Thomas Körner

Thomas Körner: Das Land aller Übel

 

Man hat das Gefühl: Die Gegenwart befindet sich in einem Zustand des Zerfalls und der aus diesem Zerfall resultierende Teilchenstrom fließt in Vergangenheit und Zukunft ab; oder die Teilchen aus Vergangenheit und Zukunft treffen in uns wie in einem Teilchenbeschleuniger aufeinander.

An den jeweiligen Grenzen oder Zeit-Horizonten setzen sich daraus zwei Gestalten zusammen: die Dame Utopia und der Herr Mythos.

Verwundert fragt man sich: Was finden die beiden nur aneinander?

Und man begreift: Er sieht in ihr, mit seinen Augen, ein Wunschbild; und sie sieht in ihm, mit ihren Augen, eine schöne angenehme Erinnerung.

Da man als Mensch aber dazwischen steht und alles dies in unserem Kopf stattfindet, ist es einem unmöglich, sich ein gewisses Lächeln zu verkneifen.

Haben die beiden nun mich oder ich sie „erzeugt“?!

Diese Frage und diese Haltung sind vielleicht ein Teil dessen, was Ironie heißen könnte.

Robustes Mandat für den Leser

 

Das Land aller Übel ist der groß angelegte Versuch, ein geschlossenes System nach Maßgabe seiner existentiellen Prämissen im dichterischen Medium wiedererstehen zu lassen: als Verwirklichung einer endlich gewonnenen humanen Praxis am Ende und inmitten der langen Folge von Unterdrückungen, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die nach den Klassikern die bisherige Geschichte der Menschheit ausmachte. Die ›eingemauerte‹ DDR zwischen Mauerbau und gewaltsamem Ende des Prager Frühlings erscheint darin als eine vollkommen ernst zu nehmende Spielart des irdischen Paradieses. Der Abgrund zwischen Paradieserzählung und -realität wirkt wie eine Bühne für etwas, das sich wohl am ehesten als wirkliche Unwirklichkeit bezeichnen ließe: jene komplexe Choreographie sprachlicher, seelischer und pragmatischer Verrenkungen, die das System eine Zeitlang als lebbar erscheinen lassen und an die sich anschließend niemand erinnern lassen möchte.
Ulrich Schödlbauer

 

 

 

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