1.

Mein Men­schen­bild ist das der Li­te­ra­tur.

2.

Das klingt, fürs erste, nach einer Ein­schrän­kung und einer Li­zenz. Die Ein­schrän­kung (›Li­te­ra­tur‹) scheint jenem wei­tes­ten Aus­blick zu wi­der­spre­chen, den Her­der dem Men­schen einst at­tes­tier­te und der Wis­sen­schaft vom Men­schen, der An­thro­po­lo­gie, als An­fang emp­fahl. Hin­ge­gen scheint die Li­zenz un­mit­tel­bar aus die­ser Ein­schrän­kung her­vor­zu­kom­men. Schlie­ß­lich ist die Li­te­ra­tur, wenn nicht die Mut­ter, so die Ver­brei­te­rin aller Welt- und Men­schen­bil­der. Ohne sie ent­behr­te die Welt des Lichts und der Wärme: so dach­ten die Auf­klä­rer, wäh­rend der eine oder an­de­re Ro­man­ti­ker ge­ra­de Zei­ten, die ohne sie aus­kom­men muss­ten, von einem edlen Men­schen­tum be­wohnt sein ließ, das durch ihr Auf­tau­chen in erns­te Ge­fahr kom­men soll­te. Die Dif­fe­renz ver­dankt sich we­ni­ger dem Bild des Men­schen als dem der Li­te­ra­tur, man­che sagen, der Schrift, und ver­wei­sen in dem Zu­sam­men­hang auf die seit Pla­ton durch die Texte geis­tern­de Vor­lie­be für münd­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on, für Ora­li­tät, also für eine sprach­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form, die ohne das Sub­sti­tut der Schrift und des Auf­ge­schrie­be­nen aus­kommt.

Die Li­te­ra­tur, das deu­tet sich hier be­reits an, be­sitzt kein Men­schen­bild. Aber sie trans­por­tiert sie alle. Auf die­sem Trans­port­weg ge­sche­hen selt­sa­me Dinge. Das liegt zum Teil daran, dass sie das Zu­rück­kom­men auf das, was be­reits ein­mal ver­han­delt wurde, un­ge­mein er­leich­tert und un­ge­mein er­schwert. Er­leich­tert, weil sie das Ge­dächt­nis ent­las­tet und einen ge­wis­sen Schutz gegen das Ver­ges­sen bie­tet (na­tür­lich kön­nen auch Texte ver­ges­sen wer­den), er­schwert, weil, so­bald ir­gend­wo ein Text sich ein­schiebt, man leich­ter auf ihn als auf die Sache zu­rück­kommt, um die es in ihm geht. Der Text schiebt sich ein: er lässt sich her­aus­ho­len, aus­brei­ten, un­ter­su­chen, wäh­rend die Be­sin­nung auf die Sache noch schweigt oder Zeit braucht. Der Text geht der Sache vor­aus. Da­durch er­zeugt er eine Art fort­lau­fen­der Ite­ra­ti­on, an der sich das Ver­ste­hen von Mal zu Mal, und zwar je­des­mal an­ders, formt. Er selbst redet und schweigt, gibt und ver­wei­gert Aus­kunft – je­den­falls die­je­ni­ge, die jeder Spre­cher re­dend den an­de­ren und sich selbst gibt und die sich in der hoch­ri­tu­el­len For­mel kund­tut: »Ich denke (meine, glau­be, bin der Über­zeu­gung etc.), dass...« Man miss­ver­steht diese For­mel, wenn man sie als letzt­lich red­un­dan­ten Hin­weis auf den per­for­ma­ti­ven Akt des Re­dens oder die lo­gi­sche Form des Ur­teils nimmt. Wirk­lich deu­tet sie auf einen Stand der Ge­dan­ken­aus­bil­dung, der sich nicht zwin­gend dem ak­tu­el­len Spre­cher ver­dankt, ihn aber nötig hat, um sich kund­zu­tun.

Ein als un­ver­rück­bar ge­setz­ter Glau­be un­ter­liegt nicht al­lein der Ero­si­on in der Zeit. Genau be­trach­tet ver­bin­det er sich in jedem Denk­akt mit neuen In­hal­ten und geht als ein an­de­rer aus die­ser Ver­bin­dung her­vor. Die­ser an sich ein­fa­che Sach­ver­halt wird da­durch ver­dun­kelt, dass Glau­bens- und Über­zeu­gungs­sät­ze sich per se der Ite­ra­ti­on ver­dan­ken. Im Fluss des sich im­mer­fort neu an den Welt­ge­ge­ben­hei­ten ori­en­tie­ren­den Über­le­gens sind sie das­je­ni­ge, wor­auf man zu­rück­kommt oder zu­rück­zu­kom­men wünscht, und zwar durch Be­sin­nung, also Rück­ver­si­che­rung: durch Rück-Bin­dung. Doch gleich­gül­tig, ob das Ge­glaub­te as­so­zia­tiv oder kon­trol­liert, un­merk­lich oder in for­cier­ten Akten der Neu­ori­en­tie­rung mit neuen In­hal­ten zu­sam­men­geht, der Ef­fekt ist immer der­sel­be: Nie­mand steigt zwei­mal in den­sel­ben Fluss.

Der Satz des He­ra­klit ist ein schla­gen­des Bei­spiel für das, was wir eine durch Über­le­gung, also durch Nach­den­ken ge­won­ne­ne Über­zeu­gung nen­nen. Lei­der lässt sich der Weg nicht re­kon­stru­ie­ren, auf dem der Phi­lo­soph zu sei­ner Über­zeu­gung kam. Für die spä­ter Ge­kom­me­nen re­du­ziert sich daher seine Be­deu­tung auf die eines Aper­cus. Als sol­ches al­ler­dings ent­fal­tet er eine Kraft, die an die Prä­ge­funk­ti­on von Li­te­ra­tur den­ken lässt, zu deren mo­nu­men­ta­len Früh­zeug­nis­sen er ge­hört. Be­kannt­lich steht diese Kraft in einem ge­wis­sen Kon­trast zur Ge­dan­ken­lo­sig­keit, mit der sich jeder ein­mal ge­präg­te und in der kul­tu­rel­len Über­lie­fe­rung be­reit­lie­gen­de Satz ge­brau­chen lässt. Das gilt nicht al­lein für ge­präg­te Sen­ten­zen, son­dern für das Ma­te­ri­al einer Spra­che ins­ge­samt, die, als »ge­bil­de­te«, nach dem Aus­druck Goe­thes, »für dich dich­tet und denkt«.

3.

Ver­wen­den wir also, bevor wir die schwie­ri­ge Ar­beit der Men­schen­bil­dung in den Blick neh­men, ein paar Über­le­gun­gen auf die Bil­dung der Ge­dan­ken und des Me­di­ums, in dem sie sich bil­den: die Spra­che. In der Spra­che lie­gen die Haupt­ele­men­te der Bil­dung be­reit. Sie lie­gen in ihr, doch nicht, um ihr ent­nom­men und an­der­wei­tig ver­wen­det zu wer­den. Ver­füg­bar sind sie nur im Modus des wei­ter­spre­chen­den Zu­rück­kom­mens auf etwas, das in kul­tu­rel­ler Hin­sicht gar nicht vor­han­den ist, so­lan­ge es in Bi­blio­the­ken und an­de­ren nur von Spe­zia­lis­ten be­gan­ge­nen Auf­be­wah­rungs­or­ten nie­der­ge­leg­ter und nach­ge­las­se­ner Zeug­nis­se von Kul­tur sich selbst über­las­sen bleibt – auch wenn enor­me Sum­men in diese Ein­rich­tun­gen flie­ßen und rund um sie die be­mer­kens­wer­tes­ten Sym­po­si­en statt­fin­den.

Im Wei­ter­spre­chen ist nicht die me­cha­ni­sche Re­pe­ti­ti­on des Im­mer­glei­chen, son­dern das Wei­ter­den­ken ge­fragt. Aus einer äl­te­ren Sprech­wei­se ge­läu­fig ist dafür die For­mel von der ›schöp­fe­ri­schen Wei­ter­ent­wick­lung der Ideen und Ide­en­po­ten­zia­le‹. Doch man ent­deckt schnell die leere Ite­ra­ti­on in die­ser Art von voll­mun­di­gem Ver­bal-Pro­gres­si­vis­mus. Es scheint, dass, was dabei ›Idee‹ ge­nannt wird, sich zwar im Gang des Den­kens wan­delt – im Fluss bleibt, um mit He­ra­klit zu reden –, aber nicht im di­rek­ten Zu­griff ›wei­ter­ent­wi­ckelt‹ wer­den kann. Be­zeich­nen­der­wei­se fällt die Be­deu­tung des Wor­tes ›ent­wi­ckeln‹ an die­ser Stel­le auf eine äl­te­re Stufe zu­rück. Eine Idee ent­wi­ckeln be­deu­tet: sie ent­fal­ten, aus­fal­ten, dar­stel­len, nicht aber: sie auf einen neuen Stand brin­gen. Man­chen Ohren mag das be­fremd­lich klin­gen, vor allem dort, wo die ver­ba­le und ge­dank­li­che Gleich­set­zung von ›Idee‹ und ›Kon­zept‹ als un­ver­zicht­ba­res Kul­tur­gut gilt, es ist auch nicht er­zwing­bar, es liegt, wie eine Reihe ver­gleich­ba­rer Schwie­rig­kei­ten, im kul­tu­rel­len Be­stand als Schwel­le be­reit, als Un­eben­heit des Spre­chens, über die sich hin­weg­re­den lässt oder nicht, auf die sich aber, wie ge­sagt, zu­rück­kom­men lässt.

Wie der Satz des He­ra­klit ge­hört auch das Wort ›Idee‹ zum Grun­din­ven­tar einer Kul­tur, die zwar nicht als Welt­kul­tur auf­tre­ten kann, in der diese aber vor­ge­dacht und in ge­wis­ser Weise her­bei­ge­führt wurde. Ich er­wäh­ne das, weil neben den pla­to­ni­schen Klas­si­kern des Guten, Wah­ren und Schö­nen und, als ihrer christ­lich-mo­der­nen Er­gän­zung, der Frei­heit auch diese ›Welt‹ in den Kreis der ele­men­ta­ren Ideen ge­hört. Und wie beim Satz des He­ra­klit, auf den in ge­wis­ser Weise die Ide­en­leh­re Pla­tons ant­wor­tet, in­so­fern sie das, was im Fluss mit sich iden­tisch bleibt, ge­dank­lich zu iso­lie­ren ver­sucht, er­zeugt auch hier die Ite­ra­ti­on, das Wie­der-Ho­len des ein­mal Ge­dach­ten, das volle Sinn­spek­trum von der sorg­fäl­ti­gen Re­kon­struk­ti­on des ein­mal nie­der­ge­leg­ten Ge­dan­kens – bis zu den Ein­fäl­len, die je­man­dem durch den Kopf schie­ßen, gleich­gül­tig, ob das, was da schie­ßt, stets die Mi­ni­mal­an­for­de­run­gen er­füllt, die sich mit dem Be­griff ›Den­ken‹ in theo­re­ti­scher Hin­sicht ver­bin­den.

Auch der Ge­dan­ke ›Idee‹ ist frei, ent­wi­ckelt zu wer­den, er kon­kre­ti­siert sich in stän­dig wech­seln­den Be­zü­gen und un­ter­schei­det sich darin nicht von an­de­ren Ge­dan­ken. Viel­leicht wäre es sinn­voll, ihn von der Idee der Idee zu un­ter­schei­den, die mehr ein auf­zu­su­chen­der Ge­dan­ken-Ort als ein kon­kre­ter Ge­dan­ken-In­halt wäre, ob­wohl die­ser Ge­gen­satz na­tür­lich nur als dif­fe­ren­ter Ge­dan­ken­in­halt exis­tiert. Hier kommt es dar­auf an, die Zu­rück­ge­bo­gen­heit des Den­kens zu mar­kie­ren, seine Fä­hig­keit, die be­reits eine Not­wen­dig­keit im­pli­ziert, auf ein­mal Ge­dach­tes zu­rück­zu­kom­men, ohne es je­mals re­pro­du­zie­ren oder wie­der­er­ste­hen las­sen zu kön­nen, gleich­gül­tig, ob die his­to­ri­sche Dis­tanz 5000 Jahre oder eine Se­kun­de be­trägt.

4.

Die Idee er­öff­net den Ei­gen-Sinn von Kul­tur. Das gilt nicht ge­ne­rell und es gilt nicht über­all, aber es gilt über­all dort, wo mit dem Vor­han­den­sein von Ideen ge­rech­net wird. Si­cher las­sen sich ele­men­ta­re Kul­tu­ren den­ken, in denen die Kon­stanz der le­bens­be­stim­men­den Vor­stel­lun­gen so groß ist, dass das Iden­ti­sche im Wech­sel durch das Totem oder den Rhyth­mus der Jah­res­zei­ten aus­rei­chend re­prä­sen­tiert er­scheint. Den­noch muss über­all, wo auch nur ru­di­men­tä­re Auf­schrei­be­sys­te­me vor­han­den sind, mit Wech­sel ge­rech­net wer­den, weil diese Form des Fest­hal­tens die dif­fe­ren­te Form des Zu­rück­kom­mens-auf er­zwingt. Die Un­greif­bar­keit der Schrift, die Not­wen­dig­keit, sie zu lesen, ihren Zei­chen Be­deu­tung zu geben und diese Be­deu­tung zu re­inte­grie­ren, das heißt dem ei­ge­nen Den­ken in einem sach­lich be­stimm­ten, also wie­der­hol­ba­ren, und er­eig­nis­haf­ten, das heißt prin­zi­pi­ell un­wie­der­hol­ba­ren Zu­sam­men­hang als In­for­ma­ti­on zu­zu­füh­ren, er­zeugt die Fremd­heit des Ver­gan­ge­nen als re­fle­xi­ons­lo­gisch zu deu­ten­de Dis­tanz, das heißt als Vor­aus­set­zung sei­ner An­eig­nung. Sie er­zeugt aber auch – gleich­gül­tig, wie hoch die Schwie­rig­kei­ten sich in hart­nä­cki­gen Fäl­len tür­men – auf Grund der Ding­haf­tig­keit der Zeug­nis­se wie ihrer ge­ne­rel­len Ent­zif­fer­bar­keit etwas, das mehr ist als Nähe oder Ver­traut­heit, näm­lich die Mit­ge­gen­wart eines Ab­we­sen­den, das damit glei­cher­ma­ßen ver­gan­gen und prä­sent ist. In die­sem Sinn fi­gu­riert be­reits ein Amu­lett als Teil und Re­prä­sen­tant eines Auf­schrei­be­sys­tems, das der Spra­che kor­re­spon­diert und ihre Mög­lich­kei­ten über bloße Ora­li­tät hin­aus er­wei­tert. Schrift und Kul­tur ge­hö­ren in­so­fern zu­sam­men, als die mo­nu­men­ta­le Über­hö­hung des All­tags durch die Schrift die Ana­mne­sis, also das ans Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen von Ein­zel­nen ge­bun­de­ne Wie­der­er­ken­nen der Ideen, in einen ge­mein-kul­tu­rel­len Vor­gang ver­wan­delt, ge­nau­er, in Kul­tur als Vor­gang und Vor­gän­gi­ges: ein Ef­fekt, der in der Wis­sen­schaft wie in den Li­te­ra­tu­ren und ihrer dif­fe­ren­ten Ge­schich­te oben­auf liegt, des­sen all­tags­prä­gen­de Ge­walt aber nicht un­ter­schätzt wer­den soll­te.

5.

Über­all dort, wo vom Men­schen und sei­ner Kul­tur die Rede ist, stellt sich die Frage nach dem All­tag und sei­ner Pra­xis. Nicht sel­ten ent­spricht ihm ein for­cier­tes Pra­xis-Be­wusst­sein, dem es vor­kommt, als sei jede spe­zia­li­sier­te kul­tu­rel­le Pra­xis be­reits ein Ab­fall von den For­de­run­gen, eine Art Ver­rat am wirk­li­chen Men­schen und sei­nen Pro­ble­men, wie die all­ge­gen­wär­ti­ge Rede vom El­fen­bein­turm ein­drucks­voll un­ter­streicht. Die vor-ter­mi­no­lo­gi­sche, sich oft po­li­tisch ver­ste­hen­de Rede von ›Ge­sell­schaft‹ stellt die­sen Wirk­lich­keits­an­spruch des Zu­sam­men­le­bens und sei­ner im­pli­zi­ten, von je­der­mann zu be­herr­schen­den Re­geln her­aus. Der Mensch ist über­all auf Ge­sell­schaft an­ge­wie­sen: das ist eine, eher kon­ser­va­tiv an­mu­ten­de Deu­tung die­ses An­spruchs. Die an­de­re, allzu ver­trau­te, er­kennt in der Ge­sell­schaft oder, noch all­ge­mei­ner, in der Kom­mu­ni­ka­ti­on die her­vor­brin­gen­de In­stanz nicht al­lein dif­fe­ren­ter Men­schen­bil­der, son­dern des Men­schen selbst. Das würde be­deu­ten, dass die Weise des Zu­sam­men­seins den Men­schen de­fi­niert – mit der Folge, dass über­all dort, wo die Kunde von der Un­hin­ter­geh­bar­keit der Dif­fe­renz an­ge­kom­men ist, die Ent­lar­vung der Men­schen­bil­der als na­he­zu mü­ßi­ger Ko­di­fi­zie­run­gen un­ter­schied­li­cher und im Ernst­fall un­ver­ein­ba­rer Pra­xen ri­tu­el­len Cha­rak­ter an­nimmt. In sol­chen Dis­kur­sen be­deu­tet ›Kul­tur‹ kaum mehr als die Maske, die sich eine Ge­sell­schaft vor­hält, um ein un­er­klär­li­ches, aber ›rea­les‹ Be­dürf­nis nach Iden­ti­tät zu be­frie­di­gen, wohl­wol­lend in­ter­pre­tiert ein Mit­tel zur Selbst­be­ob­ach­tung und -steue­rung, also zur Ab­wehr exis­ten­zi­el­ler Ge­fah­ren, die sich aus den blin­den Fle­cken und toten Win­keln er­ge­ben, wie sie die Per­spek­ti­ve der Han­deln­den mit sich bringt.

Ver­steht man al­ler­dings Kul­tur als Ob­jek­ti­vie­rung der Struk­tur der Den­kens, von der vor­hin die Rede war, dann ent­hält ihre In­ter­pre­ta­ti­on als Mit­tel zur Selbst­er­hal­tung so­zia­ler Sys­te­me einen Denk­feh­ler. Kul­tur er­schlie­ßt sich nur unter ge­mein­schaft­li­chen As­pek­ten: der ge­teil­te Fund, die ge­teil­te Über­lie­fe­rung, der ge­teil­te Fun­dus, das Zu­rück­kom­men-auf sind stets auch Kom­mu­ni­ka­to­ren, über die der Ein­zel­ne der Ver­ein­ze­lung ent­geht – mit allen le­bens­welt­li­chen Kon­se­quen­zen. Selbst­er­hal­tung ist dabei nur im Spiel, so­fern der Aus­fall die­ser Kom­mu­ni­ka­ti­on den To­tal­aus­fall jenes Selbst­ver­hält­nis­ses zur Folge hätte, das hier über­all ›Den­ken‹ ge­nannt wird und das wir, man­gels an­de­rer prag­ma­ti­scher Be­zugs­grö­ßen, mit der Gat­tung Mensch zu ver­bin­den ge­wöhnt sind. So be­trach­tet ist Kul­tur nir­gends Mit­tel, son­dern die Sache selbst. Es sei denn, man be­wegt sich kon­se­quent auf einer Ebene der Be­griff­lich­keit, auf der mit ›Leben‹ nichts an­de­res ge­meint ist als eine spe­zi­fi­sche Form der Selbst­er­hal­tung phy­si­ka­lisch-che­mi­scher Ag­gre­gat­zu­stän­de.

6.

Be­greift man Kul­tur als die mensch­li­che Weise, bei­sam­men zu sein, dann ver­steht man auch, dass der Be­griff ›Par­ti­zi­pa­ti­on‹ nur eine Seite ihres Funk­ti­ons­spek­trums um­schreibt. Wenn die mensch­li­che Weise, bei­sam­men zu sein, aus der Logik ele­men­ta­rer Denk­voll­zü­ge her­vor­geht, wenn also die ge­dank­li­che Er­zeu­gung von Dif­fe­renz durch Dis­tanz den bio­lo­gisch de­ter­mi­nier­ten Zu­sam­men­prall der Ein­zel­we­sen min­dert und in ge­wis­ser Weise auf­hebt, dann lässt sie zu­gleich jene ima­gi­nä­ren Kon­ti­nu­en ent­ste­hen, in denen der Ein­zel­ne, das mensch­li­che In­di­vi­du­um, sich gegen das Leben der An­de­ren ab­setzt und de­fi­niert, das heißt ›um­grenzt‹. Ima­gi­när sind diese Kon­ti­nu­en des­halb, weil sie den phy­si­ka­li­schen Raum und die phy­si­ka­li­sche Zeit in einen Er­leb­nis­raum und eine Er­leb­nis­zeit über­set­zen – und über­set­zend fort­wäh­rend in­ter­pre­tie­ren –, die zwar nur in der Vor­stel­lung des Ein­zel­nen exis­tie­ren, aber so, dass ihr Vor­han­den­sein nicht nur das Ima­gi­na­ri­um, son­dern das kon­kre­te Welt­ver­hält­nis all jener Ein­zel­we­sen de­ter­mi­niert, die zu­sam­men die Ge­sell­schaft aus­ma­chen.

Kants For­mel von der un­ge­sel­li­gen Ge­sel­lig­keit des Men­schen bil­det die­ses Ver­hält­nis recht genau ab. Kant selbst lei­tet sie aus dem Zu­sam­men­spiel von Be­dürf­nis­sen und In­ter­es­sen ab, das durch den In­ter­es­sen-Ant­ago­nis­mus der Ein­zel­nen de­ter­mi­niert wird. Die­ser Kampf der In­ter­es­sen, der bei Marx ei­ner­seits als Kon­kur­renz der Ka­pi­tal­eig­ner, an­de­rer­seits als Klas­sen-Ant­ago­nis­mus wie­der­kehrt und in mo­der­nen Markt­theo­ri­en als Glücks- und Er­folgs­stre­ben des Homo oe­co­no­mi­cus fest­ge­schrie­ben ist, ent­spricht dem ele­men­ta­ren Sach­ver­halt, dass jene ima­gi­nä­ren Kon­ti­nu­en ei­ner­seits ›Welt‹ er­zeu­gen (in dem Sinn, dass ihr Ver­lust den eines jeg­li­chen Wirk­lich­keits­ver­hält­nis­ses nach sich zieht), an­de­rer­seits aber kei­nes­wegs zu­sam­men die Welt bil­den, son­dern zu­ein­an­der auf Dis­tanz blei­ben. Die In­di­vi­du­en sind ge­nö­tigt, diese Dis­tanz zu leben und aus ihr her­aus ihre Be­dürf­nis­se zu de­fi­nie­ren und durch­zu­set­zen, was im Grun­de nichts an­de­res be­deu­tet, als dass sie ihre Welt, sprich: ihr un­ab­lös­ba­res In-der-Welt-Sein leben müs­sen, gleich­gül­tig darum, dass es für an­de­re, um nicht zu sagen für die an­de­ren, in einem ele­men­ta­ren, durch die ge­mein­sa­me Re­de­pra­xis so­fort ver­schlei­er­ten Sinn nichts an­de­res ist als ein Hirn­ge­spinst. Wenn also Ge­sell­schaft ei­ner­seits als Kom­mu­ni­ka­ti­on de­fi­niert wer­den kann, so bleibt sie an­de­rer­seits jenes Sys­tem kon­kur­rie­ren­der Be­dürf­nis­se, als das sie Hegel einst kon­stru­ier­te.

Im Kern ist daher der Kampf der In­ter­es­sen mit jenem Kampf der Göt­ter iden­tisch, in dem sich für Max Weber die his­to­ri­sche Exis­tenz des Men­schen rea­li­sier­te. Denn vor­aus­ge­setzt, dass die Ar­ti­ku­la­ti­on selbst ele­men­tars­ter Be­dürf­nis­se ans Ima­gi­na­ri­um des Ein­zel­nen ge­bun­den ist, auch wenn die Spiel­räu­me in be­stimm­ten, bio­lo­gisch oder ma­te­ri­ell de­ter­mi­nier­ten Be­rei­chen eng blei­ben, so kann es zwar In­ter­es­sen­ver­bün­de auf Zeit (und zu de­fi­nier­ten Zwe­cken) geben, aber weder einen ge­ne­rel­len und um­fas­sen­den In­ter­es­sen­ab­gleich noch jene un­ver­brüch­li­chen For­men der So­li­da­ri­tät des Mei­nens und Wol­lens, die von be­stimm­ten Glau­bens- und Über­zeu­gungs­ge­mein­schaf­ten re­gel­mä­ßig ein­ge­for­dert wer­den. Das macht ver­ständ­lich, dass nach jedem pro­kla­mier­ten Ende der Ge­schich­te der Kampf der Göt­ter re­spek­ti­ve Welt­an­schau­un­gen wie­der auf­flammt und die Ge­schich­te ihren Fort­gang nimmt. Der ma­te­ria­le Frie­dens­schluss zwi­schen In­ter­es­sen, das heißt zwi­schen In­ter­es­sen­trä­gern, ver­dankt sich nicht in der uto­pi­schen Men­schen­ge­mein­schaft, son­dern dem Recht, und das gilt, wie alle Be­tei­lig­ten wis­sen, zwi­schen Rechts­sub­jek­ten und auf Zeit, also für ein be­stimm­tes his­to­ri­sches Per­so­nal.

Der­sel­be Ge­dan­ke führt zu der Über­le­gung, dass jedem Ge­sell­schafts- und Rechts­ver­hält­nis etwas Un­ab­ge­gol­te­nes in­ne­wohnt, etwas, das die Emp­fin­dung reizt, es müsse doch mög­lich sein, die Dinge an­ders und bes­ser, sprich: für den Ein­zel­nen be­frie­di­gen­der und für das Ge­mein­we­sen er­trag­rei­cher zu ord­nen und zu ge­stal­ten. Die Härte des Rechts spürt neben dem, den sie trifft, auch der, den es be­trifft, vor allem aber der, den es nicht be­trifft, wenn er aus dem si­che­ren Ab­stand der Zei­ten und der Kul­tu­ren auf an­de­re Rechts­zu­stän­de blickt. Auch diese Emp­fin­dung ist un­ver­meid­bar, sie ge­hört zur Kul­tur und sie er­klärt sich aus der Ein­sicht, dass Kul­tur kein Luxus ist, den sich Ge­sell­schaft leis­tet, son­dern das, wor­auf sie über­all fußt. Was für das Recht gilt, gilt für die Le­bens­ver­hält­nis­se all­ge­mein, die es re­gelt. Der Ge­dan­ke eines hier und jetzt er­reich­ten Op­ti­mums ist, so­fern er sich nicht dem Dik­tat der Macht- und Mehr­heits­ver­hält­nis­se oder ideo­lo­gi­scher Ver­blen­dung ver­dankt, der Be­sorg­nis ge­schul­det, es könne nicht nur an­ders, son­dern immer auch schlech­ter kom­men. Darin lie­gen rea­lis­ti­sches Kor­rek­tiv und Ge­danken­läh­mung dicht bei­ein­an­der.

7.

An­ders als das Recht, das den Par­ti­al­frie­den zwi­schen den di­ver­gie­ren­den In­ter­es­sen stif­tet und be­wahrt, dient Bil­dung der Ho­mo­ge­ni­sie­rung und Aus­dif­fe­ren­zie­rung der Ima­gi­na­ri­en, also jener Welt im Kopf, die der Ein­zel­ne mit sich trägt und die ihn mit sei­nes­glei­chen ver­bin­det. Bil­dung geht daher immer auf Kul­tur und kul­tu­rel­le Po­ten­tia­le und erst in zwei­ter Linie auf Ge­sell­schaft und ge­sell­schaft­li­che Ist-Stän­de. Die­ser ele­men­ta­re Sach­ver­halt wird von zwei Sei­ten ver­dun­kelt: ers­tens durch das In­ter­es­se von Ge­sell­schaft an Bil­dung, die sie, nicht ohne Grund, als un­ab­ding­bar für das ei­ge­ne Fort­be­ste­hen und Über­le­ben be­greift, zwei­tens durch einen in­te­gra­len Be­griff von Ge­sell­schaft, der sie um­stands­los mit dem rea­len Leben wenn schon nicht des Ein­zel­nen, so doch der Gat­tung gleich­setzt. So kann es – theo­re­tisch und ver­mut­lich auch prak­tisch – ge­sche­hen, dass eine for­ciert auf In­no­va­ti­on und Ent­fal­tung krea­ti­ver Po­ten­zen fo­kus­sier­te Er­zie­hung tat­säch­lich An­pas­sung und Wie­der­ho­lungs­zwän­ge ge­ne­riert, weil sie jene von vorn­her­ein als ge­sell­schaft­li­che Ak­ti­vi­tä­ten de­fi­niert, das heißt an die Er­folgs­kri­te­ri­en und Be­loh­nungs­me­cha­nis­men aus­lie­fert, die dem Selbstre­pro­duk­ti­ons­wil­len oder dem Träg­heits­ge­setz einer Ge­sell­schaft ent­spre­chen.

In ge­wis­ser Hin­sicht ist die­ser Ef­fekt nicht zu ver­mei­den. Das In­ter­es­se von Ge­sell­schaft an Bil­dung kann sich nur in einem Prä­mi­en­sys­tem ma­ni­fes­tie­ren, in dem der so­zia­le Rang bzw. der in Aus­sicht ge­stell­te Auf­stieg an ers­ter Stel­le steht, zwangs­läu­fig ge­folgt von den ma­te­ri­el­len und im­ma­te­ri­el­len Zu­wen­dun­gen, die sich aus der er­reich­ten bzw. zu er­rei­chen­den Po­si­ti­on er­ge­ben. So­lan­ge Bil­dung bloß ein Mit­tel ist, diese Ziele zu er­rei­chen, und viel­leicht nicht ein­mal das er­folg­ver­spre­chends­te, bleibt es nicht aus, dass die ›Aus­zu­bil­den­den‹, wie wir sie mit lei­sem Spott in der Stim­me nen­nen kön­nen, sich nur so weit auf sie ein­las­sen, wie es für das Er­rei­chen des Ziels er­for­der­lich scheint, dass sie also, wie es in einem ge­wis­sen Jar­gon heißt, Bil­dungsin­hal­te als Bil­dungsan­ge­bo­te ver­ste­hen und ›ra­tio­nal‹, das heißt aus­schlie­ß­lich zweck­be­zo­gen se­lek­tie­ren. Das ein­zi­ge Mit­tel, Bil­dung zum Selbst­zweck zu ma­chen und so der Ver­mitt­lung von Bil­dungs­in­hal­ten eine ge­wis­se Ei­gen­sta­bi­li­tät zu ver­lei­hen, be­steht darin, ein in­sti­tu­ti­ons­in­ter­nes Prä­mi­en­sys­tem an­zu­bie­ten, das von der sim­plen, aber of­fen­bar kaum ver­zicht­ba­ren No­ten­ge­bung über die Aus­bil­dung von Grup­pen- und Korps­geist bis zur kas­ten­ähn­li­chen Über­hö­hung des Leh­rer- bzw. Do­zen­ten­be­rufs reicht, die mit einer herr­schafts­ähn­li­chen No­bi­li­tie­rung von Ver­ab­rei­chungs­mus­tern und -ges­ten ein­her­zu­ge­hen pflegt.

Be­kannt­lich zählt der Be­griff des Selbst­zwecks im Bil­dungs­zu­sam­men­hang zu den meist­ver­pön­ten: non scho­lae sed vitae di­sci­mur – so lern­ten es die Schü­ler des alten hu­ma­nis­ti­schen Gym­na­si­ums und mach­ten sich dar­über lus­tig wie heu­ti­ge Päd­ago­gen über wil­hel­mi­ni­sche Bil­dungsat­ti­tü­den. Denn na­tür­lich wuss­ten sie – oder die In­tel­li­gen­te­ren unter ihnen –, dass die­ser Satz zwar dem Kos­ten/Nut­zen-Kal­kül von Staat und Ge­sell­schaft ent­spricht, ganz zu schwei­gen vom Be­darf der Wirt­schaft an gut, das heißt für ihre Ein­satz­zwe­cke aus­ge­bil­de­ten Ab­sol­ven­ten, dass er aber mit­nich­ten die volle Wahr­heit re­prä­sen­tiert. Es gab und gibt eine in­for­mel­le Ge­sell­schaft der Ge­bil­de­ten, die sich teils an einem ge­wis­sen Si­gna­le­ment, teils an den ge­teil­ten Bil­dungs­in­hal­ten er­kennt, eine Ge­sell­schaft in der Ge­sell­schaft, wenn man so will, die sich we­ni­ger über die Zu­ge­hö­rig­keit zu ge­mein­sa­men In­sti­tu­tio­nen als über den Typus von In­sti­tu­tio­nen, we­ni­ger über den ge­mein­sa­men Beruf als über die Klas­se von Be­ru­fen fin­det, und deren Ent­zü­cken über ent­deck­te Ge­mein­sam­kei­ten durch Exo­tik und An­ders­heit eher ge­stei­gert als ab­ge­kühlt wird. Der klas­si­sche Rei­se­ro­man ist voll sol­cher un­ver­hoff­ter Be­geg­nun­gen und die ge­sell­schaft­lich wenig ein­ge­bun­de­ne Exis­tenz des Schrift­stel­lers scheint dafür prä­des­ti­niert zu sein, sie her­aus­zu­lo­cken und ihre Be­deu­tung für das, was hin und wie­der eben­so la­ko­nisch wie prä­gnant ›Mensch­sein‹ ge­nannt wird, vor den Augen aller aus­zu­brei­ten, die durch eine sol­che Lek­tü­re af­fi­ziert wer­den kön­nen.

Auch hier liegt der Selbst­zweck nicht in den Bil­dungs­in­hal­ten, wohl aber in der Bil­dung selbst, in der Tat­sa­che des Ge­bil­detseins im Ver­ein mit der Fä­hig­keit, Bil­dungs­er­leb­nis­se zu tei­len und den ge­mein­sa­men Um­gang selbst als Bil­dungs­er­leb­nis zu ge­nie­ßen. Die ge­gen­wär­tig in der aka­de­mi­schen Aus­bil­dungs­pra­xis als Non­plus­ul­tra der Bil­dung gel­ten­de Fä­hig­keit, kom­ple­xe Si­tua­tio­nen zu er­ken­nen, zu ana­ly­sie­ren und, falls nötig, an­ge­mes­se­ne Hand­lungs­vor­schlä­ge zu er­ar­bei­ten, ist in der Ge­sell­schaft der Ge­bil­de­ten mehr oder min­der immer vor­han­den. Aber sie wird vor­aus­ge­setzt und be­rührt nicht den Kern des­sen, was ge­ra­de an­ge­sichts eines feh­len­den Ter­mi­nus ›Um­gang‹ ge­nannt wurde.

8.

Was zeich­net die­sen Um­gang aus? Was wäre so un­ge­wöhn­lich an ihm, dass es einer ei­ge­nen Ana­ly­se be­dürf­te? Viel­leicht wenig, viel­leicht nichts, vor­aus­ge­setzt, man be­weg­te sich in einer Ge­sell­schaft, die nicht ge­ra­de an die­ser Stel­le von einer pein­li­chen und ge­le­gent­lich pein­vol­len Ge­dächt­nis­schwä­che be­fal­len wäre. An neue­ren Stu­di­en einer zur stab­bre­chen­den In­stanz über die Ge­schich­te ver­kom­me­nen Kul­tur­wis­sen­schaft zum Ge­or­ge-Kreis und dem dort herr­schen­den Um­gang zwi­schen dem ›Meis­ter‹ und sei­nen Jün­gern lässt sich ab­le­sen, wie an der be­wuss­ten Stel­le eine be­deu­tungs­schwan­ge­re ›Lücke‹ ent­steht, die an­schlie­ßend mit den üb­li­chen Un­ter­stel­lun­gen und Ver­däch­ti­gun­gen des Ta­ges­ge­schäfts ge­füllt wird. Der ekla­tan­te Un­wil­le zu ver­ste­hen, was diese längst in his­to­ri­sche Dis­tanz ent­rück­te, sich für den heu­ti­gen Ge­schmack un­an­ge­nehm eli­tär und män­ner­bünd­ne­risch in­sze­nie­ren­de Per­so­nen­grup­pe allen ba­na­len Wid­rig­kei­ten zum Trotz über so viele Jahre mit­ein­an­der ver­band, be­sitzt ein Fun­da­ment in den ge­gen­wär­ti­gen kom­mu­ni­ka­ti­ven Struk­tu­ren, über das sel­ten an­ge­mes­sen ge­re­det wird. Der Wille, sich unter Gleich­ge­sinn­ten zu be­we­gen, er­schöpft sich nicht im so­zia­len oder po­li­ti­schen Kampf, schon gar nicht im Aus­le­ben einer se­xu­el­len Ori­en­tie­rung. Er wird erst dort er­fasst, wo das ei­ge­ne Welt­ver­hält­nis als Grund­la­ge mensch­li­chen Mit­ein­an­ders unter kein Tabu ge­stellt wird.

Noch­mals: Was zeich­net die zwi­schen Ge­bil­de­ten herr­schen­de Art des Um­gangs aus? Und: Las­sen sich Grün­de fin­den, die es na­he­le­gen, darin eine Weise des Mit­ein­an­der zu kon­sta­tie­ren, deren Ver­brei­tung in ge­wis­ser Weise un­hin­ter­geh­bar ist und deren ver­suchs­wei­se struk­tu­rel­le und ge­walt­sa­me Un­ter­bin­dung schwe­re Ver­wer­fun­gen im Selbst­ver­ständ­nis und in der Be­reit­schaft zur Ver­stän­di­gung über Nor­men und Le­bens­op­tio­nen in­ner­halb einer Ge­sell­schaft zur Folge hat?

Ein Miss­ver­ständ­nis mel­det sich in den öf­fent­li­chen Bil­dungs­de­bat­ten mit schö­ner Re­gel­mä­ßig­keit zu Wort: als liege in der För­de­rung und Aus­bil­dung des Den­kens be­reits eine ein­sei­ti­ge Ent­schei­dung für eine von allem sinn­lich-prak­ti­schen En­ga­ge­ment ab­stra­hie­ren­de ra­tio­na­le Ver­stan­des­kul­tur mit fa­ta­len Kon­se­quen­zen für Nähe, Wärme, Sen­si­bi­li­tät und äs­the­ti­schen Sinn. Sym­bo­lisch steht dafür die ge­fühl­te Ver­drän­gung der mu­si­schen Fä­cher bzw. Fach­an­tei­le zu­guns­ten ge­frä­ßi­ger ›ex­ak­ter‹ Fä­cher wie Ma­the­ma­tik und Phy­sik in den Lehr­plä­nen der Schu­len. ›Den­ken‹ im ein­gangs skiz­zier­ten Sinn ist zwar nichts völ­lig an­de­res als die Er­ar­bei­tung ma­the­ma­ti­scher oder che­mi­scher For­meln, aber es blie­be weit­ge­hend un­ter­be­stimmt, wenn es nichts an­de­res als diese Tä­tig­keit mein­te. In einem sehr ele­men­ta­ren Sinn be­ginnt Den­ken in allen Sin­nen, soll hei­ßen, in den kom­ple­xen und zu gro­ßen Tei­len sub­ku­ta­nen, soll hei­ßen, un­ter­halb und am Rande der Wahr­neh­mung ab­lau­fen­den In­for­ma­ti­ons- und Ent­schei­dungs­pro­zes­sen, die den Or­ga­nis­mus in sei­ner Um­welt ver­an­kern. Wie immer Be­wusst­seins­mo­del­le kon­stru­iert sind, ihnen allen ist ge­mein­sam, dass sie eine Ant­wort auf die Frage be­reit­hal­ten müs­sen, wie das, was die em­pi­ris­ti­sche Linie der Phi­lo­so­phie als Sin­nes­da­ten be­zeich­net, ins Be­wusst­sein tritt und auf wel­che Weise es dort ver­ar­bei­tet wird. Die zwei­te Welt des Be­wusst­seins ist zu­gleich die erste, in der alles, was an­sons­ten drau­ßen oder da­zwi­schen blie­be, die Form des Ge­dan­kens ge­winnt und da­durch auch emo­tio­nal ›greif­bar wird.

Die Lust an der frei­en, nicht mit ak­tu­el­len Ent­schei­dungs­nö­ten be­frach­te­ten Denk­tä­tig­keit nimmt im ge­bil­de­ten Um­gang nicht ab, son­dern zu. Sie ist und bleibt dem Mo­dell des Aus­tau­sches auch dort ver­pflich­tet, wo, wie im äs­the­ti­schen ›Werk­schaf­fen‹ – ein son­der­bar alt­vä­ter­li­cher Aus­druck für eine noch immer pres­ti­ge­träch­ti­ge Tä­tig­keit –, der oder die Part­ner ima­gi­nä­re oder ent­grenz­te Züge an­neh­men. Man könn­te, in Ana­lo­gie zur spie­le­ri­schen Er­pro­bung di­ver­ser Kör­per­funk­tio­nen, jene Lust als Funk­ti­ons­lust be­zeich­nen und sich damit einer Be­deu­tung des Schil­ler-Sat­zes be­mäch­ti­gen, der da lau­tet: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Fragt sich nur, wo er so spielt, dass die über­grif­fi­ge For­mel auf­geht. Der For­mel vom ›gan­zen Men­schen‹ wird sie kaum an­satz­wei­se ge­recht. Zu viele An­nah­men, theo­re­ti­sche und prak­ti­sche, auch wi­der­sprüch­li­che, drän­gen sich auf die­sem Ge­län­de. Eines scheint si­cher: ohne die Rede vom Selbst und dem an­hän­gen­den Selbst­ge­nuss blie­be die vor­zu­neh­men­de Be­stim­mung Stück­werk. Real ist aber auch das Un­be­ha­gen, das einen an­ge­sichts die­ser Rede be­schleicht: zu­viel wis­sen wir über die Brü­chig­keit des Selbst in prak­ti­scher und theo­re­ti­scher Hin­sicht, um es an der Stel­le als Letzt­in­stanz ste­hen zu las­sen.

9.

Ver­su­chen wir es an­ders. Wenn Den­ken lust­voll ist, warum be­darf es dann der Prä­mi­en­sys­te­me, um den Ein­zel­nen in Bil­dungs­pro­gram­me hin­ein­zu­lo­cken und dort, we­nigs­tens eine Zeit­lang, bei der Stan­ge zu hal­ten? Warum, wenn Den­ken not­wen­dig in­te­griert, fällt es dem Ein­zel­nen immer wie­der schwer, Wis­sens­schwel­len zu neh­men und Eng­päs­se im Den­ken zu über­win­den? Die Fra­gen von Ta­lent und Be­ga­bung ein­mal bei­sei­te ge­las­sen, er­gibt sich hier ein Pro­blem, über das nach­zu­den­ken sich lohnt. Was ver­gan­ge­ne Epo­chen Träg­heit des Geis­tes nann­ten, lässt sich durch Fleiß über­win­den. Aber der Fleiß ist selbst eine zwei­fel­haf­te Größe, in­so­fern der Mix aus An­stel­lig­keit und Stur­heit gegen sich selbst dar­auf aus­ge­rich­tet ist, die im Raum ste­hen­den Prä­mi­en zu kas­sie­ren, und damit nur er­neut auf das Aus­gangs­pro­blem ver­weist. Ohne Fleiß geht es nicht – die­ser Satz ist gros­so modo gleich­be­deu­tend mit der re­si­gnier­ten Ein­sicht, dass im – sagen wir – in­tel­lek­tu­el­len Be­reich ohne Prä­mi­en kein Durch­kom­men ist.

Die Rich­tung weist viel­leicht ein Wort, das, eher ab­sichts­los, be­reits fiel, als es darum ging, die all­ge­mei­ne Schwie­rig­keit zu skiz­zie­ren: Schwel­le. Schwel­len­er­leb­nis­se, Schwel­len­er­fah­run­gen sind, grob ge­spro­chen, le­bens­glie­dern­de Ele­men­te, in denen sich reale Er­eig­nis­se mit einem Wan­del von Be­wusst­seins­for­men, also Ein­stel­lun­gen, Über­zeu­gun­gen, Hand­lungs­dis­po­si­tio­nen ver­bin­den. Schwel­len­er­fah­run­gen kön­nen spon­tan, wie im Mär­chen, auf­tre­ten und dem in­di­vi­du­el­len Leben eine an­de­re Rich­tung, einen an­de­ren Rich­tungs­sinn geben, sie kön­nen, auf der an­de­ren Seite, sich so eng mit ge­sell­schafts­kon­for­men Le­bens­mus­tern ver­bin­den, dass die ent­spre­chen­den Ge­sell­schaf­ten ein reich­hal­ti­ges Ar­se­nal an Riten und Ri­tua­len be­reit­stel­len, um sie zu be­glei­ten, zu ak­zen­tu­ie­ren und – dies wäre der hier in­ter­es­sie­ren­de As­pekt – zu er­leich­tern. Über­gangs­ri­ten hät­ten also im all­tags­welt­li­chen Am­bi­en­te eine ähn­li­che Funk­ti­on wie Prä­mi­en­sys­te­me im bil­dungs­welt­li­chen Ge­fü­ge und manch­mal er­schei­nen sie ein­träch­tig auf ein und dem­sel­ben Ta­bleau, bei Schul­ab­schluss­fei­ern etwa oder an­läss­lich der Ver­lei­hung eines Dok­tor­gra­des ›im fei­er­li­chen Rah­men‹, wie die ein­schlä­gi­ge Sprach­re­ge­lung lau­tet.

Schwel­len­er­fah­run­gen im Bil­dungs­be­reich fal­len pri­mär in den Be­reich stark per­so­na­li­sier­ter Bil­dung. Das ist be­son­ders dort zu be­ob­ach­ten, wo sie einen em­pha­ti­schen An­strich be­kommt, also in re­li­giö­sen, eso­te­ri­schen, ge­heim­bünd­ne­ri­schen oder ge­ne­rell bünd­ne­ri­schen Kon­tex­ten. Das pie­tis­ti­sche Er­we­ckungs­er­leb­nis, die In­itia­ti­ons­stu­fen der Frei­mau­rer, die di­ver­sen Pfade und Grade öst­li­cher Weis­heits­leh­ren, der Homo novus des so­zia­lis­ti­schen Kol­lek­tivs bie­ten dafür an­schau­li­che Ex­em­pel. Sie alle be­to­nen ir­gend­ei­ne Form von Ge­mein­schaft: auf In­itia­ti­on be­ru­hen­de Bil­dung be­sitzt eine stark ver­ge­mein­schaf­ten­de Kom­po­nen­te, die nicht al­lein Ge­bil­de­te an­de­rer Cou­leurs aus­schlie­ßt, son­dern re­gel­mä­ßig die Frage nach der einen wah­ren Bil­dung auf­wirft. In der Ge­sell­schaft der Ge­bil­de­ten stellt sich diese Frage nicht oder nur in den Gren­zen wech­sel­sei­ti­ger Scho­nung. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Man darf dem an­de­ren nicht zu nahe tre­ten, will man das Beste, was der Um­gang mit ihm zu bie­ten hat, die ei­ge­ne Welt­sicht, nicht leicht­fer­tig aus dem Spiel wer­fen. Bil­dungs­ge­mein­schaf­ten wol­len mehr, oft zum Ver­druss ihrer Mit­welt. An­ders die Bil­dung des Her­zens, der eine um­fas­sen­de, das Bil­dungs­pri­vi­leg und den Ge­sin­nungs­ri­go­ris­mus un­ter­lau­fen­de Men­schen­ge­mein­schaft ge­dank­lich zu­grun­de liegt: wer ihr das Wort redet, un­ter­streicht die Par­ti­zi­pa­ti­ons­rech­te ge­ra­de der min­der Ge­för­der­ten oder der Armen im Geis­te. Po­li­ti­sche Er­we­ckungs­ma­ta­do­re wie­der­um schei­nen den pri­vi­le­gier­ten Feind schon aus stra­te­gi­schen Grün­den zu be­nö­ti­gen und zu pfle­gen, gleich­gül­tig, ob sie ihn als Re­ak­ti­on, als mei­nungs­mo­no­po­lis­ti­schen Ver­tei­di­ger des Be­ste­hen­den oder als Zer­stö­rer von Sitte und An­stand ins Vi­sier neh­men.

10.

Es fällt nicht schwer, die Pro­duk­te der Schrift­kul­tur, ge­nau­er: die Se­di­men­te statt­ge­hab­ter Kul­tur­pro­zes­se, als eine Viel­zahl von Schwel­len an­zu­se­hen, an­ge­sichts derer das Wei­ter­spin­nen der ei­ge­nen Ge­dan­ken ins Sto­cken gerät und an seine Stel­le jene ein­ho­len­de Be­we­gung tritt, die wir als ›Ver­ste­hen‹ be­zeich­nen, ohne ganz in das In­ne­re die­ses Vor­gangs ein­zu­drin­gen. Jeder Ver­ste­hens­vor­gang wird von der Sorge oder Angst be­glei­tet, nicht zu ver­ste­hen oder fehl­zu­ver­ste­hen, je­den­falls dann, wenn mit Sank­tio­nen zu rech­nen ist. Schrift­ge­stütz­tes Ler­nen fällt immer zu leicht und zu schwer: zu leicht, weil das me­cha­ni­sche Re­pe­tie­ren, als Pri­mär­form des Wie­der­ho­lens, teils prä­miert, teils als un­gül­tig bei­sei­te­ge­tan wird, zu schwer, weil der bio­gra­phi­sche An­reiz, zu die­sem be­stimm­ten Zeit­punkt diese be­stimm­te Ver­ste­hens­leis­tung zu er­brin­gen und damit ein Stück Kul­tur zu ent­zif­fern, in den we­nigs­ten Fäl­len sub­jek­tiv er­kenn­bar oder über­haupt ge­ge­ben ist. Ein nicht ge­rin­ger Teil der re­al­päd­ago­gi­schen An­stren­gun­gen rich­tet sich folg­lich auf die­sen Punkt: die Schwel­len­angst oder -un­lust aus­zu­schal­ten bzw. durch ein lust­be­ton­tes Na­vi­gie­ren im Über­gang, ver­gleich­bar den rites de pas­sa­ge, zweck­mä­ßig zu be­täu­ben.

Wie be­deut­sam die­ser Zu­sam­men­hang für unser Kul­tur­ver­ste­hen ist, ver­rät die Pro­mi­nenz des Pla­to­ni­schen Höh­len­gleich­nis­ses, in dem die Pas­sa­ge, das Ver­las­sen des an­ge­stamm­ten Plat­zes in der Ge­sell­schaft, die Um­kehr des Blicks und der Gang ins Freie als der zen­tra­le Bil­dungs­vor­gang die Ge­stalt einer Kunst­my­the an­ge­nom­men hat. Las­sen wir ein­mal die my­then­theo­re­ti­schen und gno­seo­lo­gi­schen Pro­ble­me bei­sei­te, die die­ser Text sei­nen phi­lo­so­phi­schen Aus­le­gern auf­gibt, dann bleibt für einen mo­der­nen Leser der ver­blüf­fen­de Ein­druck von zu­viel Wis­sen und Ak­ti­vi­tät im Hin­ter­grund, an­ge­fan­gen bei der Schü­rung des Feu­ers über das Schat­ten­thea­ter bis hin zur Kon­struk­ti­on der Höhle selbst und den da­durch er­mög­lich­ten ›ge­lenk­ten‹ Auf­stieg – kurz ge­sagt von zu­viel ma­ni­pu­la­ti­ver En­er­gie und wirk­li­cher Ma­ni­pu­la­ti­on im Dienst der Ideen. Die­ser Ein­druck ent­steht nicht zu­fäl­lig, er ent­spricht un­se­rer kul­tu­rel­len Si­tua­ti­on. Wir mei­nen die Schat­ten­spie­ler zu ken­nen, eben­so das Per­so­nal derer, die nichts sehn­li­cher wün­schen, als uns die Binde ab­zu­neh­men, und wir fra­gen nicht nur, was sie daran ver­die­nen, son­dern auch, in wes­sen Auf­trag sie mög­li­cher­wei­se han­deln und wel­che Art von Wirk­lich­keits­ver­fäl­schung da­durch ent­steht. Wer Wis­sen leicht zu ma­chen ver­spricht, ist gleich­zei­tig will­kom­men und ver­däch­tig: das gilt an­ge­fan­gen bei der Spiel- und Spa­ß­päd­ago­gik über die me­tho­di­schen Si­che­run­gen der Wis­sen­schaft bis hin zu den no­to­ri­schen Au­gen­öff­nern, die gern unter dem Stich­wort ›Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker‹ zu­sam­men­ge­fasst wer­den. Der Pla­ton der Po­li­teia, sein Text zeigt es, ist selbst ein ge­wal­ti­ger Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, nicht an­ders als die Auf­klä­rer, die das Mo­dell des Höh­len­gleich­nis­ses auf den Gang der Wis­sen­schaf­ten und den ge­sell­schaft­li­chen Pro­zess um­leg­ten, nicht an­ders als die Auf­klä­rungs­geg­ner des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, nicht an­ders als Marx und En­gels, die im ge­sell­schaft­li­chen Be­wusst­sein die pla­to­ni­sche Höhle neu ent­deck­ten, nicht an­ders als Freud, der eine nicht un­be­trächt­li­che An­stren­gung un­ter­nahm, die ver­de­cken­de In­stanz zu ent­per­so­na­li­sie­ren, um die me­tho­di­sche Auf­klä­rungs­leis­tung als Stär­kung der Ich-Po­si­ti­on zu glo­ri­fi­zie­ren, nicht viel an­ders schlie­ß­lich als jede Horde von Schul­kin­dern, die froh ist, der Höhle der Klas­sen-Si­tua­ti­on für ein paar Stun­den ins Freie zu ent­kom­men, um sich spie­le­risch an­zu­eig­nen, was sie wirk­lich in­ter­es­siert und, wie sie fin­den, ihre Welt aus­macht.

11.

Es gibt, heißt das, an­ge­sichts der vie­len kul­tu­rel­len Schwel­len, die ge­nom­men wer­den wol­len, außer den Hemm­schu­hen Scham und Angst auch gute, von Miss­trau­en ge­speis­te Grün­de, dem Mit­ge­nom­men­wer­den durch die kul­tu­rel­len In­stan­zen und ihre Aus­le­gungs­pra­xen einen ge­wis­sen Wi­der­stand ent­ge­gen­zu­set­zen. Bleibt der Wi­der­stand ge­ring, so ent­ste­hen jene an­ge­pass­ten Wesen, deren ›Kul­tur‹ sich auf dem Ni­veau von Was­ser­trä­gern be­wegt, über­schrei­tet er ein ge­wis­ses Maß, wächst die Ge­fahr, dass die An­eig­nung un­ter­bleibt und, außer den im Wort­sinn Un­ge­bil­de­ten, jene ter­ro­ris­ti­schen Grup­pen von schein­bar un­an­ge­pass­ten, in Wirk­lich­keit die Ver­wei­ge­rung als Mit­tel der Selbst­in­sze­nie­rung und als Macht­in­stru­ment be­nüt­zen­den In­di­vi­du­en Zu­lauf er­hal­ten, die ich an an­de­rer Stel­le die ›un­be­las­te­ten Be­ob­ach­ter‹ ge­nannt habe und die in prak­tisch jeder ge­sell­schaft­li­chen Po­si­ti­on ... sagen wir: ein ge­wis­ses Pro­blem dar­stel­len. Unter Netz­be­woh­nern hat sich für sie der Aus­druck ›Trol­le‹ ein­ge­bür­gert.

In ge­wis­ser Hin­sicht ist die ge­bil­de­te Weise des Um­gangs zwi­schen In­di­vi­du­en vom pla­to­ni­schen Mo­dell der Um­wen­dung nicht zu tren­nen. Die, an wel­cher Stel­le auch immer, über­wun­de­ne Schwel­le zwi­schen Nicht­wis­sen und Wis­sen ist als Kerbe im Be­wusst­sein mit­an­we­send und sti­mu­liert die la­tent ge­ge­be­ne Be­reit­schaft, im Über­schrei­ten neuer Gren­zen die­sen qua­si-my­thi­schen Vor­gang zu wie­der­ho­len und damit den Pro­zess der Selbst­ver­stän­di­gung in Gang zu hal­ten, der jetzt als offen und mit den In­hal­ten der Kul­tur ver­mit­telt er­fah­ren wird. Die Ver­än­de­rung ge­gen­über dem pla­to­ni­schen Mo­dell be­steht darin, dass die Er­leuch­te­ten unter den Ge­bil­de­ten eine mit min­des­tens eben­so­viel Miss­trau­en wie Re­spekt be­dach­te Son­der­grup­pe dar­stel­len. Der Grund, man muss es kaum er­wäh­nen, liegt darin, dass die kul­tu­rel­len In­hal­te im Um­gang mit ihnen im We­sent­li­chen nicht ver­han­del­bar sind und damit die Er­geb­nis­of­fen­heit ent­fällt, die erst aus ihnen eine Sache aller macht, die etwas von der Sache ver­ste­hen.

Was lässt diese Weise des Um­gangs und damit das Mo­dell einer in­for­mel­len Ge­sell­schaft in der Ge­sell­schaft in kul­tu­rell aus­dif­fe­ren­zier­ten Zonen un­hin­ter­geh­bar wer­den? Of­fen­kun­dig der ele­men­ta­re Me­cha­nis­mus des kul­tu­rel­len Kom­pe­ten­z­er­werbs selbst. Was par­ti­ell gegen die Rich­tung des Selbst und damit gegen Wi­der­stän­de er­wor­ben wurde, die sich aus der Si­cher­heit des ei­ge­nen Welt­ver­hält­nis­ses her­schrei­ben und letz­te­res un­wi­der­ruf­lich mo­di­fi­zie­ren, kann nur in jener spe­zi­fi­schen Of­fen­heit ge­lebt wer­den, die als Kenn­zei­chen des sich sei­ner Be­zü­ge ver­si­chern­den Den­kens den kul­tu­rel­len Ge­winn für das In­di­vi­du­um schlecht­hin be­deu­tet. Die Ge­sell­schaft – oder das die Pa­ra­me­ter set­zen­de po­li­ti­sche Sys­tem – tut also gut daran, ihre Ge­bil­de­ten, gleich­gül­tig, ob es sich um Wis­sen­schaft­ler, Künst­ler oder Pu­bli­zis­ten han­delt, gut zu be­han­deln, will sie sich nicht den mor­bus in­tel­lec­tus ein­fan­gen, den kol­lek­ti­ven in­ne­ren oder äu­ße­ren Ex­itus der Eli­ten und jene letzt­lich töd­li­che Gleich­gül­tig­keit gegen ihre Leit­vor­stel­lun­gen und Werte, so eh­ren­wert sie an sich sein mögen, unter deren Maske je­der­zeit Ver­ach­tung und ein durch nichts zu beu­gen­der Ver­än­de­rungs­wil­le auf­bre­chen kön­nen. Gegen die­sen ba­sis­li­be­ra­len Grund­satz wurde in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der ve­he­ment ver­sto­ßen. Die Fol­gen sind be­kannt. Man darf dar­über strei­ten, ob die Lek­ti­on wirk­lich so dau­er­haft im po­li­ti­schen Ge­dächt­nis des Wes­tens ver­an­kert ist, wie stets be­teu­ert wird.

12.

Es gibt eine Kul­tur der Ver­wei­ge­rung, die auf die Ver­wei­ge­rung von Kul­tur hin­aus­läuft; sie be­sitzt eine sub­jek­ti­ve und eine ob­jek­ti­ve Rea­li­tät. Die sub­jek­ti­ve Seite kann (rand)grup­pen­spe­zi­fi­sche, fun­da­men­tal­re­li­giö­se oder ra­di­kal­po­li­ti­sche Wur­zeln haben, sie kann auch durch kul­tu­rel­le oder pop­kul­tu­rel­le Reiz­über­flu­tung aus­ge­löst wer­den: lau­ter Ge­fah­ren, die gern be­re­det wer­den und deren pro­fes­sio­nel­le Be­kämp­fung Ein­gang in die päd­ago­gi­schen Main­stream-Kon­zep­te ge­fun­den hat. Sel­te­ner kommt in bil­dungs­theo­re­ti­schen und bil­dungs­po­li­ti­schen Rä­son­ne­ments die ob­jek­ti­ve Seite vor – was nicht ver­wun­dert, da sie in der Regel, dank einem ge­wis­sen Denk-Au­to­ma­tis­mus, mit einem als kon­ser­va­tiv ver­schriee­nen Wer­te­ka­non und rück­wärts­ge­wand­ten po­li­ti­schen Leit­ide­en as­so­zi­iert wird. Em­pi­risch lässt sich das bis zu einem ge­wis­sen Grade nach­voll­zie­hen – ob­wohl auch ein spe­zi­fisch lin­ker, pro­gres­si­vis­ti­scher Bil­dungs­kon­ser­va­tis­mus zu exis­tie­ren nie auf­ge­hört hat –, aber es ist in der Sache nicht rich­tig.

Jedem Bil­dungs­sys­tem, das be­stimm­te Tu­gen­den oder ›Fä­hig­kei­ten‹ for­ciert, wohnt die Ten­denz inne, über fal­sche Prä­mie­run­gen (oder, vor­sich­ti­ger ge­sagt, pro­ble­ma­ti­sche Ne­ben­wir­kun­gen ein­ge­schlif­fe­ner Prä­mi­en­sys­te­me) ein so­zia­les Ty­pen­ras­ter zu er­zeu­gen, in dem die Ge­bil­de­ten struk­tu­rell in der Min­der­heit blei­ben. Be­zo­gen auf die Ge­samt­be­völ­ke­rung ist das kaum zu ver­mei­den. Dafür sorgt zu­ver­läs­sig, auch wenn das viele Men­schen be­dau­ern, die reale Be­rufs- und Frei­zeit­welt. Hei­kel wird es in den klas­si­schen Bil­dungs­be­ru­fen, zu denen man den des Po­li­ti­kers nicht zu zäh­len wagt, ob­wohl in der Po­li­tik die Ent­schei­dun­gen über die Zu­kunft der Bil­dung fal­len – nach Kri­te­ri­en, die einer Mehr­heit ein­leuch­ten müs­sen, auch wenn sie sich im ei­ge­nen Le­bens­gang von ihnen nicht be­ein­dru­cken lässt. Letz­te­res ist der Grund, aus dem die Bil­dungs­po­li­tik den dou­ble­speak liebt: nir­gends klaf­fen die Mo­ti­ve, aus denen ge­lernt oder nicht ge­lernt wird, und das ad­mi­nis­tra­tiv ver­häng­te An­ge­bots­de­sign sicht­ba­rer aus­ein­an­der.

In man­cher Hin­sicht bleibt es gleich­gül­tig, ob Bil­dungs­pa­ke­te so oder so ge­schnürt wer­den, ob es ein wenig mehr tech­nik­kon­for­mes Wis­sen oder eman­zi­pa­ti­ve Per­son­bil­dung sein darf, ob die mu­si­schen oder die na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fä­cher nach vorn ge­scho­ben, ob Bil­dungs­stand­or­te ver­tei­digt oder in­ne­re Werte ge­stärkt wer­den. Auch die Zahl der Thea­ter pro Re­gi­on ist kein zu­ver­läs­si­ger In­di­ka­tor für Bil­dung, ob­wohl die an ihnen Be­schäf­tig­ten das na­tur­ge­mäß an­ders emp­fin­den. Nicht die Bil­dungs­steue­rung ist schuld an der Miss-Bil­dung, nicht das Feh­len von Bil­dung ist die Ur­sa­che, warum Bil­dung ver­fehlt wird, so wie Ab­we­sen­heit nicht den Man­gel er­klärt, al­len­falls das Aus­blei­ben von Ab­hil­fe. Am Ende be­stimmt die Kul­tur der Bil­dung die Bil­dung der Kul­tur, un­ab­hän­gig davon, ob sie von den In­ter­es­sier­ten als herr­schend oder mar­gi­na­li­siert, als be­son­ders wert­voll oder als be­lang­los an­ge­se­hen wird.

13.

Nicht nur die Öf­fent­lich­keit ist es ge­wöhnt, im Bil­dungs­be­reich hin­ters Licht ge­führt zu wer­den, son­dern auch der Ein­zel­ne. Die leere At­ti­tü­de, die hohle Phra­se ent­hal­ten die Auf­for­de­rung, es sich be­quem zu ma­chen: Schlum­mern Sie sanft! Und auch das ist nur in Gren­zen rich­tig. Die Mehr­heit der Bil­dungs­ak­ti­vi­tä­ten wird immer unter dem Ver­dacht des Als-ob ste­hen und den Arg­wohn be­flü­geln, die Zahl der Le­bens­lü­gen zu ver­grö­ßern. Zur Bil­dung ge­hört un­ab­ding­bar die Fall­hö­he. Das Ela­bo­rier­te und die Platt­heit haben ein­an­der zu­viel zu sagen, als dass sie ihr Ge­spräch zu ir­gend­ei­nem Zeit­punkt ein­fach ein­stel­len könn­ten. Es würde ihnen auch nicht be­kom­men. Zur Bil­dung ge­hört die ge­leb­te Dis­tanz, die per­so­na­le Kom­mu­ni­ka­ti­on erst er­mög­licht und auch Nähe be­deu­tet. Daran ist nichts pein­lich, es sei denn der Hoch­mut des­sen, der un­be­dingt auf der si­che­ren Seite an­ge­trof­fen wer­den möch­te und des­halb die Kon­ta­mi­na­ti­on scheut. Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on hin­ge­gen hat die Ten­denz zur ab­so­lu­ten Dis­tanz. Das Sym­bol die­ser ab­so­lu­ten Dis­tanz ist die Schei­be, auf der die Bot­schaft der an­de­ren Seite er­scheint, ohne dass der Emp­fän­ger sie durch sein Ver­hal­ten in ir­gend­ei­ner Form mo­di­fi­zie­ren könn­te (es sei denn, er schal­tet den Ap­pa­rat aus). Nur wer sich ab­so­lut nicht be­ein­dru­cken lässt, be­wahrt sich den Hauch einer Chan­ce, der Ver­wand­lung von Kom­mu­ni­ka­ti­on in Kon­sum zu ent­ge­hen. In der Pra­xis ent­steht dar­aus ein Zwit­ter­ver­hal­ten, das eben­so kor­rupt wie un­be­lehr­bar dem Schein von Kom­mu­ni­ka­ti­on hul­digt und in dau­ern­der Ge­fahr steht, mehr von sich preis­zu­ge­ben, als die Re­geln der Um­sicht und einer klu­gen Le­bens­füh­rung er­lau­ben.

Aus sol­chen in den Tie­fen­schich­ten der Ge­sell­schaft aus­ge­bil­de­ten Dis­po­si­tio­nen speist sich der Sie­ges­zug jener un­be­las­te­ten Be­ob­ach­ter, die man auch als Hin­zu­tre­ten­de be­zeich­nen könn­te, um an­zu­deu­ten, dass sie ge­lernt haben, das Spiel nicht mit­zu­spie­len und mit­spie­lend zu ver­än­dern, son­dern es im Hin­zu­tre­ten in Frage zu stel­len und da­durch prin­zi­pi­ell zu ent­wer­ten, nach­dem ein­mal der Feh­ler be­gan­gen wurde, sie hin­zu­zu­zie­hen. Be­zo­gen auf die Si­tua­ti­on der Phi­lo­so­phie habe ich die­sen Typus in einer frü­he­ren Pu­bli­ka­ti­on ein­mal wie folgt be­schrie­ben:

Der un­be­las­te­te Be­ob­ach­ter ist nicht not­wen­dig eine Per­son, die den Theo­rie­be­stand eines Fachs von außen mus­tert. Man käme auch rasch in Schwie­rig­kei­ten, woll­te man die­ses ›von außen‹ ge­nau­er be­schrei­ben. Viel­mehr ist er eine Kunst­fi­gur: ein Ha­bi­tus, der dazu dient, eine vor­ge­fun­de­ne Si­tua­ti­on will­kür­lich zu ver­än­dern. Um ihn an­zu­neh­men, ist nichts wei­ter er­for­der­lich als der Ent­schluss, Wis­sen­schaft – oder jede an­de­re Tä­tig­keit – als Spiel zu be­grei­fen. Der un­be­las­te­te Be­ob­ach­ter sieht den Mit­spie­lern auf die Fin­ger, er wirkt zer­streut, so­lan­ge sie bei der Sache sind, er lauscht, aber er hört nicht zu, er ver­grö­ßert auf jede er­denk­li­che Weise den Ab­stand, der ihn von den an­de­ren trennt. Zu einem be­stimm­ten Zeit­punkt un­ter­bricht er das Spiel­ge­sche­hen. Er hat etwas mit­zu­tei­len. Hat er ein­mal das Wort er­grif­fen, pro­fi­tiert er von der Zer­streut­heit der an­de­ren, die nicht wis­sen, wie ihnen ge­schieht. Im Grun­de könn­ten sie end­los wei­ter­spie­len, sie kön­nen es nach wie vor, so­lan­ge sie nicht be­rührt, was der un­be­las­te­te Be­ob­ach­ter zu be­rich­ten weiß: dass näm­lich ihr Spiel auf einer fal­schen Vor­aus­set­zung be­ruht und des­halb nur einen ima­gi­nä­ren Ge­winn ab­wer­fen kann. Tat­säch­lich dau­ert es eine Weile, bis die Bot­schaft sich durch­setzt.
Doch das Spiel bleibt ge­stört, man ist nur noch halb bei der Sache. Wie viele un­be­las­te­te Be­ob­ach­ter ver­trägt es? Eines ist si­cher: so­bald sich die Waage dem neuen Typus zu­neigt, ist die Ein­heit der Dis­zi­plin nur noch ein lee­res Wort. An ihre Stel­le tritt eine sek­tie­re­risch sich ent­fal­ten­de Mi­me­sis, und es ist voll­kom­men be­lang­los, wel­ches Spiel sie von Fall zu Fall un­ter­bricht. Wer über die rech­te Ein­stel­lung ver­fügt, ist um Ar­gu­men­te sel­ten ver­le­gen, vor allem, wenn sie auf »har­ten Fak­ten« ba­sie­ren. An die­sen wie­der­um herrscht kein Man­gel. Es kommt nur dar­auf an, sich ihrer öko­no­misch zu be­die­nen. Also lau­tet die phi­lo­so­phi­sche Ma­xi­me, die sich in der Figur des un­be­las­te­ten Be­ob­ach­ters ver­birgt: multum non multa. Der kleins­te Stein ver­ur­sacht das grö­ß­te Ge­tö­se.

Was hier in Bezug auf eine aka­de­mi­sche Dis­zi­plin ge­sagt wird, lässt sich mü­he­los auf alle Be­rei­che über­tra­gen, in denen Kul­tur ver­mit­telt und ge­lebt wird. Schwel­len­ver­wei­ge­rung be­deu­tet etwas grund­le­gend an­de­res als Leis­tungs­ver­wei­ge­rung. So kann es kom­men, dass sich ge­ra­de in die­ser Grup­pe Leis­tungs­trä­ger fin­den, deren spe­zi­fi­sche Leis­tung die der an­de­ren nicht nur über­strahlt, son­dern zur Recht­fer­ti­gung ihrer Ent­wer­tung dient. In ge­wis­ser Weise stel­len sie mime­tisch die sich in um­wäl­zen­den Ent­de­ckun­gen und Er­fin­dun­gen ma­ni­fes­tie­ren­de, an­sons­ten auf zähe und lang­sa­me Ak­ku­mu­la­ti­on hin­aus­lau­fen­de Kul­tur­be­we­gung in ihrer Per­son zur Schau: Ich habe das, was ihr sucht (oder wis­sent­lich aus­blen­det).

14.

Diese Tech­nik des In­fra­ge­stel­lens be­sitzt eine ideo­lo­gi­sche Vor­ge­schich­te, die viel­leicht noch ein­mal ge­schrie­ben wird. Sie be­sitzt auch eine prak­ti­sche Vor­ge­schich­te in den al­ter­na­ti­ven Pro­test­for­men der sech­zi­ger Jahre des letz­ten Jahr­hun­derts. Ihr of­fe­nes Ge­heim­nis ist die Macht­fra­ge, die sie in alle Ver­hält­nis­se hin­ein­trägt, zu Auf­klä­rungs- und Eman­zi­pa­ti­ons­zwe­cken, wie sie be­haup­tet, da sie oh­ne­hin allen Ver­hält­nis­sen in­hä­rent sei. Re­ak­tio­när ist be­kannt­lich immer die Macht der an­de­ren, aber auch die der Dis­kur­se, die ge­bro­chen wer­den müs­sen, damit end­lich Licht am Ende des Tun­nels auf­scheint. Nichts fällt leich­ter als einen ›Dis­kurs‹ zu kon­stru­ie­ren, in dem sich der Kon­struk­teur nicht auf­ge­ho­ben fühlt und den er des­halb dem Hohn und der de­struk­ti­ven Ge­walt des Pu­bli­kums aus­zu­lie­fern sich be­rech­tigt fühlt. Das mag im Ein­zel­fall be­rech­tigt sein, doch die Fol­gen der ein­mal eta­blier­ten Mas­sen­pra­xis sind de­sas­trös. Die Kürze der Theo­rie, die nötig ist, um das Spiel zu spie­len, ga­ran­tiert die Ab­we­sen­heit jeden wei­ter­ge­hen­den Sa­ch­in­ter­es­ses, die Be­lie­big­keit des Ver­fah­rens seine uni­ver­sel­le Ver­füg­bar­keit im Dienst als real an­ge­nom­me­ner In­ter­es­sen. An­ders als Leute, die, auch unter Hint­an­stel­lung ihrer per­sön­li­chen Be­lan­ge, die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len ver­mö­gen, zeich­nen sich Trol­le unter an­de­rem da­durch aus, dass sie den per­sön­li­chen Vor­teil nie aus dem Auge ver­lie­ren, dass sie Auf­merk­sam­keit, Pres­ti­ge, Kar­rie­re, Ein­kom­men, und ihr Pro­fil mehr oder min­der auf­fäl­lig den Ge­ge­ben­hei­ten an­zu­pas­sen wis­sen. Dass sie über­haupt ins Zen­trum der bil­dungs­theo­re­ti­schen Auf­merk­sam­keit auf­rü­cken konn­ten, hängt auch mit dem Um­stand zu­sam­men, dass ihre allzu schlich­te, kei­nem Ge­sell­schafts­glied gänz­lich ferne Er­folgs­ska­la ir­gend­wann kur­zer­hand von den pla­nen­den und steu­ern­den In­stan­zen zu Se­lek­ti­ons- und För­der­zwe­cken über­nom­men wurde.

Ge­sell­schaft­li­che Pro­zes­se sind zäh, sie haben kein er­kenn­ba­res Ende – ge­schwei­ge denn Ziel – und blei­ben, aufs Ganze ge­se­hen, un­er­gründ­lich. Nicht sel­ten ist die beste Me­tho­de, sich einer Ge­fahr zu er­weh­ren, die No­bi­li­tie­rung: wer etwas zu ver­lie­ren hat, lernt das Re­gel­werk der Ge­sit­tung in einer Nacht. So ent­ste­hen mit­un­ter ir­rea­le Auf­stiegs­mus­ter, die zur Nach­ah­mung ein­la­den und für den Ein­zel­nen oder die Ge­sell­schaft im De­sas­ter enden. Eine ra­tio­na­le Ma­xi­me müss­te daher lau­ten: Ent­fernt die Trol­le! Oder, da sich der from­me Wunsch oh­ne­hin nicht ver­wirk­li­chen lässt: Schafft die kon­zep­tio­nel­len und prak­tisch-em­pi­ri­schen Vor­aus­set­zun­gen, um die Ent­ste­hung, Ver­meh­rung und wun­der­sa­me so­zia­le Kar­rie­re die­ses Bil­dungsphä­no­mens einer ein­ge­hen­den Be­ob­ach­tung, Ana­ly­se und Be­wer­tung zu­zu­füh­ren, um es ir­gend­wann wirk­sam ein­zu­däm­men.

Den so­zia­len On­line-Net­zen ist etwas Be­mer­kens­wer­tes ge­lun­gen. Sie haben scho­nungs­los die mi­kro­kom­mu­ni­ka­ti­ven Di­men­sio­nen des Pro­blems auf­ge­deckt und quan­ti­ta­tiv über­wäl­ti­gend do­ku­men­tiert. Eine Stun­de Face­book-Lek­tü­re leis­tet in die­sem Feld mehr Auf­klä­rung über Bil­dungs­zu­stän­de als man­che mi­nu­tiö­se Auf­ar­bei­tung eines Pi­sa-Be­richts. An­ge­sichts die­ses Oze­ans an In­for­ma­tio­nen soll­te es mög­lich sein, Be­schrei­bungs­ras­ter und Ana­ly­se­me­tho­den aus­zu­ar­bei­ten, die es er­lau­ben, nicht nur Pro­fi­le von Kon­su­men­ten und po­ten­zi­el­len Straf­tä­tern zu er­stel­len, son­dern auch kul­tu­rel­les Ver­hal­ten und kul­tu­rel­le Stra­te­gi­en zu durch­leuch­ten, die in den ver­schie­de­nen Be­rei­chen der Ge­sell­schaft Ef­fekt ma­chen. Es ist wenig sinn­voll, ge­ra­de die­ses Me­di­um für ein­schlä­gi­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­de­sas­ter ver­ant­wort­lich zu ma­chen und ihm damit die Schuld an etwas zu­zu­schie­ben, des­sen Ur­sprung, zu­min­dest teil­wei­se, im Bil­dungs­sys­tem selbst zu su­chen wäre.

Re­spekt ver­dient das Me­di­um schon des­halb, weil es, aus ge­ge­be­nem An­lass, erst­mals dem Phä­no­men einen po­pu­lä­ren Namen ge­ge­ben hat. Ein ge­wis­ses Be­frem­den könn­te dem Arg­wohn ent­wach­sen, mit der ge­nann­ten Ma­xi­me werde wo­mög­lich zu einer Art um­ge­dreh­ter Men­schen­jagd ge­bla­sen. Men­schen­jagd als die dunk­le Seite des­sen, was Stra­te­gen die­ser Pro­zes­se ›Schwar­min­tel­li­genz‹ nen­nen, ist, seit die Ku­mu­la­ti­ons­ef­fek­te der Netze ins all­ge­mei­ne Be­wusst­sein ge­drun­gen sind, ein hei­ßes Thema, das sich mit dem an­ge­schnit­te­nen mehr als flüch­tig be­rührt. Troll-Ver­hal­ten – oder, um zur vor­ge­schla­ge­nen Ter­mi­no­lo­gie zu­rück­zu­keh­ren, die Stra­te­gie des un­be­las­te­ten Be­ob­ach­ters – lässt sich ganz gut als schein­per­so­na­les Ver­hal­ten be­schrei­ben. Das könn­te die Fehl­ein­schät­zung er­klä­ren, der er­liegt, wer in ihm nur eine Äu­ße­rungs­form des eben­so ba­na­len wie le­gi­ti­men Be­dürf­nis­ses von In­di­vi­du­en zu er­ken­nen wünscht, ihr Leben zu leben und es auf der so­zia­len Lei­ter so weit wie mög­lich zu brin­gen. Be­trach­tet man es unter dem As­pekt kul­tu­rel­ler Schwel­len­ver­wei­ge­rung, dann ver­fliegt der An­schein, hier würde der le­gi­ti­me Selbst­ver­wirk­li­chungs­wunsch von Per­so­nen mar­kiert und mit einem eher eli­tä­rem Kul­tur­ver­ständ­nis ent­sprin­gen­den Straf­zoll be­legt.

15.

Eine an­ge­le­se­ne As­so­zia­ti­on: Hätte je­mand an­ge­sichts des ers­ten Surf­bretts auf dem Au­to­dach eines Jung­leh­rers, der von der letz­ten Un­ter­richts­stun­de in die Fe­ri­en star­te­te, Alarm ge­schla­gen, weil er eine töd­li­che Ge­fahr für das kul­tu­rel­le Sys­tem her­auf­zie­hen sah, so wäre man­ches an­ders ge­kom­men. Aber selbst­ver­ständ­lich hätte sich so ein Je­mand, und zwar zu Recht, nur lä­cher­lich ge­macht. Den­noch ist nicht von der Hand zu wei­sen, dass die for­cier­te Kon­sum- und Frei­zeit­ge­sell­schaft das schon län­ger be­ste­hen­de Bil­dungs­pro­blem in eine neue Ord­nung ver­scho­ben hat. Da es in nie­man­des Macht stand, sie auf­zu­hal­ten, be­schäf­ti­gen sich seit­her Bil­dung und Bil­dungs­ver­mitt­lung damit, sich zu ihr zu ver­hal­ten. Eine frühe Weise, sich zu ver­hal­ten, wurde, wie er­wähnt, ›po­li­tisch‹ ge­nannt: eine Ver­wei­ge­rungs­hal­tung, die sich nicht auf die Schwel­len­er­fah­rung der Kul­tur, son­dern auf den Kon­sum bezog – das Kon­su­m­idio­ten­tum, wie es in jenen Jah­ren gern ge­nannt wurde. Man muss sich un­se­ren mitt­ler­wei­le an der Pen­si­ons­gren­ze an­ge­kom­me­nen Jung­leh­rer als wa­cke­ren Kämp­fer gegen die Kon­su­m­idio­tie vor­stel­len, an­ders täte man ihm ver­mut­lich Un­recht. Sein An­spruch auf un­ge­brems­te Er­leb­nis­frei­zeit ist zwar Teil der Kon­sum­land­schaft, aber er sie­delt in einem sen­si­blen Ge­län­de: die Aus­zeit von der Kul­tur ist ein aus den Zei­ten der Auf­klä­rung ver­trau­tes Phan­tas­ma ge­mein­eu­ro­päi­schen Ur­sprungs. Selbst­ver­ständ­lich wurde es stets kul­tu­rell flan­kiert ge­dacht.

Der Rei­se- und Frei­zeit­in­dus­trie ge­lang der Coup, Tar­zan mit Robin Hood zu­sam­men­zu­span­nen und in die Fa­bri­ka­ti­ons­stät­ten ein­zu­schleu­sen, in denen, nach fast ein­hel­li­ger Über­zeu­gung der Be­schäf­tig­ten, Be­wusst­sein pro­du­ziert wird. Be­wusst ma­chen, Be­wusst­sein er­zeu­gen, Be­wusst­sein ver­än­dern: damit wer­den ganze In­dus­trie­zwei­ge aus­ge­las­tet, ohne dass in ihnen der selt­sa­me Stoff Be­wusst­sein, aus dem das selt­sa­me Pro­dukt Be­wusst­sein ge­won­nen wird, unter an­de­ren als Ver­än­de­rungs-Ge­sichts­punk­ten über­haupt ins Blick­feld ge­rie­te. In un­se­rem Fall heißt das: an die Stel­le fal­schen, auf den pas­si­ven Kon­sum der all­ge­gen­wär­ti­gen pop­kul­tu­rel­len An­ge­bo­te ein­ge­stell­ten Be­wusst­seins soll, durch päd­ago­gi­sche Magie, rich­ti­ges Be­wusst­sein ge­setzt wer­den. Das er­in­nert nicht grund­los an klas­si­sche Dys­to­pi­en von Samja­tin bis Or­well. Doch na­tür­lich ist alles an­ders ge­meint. Denn die­ses rich­ti­ge Be­wusst­sein ist, von Haus aus oder durch den Wil­len sei­ner Pro­du­zen­ten, kri­tisch.

Wor­auf will das hin­aus? Na­tür­lich nicht auf eine Apo­lo­gie un­kri­ti­schen Be­wusst­seins, eher schon auf eine Be­fra­gung des­sen, was hier ›Be­wusst­sein‹ ge­nannt wird. Aber gleich­gül­tig, was eine sol­che Be­fra­gung er­gä­be: nach jahr­zehn­te­lan­ger Er­pro­bung sind wenig Zwei­fel ge­blie­ben, dass der switch zwi­schen rich­ti­gem und fal­schem, zwi­schen un­kri­ti­schem und kri­ti­schem Be­wusst­sein eine in­ner­kon­su­mis­ti­sche Di­men­si­on be­sitzt, vor der früh ge­warnt und die seit­her selbst zum Ob­jekt päd­ago­gi­scher Ge­gen-An­stren­gun­gen wurde. Auch kri­ti­sches Be­wusst­sein muss jene kul­tu­rel­len Schwel­len pas­sie­ren, um wirk­li­ches, sich in Be­zü­gen sei­ner Kul­tur rea­li­sie­ren­des Be­wusst­sein zu wer­den und nicht in der Rolle des un­be­tei­lig­ten Be­ob­ach­ters zu po­sie­ren oder in Zonen ak­ti­ven Ter­rors ab­zu­drif­ten. Es ist nicht über­flüs­sig, der­glei­chen zu be­mer­ken, weil es noch immer den Schlüs­sel zur in­tel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie der heute Ak­ti­ven lie­fert und in ge­wis­ser Weise den Tür­öff­ner für ähn­li­che Phä­no­me­ne spiel­te. Denn glei­ches gilt für den switch zwi­schen einer un­ter­stell­ten Bil­dungs­idio­tie, die sich an die ein­ge­fah­re­nen Ver­ab­rei­chungs­we­ge von Kul­tur hält, und dem ak­tu­el­len Ideal des selbst­be­stimm­ten Kul­tur­an­eig­ners, der sich sein Wis­sens- und Bil­dungs­pro­gramm auf dem Ta­blet nach Wunsch und an­ti­zi­pier­ter Eig­nung zu­sam­men­stellt, glei­ches, um vom For­ma­lis­mus der Bil­dungs­kon­zep­te zum For­ma­lis­mus der Bil­dungs­in­hal­te über­zu­wech­seln, für den an die Stel­le der rea­len Ge­schich­te einer rea­len Mensch­heit ge­setz­ten switch von einer trau­ma­ti­schen und trau­ma­ti­sie­ren­den Ver­gan­gen­heit zu einer the­ra­peu­ti­schen und gleich­sam ber­gen­den Ge­gen­wart, glei­ches für den switch zwi­schen fal­schen und rich­ti­gen Frau­en­bil­dern, fal­schen und rich­ti­gen An­nah­men über die so­zia­le Natur des Men­schen bis zum lach­mus­kel­rei­zen­den Kitsch der je­weils neu­es­ten, dem Zwang zur Ak­qui­se ge­schul­de­ten For­schungs­er­geb­nis­se über die ver­hal­tens­bio­lo­gisch und ge­hirn­phy­sio­lo­gisch be­grün­de­te Un­fä­hig­keit mensch­li­cher Se­xu­al­part­ner zur Mo­no­ga­mie. Und es gilt, nicht zu ver­ges­sen, für den switch zwi­schen dem her­kömm­li­chen, ein­sei­tig einer fal­schen Sach-, also Frem­dori­en­tie­rung ver­schrie­be­nen Selbst­bild des Wis­sen­schaft­lers und dem kar­rie­re­be­ton­ten, selbst­ver­mark­ten­den, ka­pi­tal­er­trags­steu­er­ge­prüf­ten Wis­sen­schaft­le­rin­nen-und-Wis­sen­schaft­ler-Idol, das zwi­schen zwei Dritt­mit­tel­an­trä­gen ein Sinn-Va­ku­um er­lei­det, wie es nur, nun ja, durch Kul­tur­kon­sum ge­füllt wer­den kann.

16.

Bil­dungs­re­de bleibt un­voll­stän­dig, so­lan­ge sie das äs­the­ti­sche Ter­rain – und damit die Pro­jek­ti­ons- und Pro­jekt­flä­che der Kunst – nicht in ihre Über­le­gun­gen ein­be­zieht. Dass Kunst – äs­the­ti­sche Kunst, denn es gibt auch an­de­re – von Haus aus pro­jekt­för­mig ge­dacht wer­den muss, wird kla­rer, wenn man das be­son­de­re Ver­hält­nis be­denkt, das sie an den Be­reich der My­then und My­then­dar­stel­lung fes­selt: Wo My­thos ist, muss Kunst wer­den – das wäre eine be­son­de­re Form des äs­the­ti­schen Im­pe­ra­tivs, die sich nur da­durch vom – reich­lich löch­ri­gen – Ver­dikt des pla­to­ni­schen So­kra­tes über das Wis­sen des My­thos un­ter­schei­det, dass sie das pro­duk­ti­ve Wech­sel­ver­hält­nis zwi­schen bei­den Sei­ten ins Licht stellt. Wie und warum Kunst sich vom My­thos ge­schie­den hat, ist eine Frage. Die an­de­re wäre, wie und mit wel­chen Mit­teln sie die Schei­dung auf­recht er­hält, ohne ihr Son­der­ver­hält­nis zum My­thos oder zur my­thi­schen Welt­sicht auf­zu­ge­ben. Die Ant­wort lau­tet: durch ihre Pro­jekt­form.

Es ist das her­stel­len­de, sprich: ›tech­ni­sche‹ Ver­hält­nis zu dem, was He­gels En­zy­klo­pä­die-Pa­ra­graph 560 etwas brüsk, aber in der Sache völ­lig kor­rekt den Gott nennt, in dem der Pro­jekt­cha­rak­ter der Kunst grün­det. Ein Teil der Sci­en­ti­fic com­mu­ni­ty hat sich an­ge­wöhnt, die gro­ßen Mensch­heits­fin­dun­gen, also Re­li­gi­on, Kunst, Phi­lo­so­phie, Wis­sen­schaft, selbst die Tech­nik Pro­jek­te zu nen­nen. Das ent­spricht dem Selbst­ver­ständ­nis der darin Tä­ti­gen nur zum Teil. So­lan­ge das Selbst­bild der Wis­sen­schaft vom Me­tho­den-Pa­ra­dig­ma durch­drun­gen war, scheint ihr mehr an sta­bi­len Er­geb­nis­sen ge­le­gen ge­we­sen zu sein als an un­aus­ge­schöpf­ten In­no­va­ti­ons­po­ten­zia­len, die durch ein fixes Me­tho­den­ide­al eher ver­deckt wer­den. Vom Künst­ler als, mit Hegel ge­spro­chen, »Meis­ter des Got­tes« wird da­ge­gen er­war­tet, dass er das Stau­nen­er­re­gen­de, das Un­er­war­te­te und Un­er­wart­ba­re an die Stel­le des ge­wohn­ten An­blicks der Dinge setzt, so wie die Dich­tung aus einer ge­wis­sen Per­spek­ti­ve als Pro­zess der per­ma­nen­ten Neu­er­fin­dung der My­then mit an­de­ren Mit­teln in Wech­sel­be­zie­hung zum je­weils gül­ti­gen Stand der Kul­tur an­ge­se­hen wer­den kann.

Kunst und Li­te­ra­tur gel­ten daher seit jeher als be­vor­zug­te Lie­fe­ran­ten von Schwel­len­er­fah­run­gen. Be­reits die hel­le­nis­ti­sche An­ti­ke er­kennt daran, ob und wie sich je­mand ihren Ge­bil­den ge­gen­über aus­drückt, die ty­pi­schen An­zei­chen von ›Kul­tur‹. Das ist bis heute, allen Un­ken­ru­fen und Mord­ab­sich­ten zum Trotz, so ge­blie­ben. Nicht ge­blie­ben, so­weit Do­ku­men­te spre­chen, ist die Dich­te der je­wei­li­gen Er­fah­rung und das so­zia­le Pres­ti­ge, das sich an die prä­zi­se Ar­ti­ku­la­ti­on die­ser Er­fah­rung hef­tet. Es ist schon eine Weile her, seit ein Werk wie Ador­nos Äs­the­ti­sche Theo­rie ein ge­sell­schaft­li­ches Rau­nen er­zeu­gen konn­te. Im­mer­hin han­delt es sich um einen über­schau­ba­ren Zeit­raum, so dass die Ur­sa­chen dafür durch­aus in den Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der Kul­tur ge­sucht und ge­fun­den wer­den könn­ten, von denen hier die Rede war.

Die ei­gen­tüm­li­che Schwind­sucht der Poe­sie, viel­fäl­tig ab­zu­le­sen am Wan­del der, so­weit noch vor­han­den, ein­schlä­gi­gen Re­ga­le der Buch­hand­lun­gen, der The­men und Ge­gen­stän­de der Kri­tik und der Ab­satz­zah­len der Ver­la­ge, aber na­tür­lich auch der Schrift­stel­ler-At­ti­tü­den und dem, was man, mit dem be­kann­ten Kaf­ka-Wort, ihre Lauf­rich­tung nen­nen könn­te – nicht zu spre­chen davon, dass be­reits das Wort ›Dich­tung‹ in der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft zu einem Un­wort her­ab­ge­sun­ken ist –, hat un­ter­schied­li­che Grün­de. Eine Ur­sa­che der Mi­se­re liegt in einer tech­no­lo­gisch in­du­zier­ten und in­di­zier­ten kul­tu­rel­len Zan­gen­be­we­gung: ei­ner­seits dem Aus­zug vie­ler, nicht: Leser, son­dern Le­see­in­stel­lun­gen, dar­un­ter ge­ra­de der wa­che­ren, ak­ti­ve­ren, keine Such­be­we­gung scheu­en­den, neu­heits­süch­ti­gen und durch De­sign, sprich Äs­the­tik ver­führ­ba­ren, aus dem ge­druck­ten Me­di­um, ins­be­son­de­re dem Buch als der pro­mi­nen­ten Ver­ab­rei­chungs­form von Li­te­ra­tur, an­de­rer­seits der ge­gen­läu­fi­gen, damit kor­re­spon­die­ren­den, theo­re­tisch wohl­fun­dier­ten, aber in der Pra­xis ver­hee­ren­den Ab­kehr vom Glau­ben an die Buch­för­mig­keit der Welt – zu­min­dest ihrer Deu­tun­gen. Die zu­grun­de lie­gen­de, den Na­tur- und So­zi­al­wis­sen­schaf­ten seit län­ge­rem ge­läu­fi­ge Ein­sicht ist, wie der letz­te Schlag­ab­tausch über den kul­tu­rel­len Ei­gen­wert des Bu­ches und der Buch­kul­tur aus­rei­chend be­legt, in der li­te­ra­ri­schen Welt nie recht an­ge­kom­men. Das hat, außer der dort an­zu­tref­fen­den sen­ti­men­ta­len Nei­gung zu einer ge­wis­sen hei­li­gen Ein­falt, viel­fäl­ti­ge kul­tu­rel­le Grün­de, unter denen die Buch­re­li­gi­on als kul­tu­rel­le Grün­dungs- und Fun­die­rungs­in­stanz mehr als gleich­be­rech­tigt neben der sä­ku­la­ren Ver­eh­rung für Erst­aus­ga­ben und Klas­si­ker­bi­blio­the­ken steht. Ein Haupt­grund liegt in der dis­tri­bu­ti­ven Un­um­gäng­lich­keit der Buch­form in den Jahr­hun­der­ten nach der Gu­ten­berg-Re­vo­lu­ti­on. Doch es gibt an­de­re, raf­fi­nier­te­re Grün­de. Ein Buch zu schrei­ben be­deu­te­te für den li­te­ra­ri­schen, noch nicht zum Un­ter­hal­tungs­schrift­stel­ler ver­küm­mer­ten Autor, die Welt nicht nur dem In­halt nach, son­dern auch for­mal zu deu­ten und als ge­deu­te­te zu ge­stal­ten. Die um­schlie­ßen­de und aus­zu­ge­stal­te­te Form dafür war nun ein­mal lange Zeit das Buch. Es ist viel Witz, Er­fin­dungs­freu­de und Tief­sinn in die damit ge­stell­te Auf­ga­be hin­ein­ge­flos­sen.

Lange vor der Er­fin­dung des Com­pu­ters und der durch ihn ge­schaf­fe­nen pro­duk­ti­ven wie dis­tri­bu­ti­ven Mög­lich­kei­ten be­ginnt der Aus­zug der äs­the­ti­schen Li­te­ra­tur aus der for­men­den und deut­ba­ren Hülle des Bu­ches. Prousts À la re­cher­che du temps perdu lässt sich die­ser Ab­setz­be­we­gung eben­so zu­ord­nen wie Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten. Was bei Musil man­gels me­dia­ler Al­ter­na­ti­ven als Nach­lass blan­k­liegt, scheint erst durch die di­gi­ta­le Edi­ti­on eine be­frie­di­gen­de Form zu fin­den. Wenn dabei auch öko­no­mi­sche Fak­to­ren eine Rolle spie­len, zeigt sich daran nur ein wei­te­res Mal, dass die Tage der Buch­ver­la­ge als Schalt­stel­len der li­te­ra­ri­schen Kul­tur wohl ge­zählt sind. Ein Me­di­um, des­sen Zau­ber­kraft ver­schwun­den ist, das die for­ma­le Neu­gier der Schrei­ben­den nicht mehr zu bin­den ver­steht – ganz zu schwei­gen davon, dass seine pri­mä­ren, sprich dis­tri­bu­ti­ven Qua­li­tä­ten den Ver­gleich mit dem Pfer­de­kut­schen-Zeit­al­ter na­he­le­gen –, kann und wird als äs­the­ti­sches Fas­zi­no­sum nicht fort­be­ste­hen – außer im an­ti­qua­ri­schen Sinn.

Keine Bil­dung ohne äs­the­ti­sche Bil­dung: die­ser Ge­mein­platz we­nigs­tens wird sich er­hal­ten. Ihn vor­aus­ge­setzt und aus­ge­rüs­tet mit der in den letz­ten Jahr­zehn­ten wie­der ge­wach­se­nen, kei­nes­wegs re­si­gna­ti­ven Ein­sicht, dass die di­gi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en nicht etwa das Ende der Schrift­kul­tur be­deu­ten, wohl aber ihre tief­grei­fen­de Re­struk­tu­rie­rung mit heute noch nicht wirk­lich ab­zu­se­hen­dem Aus­gang, sind wir gut be­ra­ten, die Sache der Li­te­ra­tur nicht fal­len­zu­las­sen und an die his­to­ri­sche Dis­kurs­ana­ly­se zur Nach­be­hand­lung zu über­wei­sen oder im öko­no­mi­schen Über­le­bens­kampf der Buch­ver­la­ge zu ver­schleu­dern. Nicht etwa, weil es so schön wäre, im neuen Me­di­um auch eine Li­te­ra­tur zu be­sit­zen, son­dern weil die Kul­tur ohne sie so­wohl nach ihrer äu­ße­ren wie nach ihrer in­ne­ren Di­men­si­on un­voll­stän­dig blie­be.

 

13. Jahrgang 2014

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