Ulrich Schödlbauers abendfüllendes Gedicht IONAS

Er gehört nicht zu den klassischen, den kindheits- und menschheitsvertrauten Gestalten der biblischen Mythologie, dieser widerspenstige und missmutige Prophet Jona. Aber er hat in den Zeiten, als die prophetische Rede noch in ihrer ganzen Bandbreite hochgehalten wurde – Erfolg: vier »große« und zwölf »kleine« Propheten neben einer Reihe von nicht kanonisierten –, und weiter durch die christlichen Jahrhunderte hindurch seine Liebhaber gehabt. Er kann heute noch zu denken geben. Nicht nur seines famosen Abenteuers im Fischbauch wegen, sondern als eine unerwartet »modern« reagierende Gestalt: ein Neinsager, ein Hypochonder. Dreimal will er »lieber tot sein« als gegen seinen eigenen (verbohrten) Willen leben. Einzig im Bauch des Ungeheuers fließt er über von frommen Psalmen; sowie er ausgespuckt ist, nimmt er sein Fingerhakeln mit Gott wieder auf, nämlich über ein versprochenes und ausbleibendes Strafgericht an 120000 irrenden Menschen, »dazu auch viel Vieh«. »Eine Mischung aus Parabel und Wundermärchen«, heißt es im Who is Who in der Bibel, »in erster Linie aber einfach eine sehr gute Geschichte«. Vielleicht »die erste Kurzgeschichte der Weltliteratur«.

In der Moderne interessiert die Stadt, um die es da en passant geht, interessiert das ganze Ensemble von Gründen des Eigensinns mindestens so sehr wie die Unart des einen, der sich Gott zu widersetzen wagt. Das Thema »Jona« zielt auf Rechenschaft über die Zeit und den eigenen Anteil an ihr. Nach einem ebenso bitteren wie beißenden Gedicht von Alicja Bykowska-Salczýnska haben es sich Jonas’ Enkel schändlich-bequem im Bauch des Ungeheuers eingerichtet. Ob näher an seinem Maul oder an seinem After, alle teilen den gleichen Schleim, dieselbe Betäubung und Enge, die nämlichen klebrigen Gedanken. Manche schwafeln von Freiheit, bekommen aber zu hören, dass draußen nichts ist, kein Mensch, kein Gott. Was bleibt ihnen, d. h. »uns« in der letzten Wendung des Gedichts, anderes übrig, als den allumfassenden Bauch zu lieben? (Brzuch [Der Bauch], 1994). Schödlbauers Ionas ist bereits aus dem Bauch entkommen, doch der Druck, der »schlingende Nachdruck« wirkt nach. Das »in Säure gelöste Bewusstsein« kann allenfalls »seinen Abgang im voraus genieß[en]«. Die Ursituation des Jona, seine Konditionierung durch ein Extremerlebnis von allumschließender Gewalt macht ihn, der hier wie eine Sonde zu Explorationen eingesetzt wird, einerseits optimal empfänglich-empfindlich, andererseits nur minimal resistent.

Dem Philosophen, Essayisten und Aphoristiker Schödlbauer, Kritiker des modernen Kulturbetriebs und vehementem Gegner allen »postmodernen« Denkkomforts, kommt eine so gesinnte und so geprägte Gestalt offensichtlich entgegen. Sein Ionas blickt auf andere Stürme, auf eine andere Art Einschließung zurück als diejenigen, die einst Gott speziell für den einen Ungehorsamen veranstaltet hat. Anscheinend gehört er gar nicht zu denen, die da im historisch‑politischen Sinne vereinnahmt und mehr oder weniger verdaut wurden, aber mit umso genauerer, sinnlich‑nervlich‑diskursiver Phantasie lässt er sich auf das ein, was die Betroffenen nur wissen und nicht sagen können, jedenfalls »den anderen« nicht mitteilen können. Am ehemaligen »Drüben« findet er (im 2. Teil des 9teiligen Gedichts) weniger die einstige Stagnation und Ereignislosigkeit, die verbliebene Dumpfheit bemerkenswert als vielmehr die Zukunftslosigkeit, den Zusammenbruch des Wünschens und Wollens.

Nichts ist nötig. Außer, mag sein, der
Aufmerksamkeit auf das Zuviel
im Zuwenig, dem Hier, das nicht zureicht,
um als wirklich zu gelten, als sei das Verschwinden
in dieser Phase nicht Herr seiner selbst und trete
deshalb ans Licht. Nichts ist nötig. Mehr nicht.

Der Riss, die Trennung, die gegenseitige Fremdheit bleibt, auch elf Jahre nach der »Wende«. Das Mauerstückchen, erhascht als ein »Glück bringendes« Souvenir von dem »Ding«, das einmal Welten zerteilt hat: »es schneidet / noch immer«.

Noch über die Spaltung in »Hüben« und »Drüben« hinaus, deren Folgen die hiesige Seite nicht weniger tangieren als die dortige, noch über die mörderische, nur mit den polnischen Namen »BELZEC... MAJDANAK... SOBIBOR...« aufgerufene Vergangenheit weg wird der Tod der Idee, die eine ganze Welt bewegt hat, vergegenwärtigt. Er wird geistig miterlebt, nicht ›verarbeitet‹, sondern angestaunt, konstatiert und zugleich so unfasslich gemacht, wie das gegen alle geschichtsphilosophischen Formeln allergische Ich »fassungslos« bleibt (im 6. Teil). Müssen wir statt vom »Tod« der Idee von ihrem Selbstmord, von einem Exitus aus Erschöpfung reden? (Der Argwohn, sie könnte von interessierten Gegnern zu Tode gehetzt worden sein, stellt sich höchstens ganz am Rande ein). Was »die Kommunisten« im Namen ihrer Idee angerichtet haben, erschöpft sich nicht in den horrenden Zahlen ihrer Opfer, nicht in den Lagern, den Entehrungen, dem Hunger. Es war »Vernichtung der Gegenwart durch die Zukunft«, bestand in »der Ermordung des Ichs, dem großen Experiment«. Dennoch war es eine – verbrecherische – Verkörperung »der Idee«; das Gedicht benennt keine andere. Sie schwindet nicht, wenn sie jetzt tot ist. »Was einmal erdacht wurde, / lässt zahllose Zugänge offen. Niemand schließt / diese Tür.« Als Schock, der »sprachlos« macht, bleibt das gigantisch verunglückte Experiment präsent. Selbst der Ausstieg, die Abrechnung, »›Glasnost‹«, war ohne Blut nicht zu haben. Auch diejenigen, die entkommen, die sich drücken wollen wie der Flüchtling Jona oder sich mit Erfolg drücken, bleiben in ihrer Bewegung auf die Bestimmung von Oben und Unten bezogen. »Abwärts / schwimmt es sich leichter, und ›hingerissen‹ / bleibt ein seltsames Wort«.

Wie viele starke Gedichte bleibt auch dieses, ein Gedicht aus vielen Gedichten, relativ interpretationsresistent. Vielleicht aber ist die so zwingend vergegenwärtigte Zeit nur der Bestimmungshintergrund für das Ich oder das Fehlen des Ichs. »Ein Nicht«, das sich da mühsam, unvollständig, nie zu Ende aus den ätzenden Pressionen des »Untiers« herauswickelt. Ein Ich oder auch Non-ich (aber von Fichtes ergänzendem, entsprechendem »Nicht-Ich« um Jahrhunderte entfernt), das sich nirgendwo intakt zurück‑ oder herausbekommt – und das es gleichwohl erkenntnistheoretisch mit nichts als immer nur sich selbst zu tun hat. »Denken / hat frei, in allen Punkten. Warum? Es ist / mit sich allein. Ein Makel? Wer weiß.« Im 4., dem längsten Teil, zweistimmig geschrieben: mit 17 einzelnen kurzen Gedichten und einem darunter gesetzten gegenläufigen Fließtext, werden Höhen, Tiefen und Flachheiten der menschlichen (vorsichtiger: der manchen Menschen zugeschriebenen) Existenz gegeneinander gesetzt.

Zwei Schenkel, ins Moos
getrieben. Taub aufgeschossen der eine,
sanft zur Seite gebogen der zweite,
im Gestrüpp sich verlierend.
Weiß, trocken, geschält: nackt
bis auf die Knochen.
Zweierlei Rohr, der Wind
pfeift drauf und drüber.

»Lust« gibt es (fast) nur so: »Schwere des Daseins / aufgehoben«. Und es bleibt, unvermeidlich, »die offene Wunde: / wir, wie zuwenig / sind ein Zuviel«.

»Nichts ist nötig«: Auf Negation, Vergehen, Tod laufen die Abenteuer der Menschheit wie des einzelnen hinaus (soweit sich ein einzelner noch als Einzelner, einst sagte man »Individuum«, herausbekommt). Das ständig präsente Wissen, »dass es vergeht, dass eins / das andere mitnimmt«, erregt denn doch Zweifel, ob die Wahl des Hypochonders, des todessüchtigsten der 16 kanonischen Propheten, eine so gute Wahl war. Eindringlich oder obstinat werden die Dinge, die Bilder, die Worte der Zersetzung ausgesetzt: »jedes, das ist, reißt sich davon; flusengleich / haftet es hier und da, husch / ist es verschwunden«. Womöglich soll die Obsession etwas (er)lösen, sie streift aber auch die Komik. Selbst der Dorn vergeht; »der Schmerz, der zurückblieb, / geht ihm nach«. Auf »Leben heißt leben«, die Parole der Opportunisten am Ende der Abrechnung mit der hinfälligen Utopie, antwortet der unwidersprechliche Erfahrungssatz: »Was lebt, hat gelebt«. Der 7. Teil fragt nach dem Tod selbst, in quasi dialogischer Form nach dem Umgang mit ihm. »Leben straft den Versuch, / sich ihm zu nähern«. »Erklär mir, Liebe, nichts.« Ionas kann sich schließlich nur blamieren: »die Stadt, die du suchst, / ist schon zerstört«. »Unwirklich« ist selbst »die Vernichtung«. Es wäre Schödlbauers Gedicht schlecht bekommen, hätte er ihm am Ende etwas »Positives« angehängt. Doch steht der Automatismus des Grabes nicht für den stärksten, in unseren nachutopischen Zeiten erforderlichen mutigen Umgang mit der Dialektik. Das »Nichts« ist, bevor es zum Tatbestand gerinnt, eine Provokation für und durch das Denken.

»Gong gong gong – / gong«. Wie, mit welchen Operationen hat der gelehrte, als Kunst- und Literaturwissenschaftler ausgewiesene Autor die gut erzählte Geschichte von dem einen Widerspenstigen (48 Verse alttestamentarische Erzählprosa) in ein langes Gedicht (50 halb- bis ganz volle Seiten in ziemlich freiem Rhythmus), in ein Menschheitsgedicht umgeformt? Er ringt mit der Sprache, die alles schon tausendmal gesagt, eingesperrt, verbraucht hat. Sie hat aber, immer neues Wunder, Grundtatbestände wie »gesetzt« (in fünferlei Sinn) oder »greifend«, »vergriffen« usw. noch keineswegs gründlich erfasst. Bei intensiver Betrachtung, bei sorgfältig hergestellter Distanz und Rahmung sowie kleinen Durchbrechungen: »im Entgleiten, im / Ent‑«, gibt die alte Sprache (hier die deutsche, mit zahlreichen Einsprengseln anderer) ein starkes, verlässliches, vertrauenswürdiges Medium der Erkenntnis/Selbsterkenntnis her. Mit großer Delikatesse werden vor allem die Selbstbezeichnungen des immer so nahe liegenden und doch so befremdlichen Ich behandelt: »mit einem leicht verderblichen Ausdruck / in dem, was eine plötzlich aufzuckende Scham / ›Gesicht‹ zu nennen verbietet«. Vermutlich reibt sich die gesuchte Selbstbestimmung an der unüberspielbaren prekären Rolle, die Jona seit jeher zugeschrieben wurde. Im Englischen heißt Jonah »ein Mensch, der durch seine bloße Anwesenheit bereits Unglück über andere bringt«. Vieles wirkt zitiert (offene und versteckte Zitate ziehen sich durch alle neun Teile) oder parodiert: Gewaltige, gewalttätige Formeln kann man nach Celan und Pound nur noch mit einem Schimmer von Uneigentlichkeit einsetzen. Was denn treibt der Gong, der Stundenschlag hervor? »Sich, sich treibt er / außer sich selbst, ins Ohr / ins Ohr der Welt, niemandes Ohr, / in niemandes Ohr, / Ohr«.

Die feierlichsten Formeln werden aufgeboten: »Oh never, indeed, Je est / un autre, Eh vero«. Aber Dichten ist kein erhabenes Geschäft mehr, eher ein Service, zumeist Entlastung. Alle wissen »es«, reden jedoch ungern davon und halten sich dafür »bezahlte Sprecher«, »Stigmatisierte unter wachsamen Blicken«. »Stellvertretend / erledigen sie, was getan werden muss, aber / schwer über die Lippen geht.« Nur zusammen mit dieser schroffen Relativierung sind auch die spärlichen Verheißungen nicht falsch: »Im Dunkeln schreiben; lesen / im Licht«. Beides zusammen gibt den Sinnsprüchen, den vielerlei Resümees, Aphorismen, Urteilssätzen, Mahnungen, Warnungen ihren poetischen Platz und Modus.

         Wie verächtlich
redet man von den Toten, wie steinern
sehn sie dich an. Hohlköpfe. Adieu.
 
 

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