Aorta: Frontbild

… hatte ich gegen Ende des zweiten Semesters 1966 in der Eigenschaft als Vorsitzender des FDJ-Studentenklubs unseres Instituts für Kunsterziehung auf zwei Plakaten einen Lyrikabend unter dem ironischen Titel WIR BIN DIE ZUKUNFT angezettelt. Diese Überschrift war eine Verszeile des Dompredigersohnes Odwin Quast, der an unserer Lesung teilnahm, aber nicht Kunsterziehung, sondern Musikerziehung/Germanistik ebenfalls im 1. Studienjahr studierte. Als Untertitel hatte ich hinzugefügt:

unzensierte Lyrik von uns, mit uns, über uns.

Das provozieren sollende Plakat lockte fast alle Studenten und zwei Dozenten an, und zwar ausgerechnet den ollen Schrift-Dozenten und einen jungen, den ich noch nicht kannte. Er gehörte zur Fraktion der Philosophen und war im SED-Parteivorstand der Uni. Da wir den Lyrikabend mit einem von Kommilitoninnen gut vorbereiteten Abendessen begannen, suchte ich mit ihm das Gespräch und erfuhr wie er heißt: Dr. Dieter Weigert. Spannend wurde es, als ich erfuhr, dass er vor ein paar Jahren noch der Kommilitone von Volker Braun war. Am Ende kam sogar heraus, dass er vor seiner Verheiratung Dünger hieß und im Vorspann von Volkers 1. Gedichtband »Provokation für mich« erwähnt wurde:

Die Liebesgedichte für Susanne M. in Flensburg idealisieren die schwache Liebe meines Freundes Dieter Dünger aus Erfurt, den im harten Alter von 22 die Entfernung anfocht.

Es lasen insgesamt vier Kommilitonen eigene Gedichte: Friederike Techel, Frank Heine, Odwin Quast und ich. Da ich zuvor einleitend erklärt hatte, dass der Untertitel »unzensierte Lyrik« bedeute, dass über die Gedichte diskutiert werden dürfe, nahmen die Studenten beiderlei Geschlechts davon regen Gebrauch. Es wurde auch starker Beifall gespendet und die beiden Dozenten klatschten emsig mit.

Den meisten Beifall bekam Odwin, der, wie ich zugeben musste, auch zu diesem Zeitpunkt der Beste unter uns war. (Dass er schon von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende der DDR als fleißiger Stasi-Mitarbeiter diente, hatte ihm niemand zugetraut.) Aber auch Friederike fand ich erfrischend originell. Es war jedenfalls für alle ein anregender Abend, der sich bis früh um drei Uhr in den nächsten Tag hinzog.

Doch wenige Tage später wurden wir, die wir im Klub Gedichte vorgetragen hatten, mit unseren »Machwerken«, wie es schon unfreundlich hieß, vor verschiedene Kommissionen beordert, mal gemeinsam, mal jeder allein. Wer diese drei, vier Kommissionen waren, blieb zumeist unklar. Irgendwie drängte sich die Frage auf: Wessen Wesen zeigt sich im Anwesen der Anwesenden? Es waren uns unbekannte Herren älteren Semesters, die zumeist ein Parteiabzeichen anstecken hatten und sehr ernst blickten, als hätten wir eine Straftat begangen. Zuerst wollten sie das Plakat als eine Provokation sehen. Odwin und ich gaben zu, dass die beiden Zeilen der Überschrift von uns stammten. »Wir bin die Zukunft« wurde natürlich als eine Verhöhnung des hehren Grundsatzes »Wir sind die Zukunft« gewertet, denn wir FDJler galten ja als Kaderreserve der Partei und verkörperten also die Zukunft der SED. Und dann noch mein Untertitel mit der »unzensierten Lyrik«.

»Sie wollen also behaupten, dass es in unserem Staat Zensur gibt?!«

»Nein, nein«, stotterte ich los, »das soll ja nur aussagen, dass wir ... dass wir neue Gedichte, also unveröffentlichte Gedichte lesen, die noch niemand kennt...«

»Was hat das mit Zensur zu tun?«

»Na ja, das Publikum sollte die Gedichte zensieren, also mit Buhrufen oder mit Beifall bewerten. So war das... ja, so war das gemeint.«

»Sie wollen uns wohl verarschen, was?!«

Es vergingen wenige Tage, da wurde der Dompredigersohn exmatrikuliert, denn es hatte sich angeblich herauskristallisiert, dass er gar »partei- und staatsfeindliche Gedichte« verlesen haben soll. Was? Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich wurde erneut vorgeladen, wo mir das von einem unauffällig aussehenden Herrn mittleren Alters mitgeteilt wurde. Er stand mir in einem spartanisch eingerichteten Raum gegenüber, bot mir keinen Platz an, so dass alles im Stehen stattfand. Ein weiterer Herr mit einem nichtssagenden Gesicht und in einem ebenso unauffälligen Anzug saß auf einem Stuhl im Hintergrund.

»Sie sind der Vorsitzende des FDJ-Studentenklubs, das heißt, Sie hatten die Verantwortung für diesen Abend. Wieso haben sie solche Gedichte von Quast...«

»Welche?«

»Na hier, da ist von Nachtigallen mit zugeklebten Schnäbeln die Rede. Halten Sie uns für so dumm, dass wir das nicht als Angriff auf das 11. Plenum unserer Partei verstehen?!«

Das Blatt, auf dem das stand, zog er gleich wieder zurück, so dass ich es nicht lesen konnte.

»Das halte ich für...«

Ich zögerte, wusste nicht wie ich mich ausdrücken und das Gedicht und damit Odwin Quast verteidigen sollte.

»Na, was wollten Sie sagen?«

Und kurz darauf: »Sie können nur noch eins: Selbstkritik üben. Zumal Ihre Gedichte und die von der Techel auch nicht gerade unserem sozialistischen Niveau entsprechen.

»Verstehe ich nicht...«

»Hatten Sie nicht ein Porträt von sich vorgelesen?«

Er reichte mir ein Blatt herüber, auf dem tatsächlich mein Gedicht PORTRÄT mit dem Endvers stand:

kein farben / brüllen freude / stilles schwarz / sucht wahre beute.

»Meinen Sie, dass wir ausgerechnet an unserer Karl-Marx-Universität Schwarzseher ausbilden möchten?«

Ich wusste nicht, was ich auf diesen Stuss noch antworten sollte. Nach kurzer Schweigepause, in der sich mein Gegenüber kurz zu dem auf dem Stuhl sitzenden Genossen oder Kollegen umsah, sprach er mich wieder an:

»Also, letzte Chance! Distanzieren Sie sich von den Gedichten Quasts und üben Sie ehrliche Selbstkritik!«

Kurze Pause. Ich hatte keine Schuldgefühle und sagte:

»Es waren zwei Dozenten anwesend, Herr Dr. Weigert von der Parteileitung und unser Dozent für Schönschrift, ein alter Kommunist.«

»Na und?«

»Wenn das denen nicht aufgefallen ist, warum dann mir? Beide haben starken Beifall geklatscht, das konnte ich doch von vorn genau sehen.«

Er guckte sich wieder zu dem Mann im Hintergrund um, der keine Miene verzog. Dann wieder zu mir gerichtet:

»Und an den pessimistischen Gedichten der Techel haben Sie sich auch nicht gestört?«

»Nein. Das ist doch Geschmackssache... «

»Geschmackssache nennen Sie das? Solche Leute wollen Lehrer werden und unsere Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten erziehen?«

Wieder eine Pause. In mir stieg Verachtung und Wut auf. Wahrscheinlich konnte man mir das ansehen, denn nun sagte er:

»Ich sehe, Sie sind uneinsichtig. Nun, die Konsequenzen müssen Sie selber tragen.«

Ich drehte mich um, stammelte noch so etwas wie einen Abschiedsgruß in meinen Bart und verließ das Zimmer. Doch bereits zwei Tage darauf, es war kurz vor dem Ende des zweiten Semesters, musste ich wieder antreten, dieses Mal vor einem Disziplinarausschuss, wo mir mitgeteilt wurde, dass ich exmatrikuliert werde und mich ein Jahr in der Produktion zu bewähren hätte, bevor ich das Studium fortsetzen könne. Die meisten meiner Kommilitonen waren entrüstet, drei davon, mit denen ich mich am besten verstand, darunter auch Friederike Techel und Jens Schröder, traten mir zuliebe in die SED ein, weil ich noch immer den sturen Helden spielte und sagte, dass ich keine Angst vor der Arbeiterklasse habe, der ich gerne diene. Außerdem sei der Sozialismus noch keine perfekte Endform, da kommen schon noch solche Missverständnisse oder Fehler vor, aber ich mache niemandem einen Vorwurf, sondern werde durch gute Arbeit beweisen, wo ich stehe. Das imponierte auch den anderen Genossen unserer Parteigruppe. Schade war nur, dass ich mit Frank Heine und einem anderen Kommilitonen gerade eine private Unterkunft in einem Hinterhofgebäude über einem Pferdestall der Brandvorwerkstraße gefunden hatte. Beide versprachen mir, mein altes Sofabett in dem einen Zimmer zu reservieren – bis ich wiederkäme.

Eigentlich war mein Jahr Kandidatenzeit um und es hätte darüber entschieden werden müssen, ob ich es wert sei, in die Vorhutpartei der Arbeiterklasse aufgenommen zu werden oder als Kandidat zu streichen sei. Nichts passierte, ich rührte mich auch nicht. Dr. Meißner, der später als Chefredakteur und Herausgeber des Allgemeinen Künstlerlexikons bekannt wurde, wollte mir sogar einen Job in einem Leipziger Verlag vermitteln, was aber daran scheiterte, dass ich keine Wohngenehmigung für Leipzig bekam.

Nachdem in Leipzig für die Studenten und Professoren die sommerlichen Semesterferien zu Ende waren, beorderte mich die Parteileitung des Instituts für Kunsterziehung noch einmal zu sich, da meine einjährige SED-Kanidatenzeit längst überschritten war. Die Genossen mussten sich nun für oder gegen mich entscheiden. Mir war klar, dass sie mich, nachdem ich zur Bewährung in die Produktion geschickt worden war, weil ich nicht dem Bild einer sozialistischen Studentenpersönlichkeit entsprach, nun nicht mit einer Aufnahme in die SED belohnen können.

Erstaunlicherweise machten es sich die Genossen Dozenten und Studenten nicht leicht, sondern durchforsteten mein gesamtes Wirken an der Uni durch zwei Semester hindurch – und siehe: es kristallisierte sich heraus, dass ich zwar zu Missverständnissen Anlässe geboten hätte, auch provokativ aufgetreten sei, doch subjektiv stets im Sinne der Partei und zum Wohle der Gemeinschaft zu handeln bestrebt war. Das Unglaubliche geschah, ich wurde einstimmig als Vollmitglied aufgenommen. Sogar der mir unsympathische Dozent Ratzlaff hatte nicht gegen mich gestimmt, sich nicht einmal der Stimme enthalten. Ich war baff! Mit dem Blumenstrauß bekam ich aus der Hand des Parteisekretärs Dr. Olbrichts jedoch gleichzeitig aus seinem Mund eine Parteirüge erteilt. So viel Parteilichkeit musste sein. Nun fühlte ich mich wenigstens nicht mehr verkannt. Noch wusste ich nicht, dass die SED-Kreisleitung meine Aufnahme ablehnte, ohne mit mir gesprochen zu haben.

Bis zur gewaltsamen Niederschlagung des »Prager Frühlings« 1968 eierte ich ideologisch – noch immer an einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« glaubend – zwischen allen möglichen Linksfronten herum. Die sozialistische Menschenliebe bekam ich erst ab Herbst 1972 zu spüren, nachdem ich mich anschließend für 17 Monate in Stasi-Haftanstalten inklusive sieben Wochen »Klapsmühle« in Waldheim und anschließend 16 Monate im Strafvollzug Cottbus aufhalten durfte. Nirgendwo konnte ich mich bisher so intensiv mit mir selber beschäftigen als in den insgesamt 742 Tagen Einzelhaft.

Irgendwann in diesem Herbst 1965, wahrscheinlich als ich noch mal nach Leipzig gefahren war, sah ich auf der Dokumentarfilmwoche den schon erwähnten sowjetischen Film »Der gewöhnliche Faschismus« von Michail Romm. Was ich da sah, das kam mir alles so bekannt vor, als wäre ich dabei gewesen. Dieser Dokumentarfilm, raffiniert aus vielen Originalaufnahmen aus dem 3. Reich zusammengestellt, ging dem Alltagsphänomen des Nationalsozialismus auf die Spur und zeigte in seiner psychologischen Dimension, wie der Normalmensch für eine totalitäre Idee begeistert werden konnte. Ich wollte mir keine Parallelen zur erlebten Gegenwart eingestehen, aber es ging nicht, sie drängten sich einfach zu deutlich auf. Selten war ich so verunsichert.

Dieser Romm-Film wurde nach seinem großen Erfolg auf dem Leipziger Festival rasch nach einem Anruf aus dem ZK abgesetzt und blieb bis zum Ende des »Friedensstaates DDR« verboten. Er könne, wie es in einem Aktenvermerk hieß:

...im Hinblick auf einige äußere Erscheinungsformen (...) fehlinterpretiert werden.

In der Deutschen Bücherei zu Leipzig kam ich eines Tages, wohl eher aus Versehen, an eine linke Westzeitschrift heran, in der ein Aufsatz über den Anarchismus zu lesen war. Bücher zu diesem Thema gehörten ansonsten zur Sperrliteratur, volkstümlich auch Giftliteratur genannt. Hier erfuhr ich etwas über einen Sergei Netschajew (1847-1882), der, ohne Student zu sein, Vorlesungen an der Petersburger Uni besucht hatte, wo er die Ideen Michail Bakunins und der Dekabristen kennenlernte. 1869 ließ er das Gerücht verbreiten, er sei in St. Petersburg festgenommen worden und flüchtete nach Genf. Dort gab er sich als Leiter einer revolutionären Organisation aus, der aus der Peter-und-Paul-Festung geflohen sei. Hier begann seine Freundschaft mit Michail Bakunin. Netschajew verfasste in Genf ein Programm, das er den »Revolutionären Katechismus« nannte und der anschließend auch in Russland verbreitet wurde.

Ein halbes Jahr später kehrte er nach Russland zurück und gründete dort die Geheimorganisation »Volksrache«. Als ein Mitglied aufgrund von Meinungsverschiedenheiten die Gruppe verließ, wurde er von Netschajew und seinen Kumpeln verprügelt und erschossen.

Drei Jahre später schilderte Dostojewski dieses Ereignis in seinem Roman »Die Dämonen«. Darin schmiedeten die Verschwörer Pläne für den grundsätzlichen Neuanfang:

Ein Zehntel erhält Freiheit der Person und unbegrenzte Macht über die restlichen neun Zehntel. Die wiederum sollen ihre Persönlichkeit verlieren, zu einer Herde werden und dann, bei unbegrenzter Unterwerfung, durch eine Reihe von Neugeburten die Unschuld der Urzeit erlangen, wobei sie allerdings arbeiten müssen.

Und was ist dazu nötig? Natürlich die »Umerziehung ganzer Generationen«. Höhere Bildung ist ebenso abzuschaffen wie die Familie, Eigentum und alle Privatheit. Gefordert wird außerdem:

Schließt schleunigst die Kirchen, beseitigt Gott, brecht die Ehen, fort mit dem Erbrecht, greift zum Messer.

Jean-Paul Sartre, der als Philosoph und Schriftsteller zum Vordenker und Hauptvertreter des Existentialismus gekürt wurde und als Paradefigur der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts galt, verteidigte die brutalen Maßnahmen Maos in China:

Ein revolutionäres Regime muss eine gewisse Zahl von Individuen, die es bedrohen, loswerden, und ich sehe dafür keine andere Möglichkeit als den Tod.

Denn sittlich ist schließlich alles, was der Revolution dient samt radikaler Zerstörungen und systematischer Massenhinrichtungen. Wie lässt sich das rechtfertigen? Nur durch eine »fanatische Menschenliebe«.

Einer dieser fanatischen Menschenlieber war auch der DDR-Stasi-Minister und das Politbüro-Mitglied Erich Mielke, der sich 1982 vor seinen Genossen zu der Frage, ob auf den Vollzug der Todesstrafe gegen abtrünnige Mitarbeiter seines Ministeriums aus humanitären Gründen verzichtet werden sollte, deutlich äußerte:

»Alles Käse, Genossen. Hinrichten.«

Hingerichtet wurden vorwiegend in Ungnade gefallene Stasi-Mitarbeiter. Das oberste Gebot hieß dabei: strikte Geheimhaltung. Was stand auf den Todesscheinen? »Kreislaufversagen« oder »Herzinfarkt«.

Doch seine fanatische Menschenliebe durfte er noch am Ende des Arbeiter-und-Mauern-Staates bei seinem letzten Auftritt in der Volkskammer am 13. November 1989 deutlich zum Ausdruck bringen:

»Ich liebe – ich liebe doch alle – alle Menschen…«

 

 

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