Renate Solbach: Brechung

Zu den rätselhaften Sprachen der Welt, die gleichwohl jeder versteht, gehört die der Korruption: eine Sprache der einfachen Gesten, des Einverständnisses, das nicht vieler Worte bedarf, der Flunkerei, der Schönrednerei, des Betrugs und Selbstbetrugs genauso wie der ungeheuerlichsten Umwege und Verschleierungen. ›Geschmiert‹ nennt der Volksmund die Bestochenen und bezeichnet damit ihre Bereitschaft, im Sinne des ›Auftraggebers‹, sprich: der bestechenden Instanz, zu funktionieren. Solcher Rede liegt das Bild vom Getriebe der Welt voraus, in dem der Einzelne als Rädchen vorkommt, dessen Beweglichkeit nachgeholfen werden kann – wenn Gewalt und gute Worte nichts fruchten, dann eben mit ›Vorteilen‹. Worin sie bestehen, bleibt im Einzelfall ungewiss, aber die branchentypischen Muster sind denen, die es angeht, bekannt. Überhaupt liegt der gesunde Quell aller Korruption im Bescheidwissen. Wer nicht weiß, wie man’s macht, sollte tunlichst die Finger davon lassen, er könnte sich rasch verbrennen. Man sieht, die Metaphorik ist leicht und luftig, sie umspielt ihren Gegenstand, ohne ihn zu nennen, den letzten Schritt geht jeder allein, sobald er begriffen hat: So geht es auch.

Vorteile besitzen den Vorteil, dass jeder sie versteht. Das bedeutet, sie können jederzeit ›an Argumentes statt‹ eingesetzt werden. Im Ernstfall sind sie die besseren, sprich: wirksameren Argumente. ›Begünstigungen‹ müssen nicht gebilligt werden, um zu wirken. Die Ungleichheit, die sie ins Spiel bringen, gleicht für den Einzelnen den Nachteil aus, nach gleichen Regeln handeln zu sollen wie seinesgleichen, von denen er sich doch grundlegend unterscheidet … als Mensch, als Einzelner, als Ich. Im Grunde bieten sie Kompensation für den Nachteil, geboren zu sein: allein das sichert den Fortbestand der Korruption über alle Systeme hinweg. Ob sie gebilligt wird oder nicht, in welchem Maße und in welcher Form sie gebilligt, missbilligt oder verfolgt wird, hängt von vielen Faktoren ab. ›Kultur‹ ist einer von ihnen, aber es gibt auch andere. In den meisten Fällen dürfen sie nicht gebilligt werden, sollen sie ihre Funktion erfüllen – ihr Wert steigt und fällt entgegen dem Grad der Akzeptanz. In Gesellschaften, deren Funktionsträger von der Vorteilsnahme leben, ist das Übel allgemein, aber in moralischen Kategorien nicht zu greifen. Notlagen sind Einladungen zur Korruption: sie erzeugen den Zwiespalt, in dem auch feste Charaktere zu wanken beginnen. Ist das wichtig? Ob jemand bestechlich ist oder nicht, ob er ›aus niederen Beweggründen‹ bereit ist, die Regeln zu brechen, die eigene Organisation zu verraten, ihre Ziele zu sabotieren, vielleicht sogar ihre Existenz aufs Spiel zu setzen, macht die Person kenntlich, doch es bleibt irrelevant gegenüber der Tatsache, dass sich in jeder Gruppe eine Person findet, die diesen Part gern übernimmt. Ist sie gefunden, kann das Spiel beginnen. Wo die gebende Hand im Spiel ist, findet sich in der Regel die nehmende auch. Das rechtfertigt den Ansatz, das Geben ebenso oder strenger zu ahnden als das Nehmen.

Die universale Sprache der Korruption beginnt nicht bei den niederen Beweggründen und sie endet nicht bei den hohen. Die Sprache selbst, das Idiom der Ideen, der Konzepte, der Überzeugungen, für die einer ›durchs Feuer geht‹, für die Kollektive sich erwärmen, neigt zu Durchstechereien, zu – argumentationslogisch betrachtet – unzulässigen Abkürzungen, die dem Geschäft des Denkens, des Überzeugtseins und Überzeugens zur Alltagstauglichkeit verhelfen. Auch Wissenschaften bleiben davon nicht verschont. Eine Theorie, die der Karriere nicht nützt, hat schlechte Karten. Da dürfte es besser sein, den eigenen Forschungselan dort einzusetzen, wo die Richtung stimmt und das Ergebnis bereits eingepreist wurde. Politik versteht das gut. Konsum, Karriere, Korruption: wie spielen sie optimal zusammen, in welcher Form bestimmen sie öffentliche und private Moral, ökonomische, politische, religiöse Muster, historische Prozesse und ihre historische Wahrnehmung? Wie lässt sich das Zusammenspiel stören?

Im Ernstfall durch Transparenz. Es ist ein Verdienst der Zivilgesellschaft, die Transparenzforderung nicht nur im öffentlichen Bewusstsein der ›fortgeschrittenen Staaten‹ verankert, sondern auch in die Gesetzgebung eingespeist zu haben. Ein zwiespältiger Prozess wie jeder, der die individuelle Moral liquidiert: wo alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde, wird das Geben ebenso erfinderisch wie das Nehmen. Vermutlich im Gleichtakt steigt die Akzeptanz der Delinquenz. Das große Publikum sieht seine Lieblinge mit Gleichmut hinter Gefängnismauern verschwinden und feiert sie, sobald sie wieder herauskommen. Passives Nehmen und aktiver Betrug gleichen sich einander an, sobald Erfindung − ›Innovation‹ − ins Spiel kommt. Not macht erfinderisch, das gilt für den Machtmissbrauch im Großen wie für seine zahlreichen kleineren Derivate und Dependancen.

März 2016
Die Herausgeber

 

Abb.: Musée del Oro, Photo taken by Remi Jouan. Bildquelle: Wikipedia Commons

 

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