eine Stimme dem Chor. Was du für Räuspern hältst, war unser Beschluss. Ihr habt etwas beschlossen? Wir haben etwas beschlossen. Ganz recht. Du wirst darüber in Kenntnis gesetzt, sobald die Zeit reif ist. Wann wird das sein? Du fragst noch, das zeigt deine Unreife. Wie kann die Zeit reif sein, wenn du unreif bist? Also bin ich die Zeit? Du bist unsere Zeit, in unsere Worte gefasst. Wusstest du das nicht? Nein, das wusste ich nicht. Wenn ich eure Zeit bin, warum stehlt ihr mir dann die meine? Weil es nur eine Zeit gibt und die gehört uns. Ihr meint, ich gehöre zu euch? Du gehörst nicht zu uns, du gehörst uns. Ich verstehe. Ihr denkt, ich sei euer Sklave? Nein, das denken wir nicht. Wir denken nicht über dich nach. Wir denken, du verstehst, dass wir überhaupt nicht denken. Wir sind einfach da. Wie die Sonne? Wie das Licht? Sagen wir einfach: wir sind da. Wir sind auch dort, wir sind überall. Warum sagst du wir? Nur, um uns dir verständlich zu machen. Ich könnte auch ›ich‹ sagen. Aber wozu der Aufwand? Einer sagt ›ich‹ und schon beginnen die Schwierigkeiten. Sag niemals ›ich‹, so lautet die Regel. Gut, dass ich das jetzt erfahre. Ich habe... Siehst du, an diesem Ich haben wir dich. Wir hätten dich auch sonst, aber daran haben wir dich besonders. Das willst du doch sein, ein Besonderer? Also höre: du bist ein Besonderer. Warum? Weil du uns hörst. Du hörst uns, obwohl du nichts hörst. Du hörst nichts, obwohl du uns hörst. Du hörst uns, weil du nichts hörst. Wir sind die Gestalt der Welt. Also Lettmiliw... Vergiss Lettmiliw! Wer ist Lettmiliw? Ein Motiv aus einer versunkenen Welt. Was ist ein Motiv? Siehst du, nun schweigt dein Gewissen.

22. Mai 2018

 

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