Panajotis Kondylis hat seine philosophische Theorie ›deskriptiven Dezisionismus‹ genannt. Das Verständnis des Denkens von Kondylis setzt ein mehr oder weniger klares Verstehen von dem voraus, was er mit Entscheidung meint. Der Begriff der Entscheidung wurde oft falsch aufgefasst, obwohl er so wichtig ist für Kondylis' Philosophie. Dieses Missverständnis kann Anlass zu manchen Irrtümern über sein Werk geben. Ich werde versuchen, den Begriff der Entscheidung klarzustellen, indem ich mich auf das stütze, was Kondylis als Entstehungsvorgang des Geistes charakterisiert.
Um das Denken von Kondylis zu verstehen, muss man vom Begriff der Selbsterhaltung ausgehen. Was auf fundamentalstem Niveau existiert, sind Wesen, die ihre Existenz zu verewigen suchen, auch wenn sie das nicht können; eines dieser Wesen ist der Mensch. Diese Idee stammt von Spinoza. (Siehe z.B. Spinoza, Ethik, III. Teil (Übersetzung Jakob Stern:) Lehrsatz 6: Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren. Lehrsatz 7: Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst. Lehrsatz 8: Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, schließt keine bestimmte, sondern eine unbestimmte Zeit in sich.) Wenn der Mensch eine Substanz hat, besteht sie darin, dass er ein endliches Wesen ist, welches Geist hervorbringt und diesen gegen alles richtet, was es bedroht, wenn es darum geht, seine Feinde zu besiegen und seine Selbsterhaltung zu sichern.
Die Selbsterhaltung ist für Kondylis ein conatus: Trieb und gleichzeitig Kampf. (Siehe Panajotis Kondylis Ishys kai Apofasi, I diamorfosi ton kosmoeikonon kai to provlima ton axion, Stigmi Verlag, Athen 2001, S. 47 [Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984, S.27.]) Da der Mensch endlich ist, ist ihm seine Selbsterhaltung nicht von vornherein gegeben, sondern er muss sie sichern und sich deshalb in einer andauernd bedrohlichen Umgebung die notwendigen Mittel dafür verschaffen. Er muss, anders gesagt, Macht erwerben, d.h. die Fähigkeit, seine Ziele zu verwirklichen, die letzten Endes seiner Selbsterhaltung dienen. (Für die Verwandlung des Selbsterhaltungstriebes in Forderungen der Macht siehe Macht und Entscheidung S. 59-61 [33-34].)
Für Kondylis ist der Geist in all seinen Erscheinungen kämpferisch und konstituiert Verwandlung, Verfeinerung und Steigerung des ursprünglichen Triebes der Selbsterhaltung. (Dazu Macht und Entscheidung S. 149-159 [83-89].) Wenn es darum geht, die Entstehung und die Funktion des Geistes zu erklären, skizziert Kondylis in den ersten Einheiten von Macht und Entscheidung einen ursprünglichen Zustand, wo die Existenz des Menschen ›bloß‹ erscheint (dazu Macht und Entscheidung S. 149-159 [83-89]), versehen nur mit ihrem Trieb zur Selbsterhaltung in einer veränderlichen Welt, in der Gefahren lauern. Da der Geist noch nicht erschienen ist, sind die Elemente dieser ›Vorwelt‹ unter dem Gesichtspunkt der bloßen menschlichen Existenz noch ununterscheidbar, beherrschend und vor allem gleichwertig, d.h. sie sind, was ihre Wichtigkeit betrifft, noch nicht differenziert.
Eine solche Existenz in einer solchen Welt bewegt sich instinktiv und mehr oder weniger ins Blaue hinein, obwohl sie ein bestimmtes Bewusstsein über sich selbst hat, jedoch ohne Identität und ohne konkreten Handlungsplan. Diese bloße Existenz bewegt sich, indem sie überall Gefahren sieht und schaut, wie sie sich vor diesen schützen kann. In einem solchen Urzustand ist das Leben, um an Hobbes zu denken, »ekelhaft, tierisch und kurz«. (Hobbes, Leviathan, Kap. 13. Hier werden wir nicht prüfen, ob dieser ursprüngliche Zustand für Kondylis eine tatsächliche Situation ist oder einfach ein theoretisches Mittel für die Methode seiner Argumentation. Es scheint jedoch, dass Hobbes meint, es handele sich um einen reellen, historischen Zustand.)
Der Geist entsteht durch den Übergang von dieser unbeständigen Vorwelt in eine geordnete Welt. In dieser Welt hat der Mensch nicht nur Bewusstsein von sich selbst, sondern damit auch eine bestimmte Identität in Bezug auf die Welt, wie auch einen bestimmten Handlungsplan für die Sicherstellung der Selbsterhaltung. Das Weltbild, das sich aus der Entstehung des Geistes ergeben hat, bildet ein Werk der menschlichen Existenz selbst, obwohl sich diese auf das Material der Vorwelt gestützt hat. Der Geist entsteht nicht in Kontrast zum Trieb der Selbsterhaltung, sondern gerade als sein Resultat und zu seinem Dienst.
Im Weltbild wird die Welt anders als vor der Entstehung des Geistes vorgestellt. Jetzt wird die Welt in einer Ordnung dargestellt, die der menschlichen Existenz Orientierung anbietet. Während die Existenz früher mit einer Flut von Gegebenheiten konfrontiert war, die sie nicht einordnen konnte, bekommt die Welt jetzt menschliche Maße: Die vielen und unverständlichen Gegebenheiten werden wenige und verständlich, die gleichartigen und homogenen werden auseinander gehalten und eingeteilt in über- und untergeordnete, interessante und uninteressante. Die Probleme der Existenz, die früher chaotisch und dunkel waren, werden jetzt mehr oder weniger klar und lösbar.
Die Hauptsorge von Kondylis ist es, sich nicht auf eine metaphysische Auffassung über die Objektivität festzulegen. Darum nennt er die Welt objektiv, so wie sie von allen möglichen Perspektiven der verschiedenen möglichen Subjekte dargestellt werden könnte. Folglich bildet die Vorwelt des jeweiligen Subjekts einfach einen Teil des Objektiven, soweit es sich nur um eine Perspektive unter mehreren verschiedenen möglichen handelt.
In dem Weltbild wird die Welt noch mehr eingeschränkt, da es nur die Elemente beinhaltet, die lebenswichtig für das Subjekt und entscheidend für seinen Selbsterhaltungskampf sind. So behauptet Kondylis, dass die Entstehung des Weltbildes eine Handlung von Unterscheidung und einen Akt von Unterscheidung und Sonderung, von Absonderung und Abscheidung bildet, durch welche die objektive Welt unter dem Begriff, den wir ihr vorher gegeben haben, in der Weise eingeschränkt wird, dass sie mit den Bedürfnissen des Subjekts übereinstimmt. Entsprechend seiner Formulierung handelt es sich um eine ›Vergewaltigung‹ des objektiv Daseienden. (Macht und Entscheidung, S. 25, 34, 100, 103 [15, 20, 56, 58])
Diese subjektive und willkürliche Handlung der Einschränkung der objektiven Welt, durch welche die vielen Dinge wenige und die gleichartigen hierarchisch geordnet werden und ein Weltbild entstehen lassen, »das imstande ist, die zur Selbsterhaltung nötige Orientierungsfähigkeit zu garantieren« (Macht und Entscheidung, S. 23 [14]), nennt Kondylis ›Entscheidung‹. Es ist die Entscheidung, die der Geist trifft.
Dem Begriff der Entscheidung kann man nicht seine gängige Bedeutung geben. (Siehe z.B. Macht und Entscheidung, S. 35 [20]: »Es ist also nötig, die einzelnen oder Teilentscheidungen, die das Subjekt beim Umgang mit den Objekten seiner Welt trifft, von jener ursprünglichen und maßgeblichen Grundentscheidung abzuheben die diese Welt, und zwar als Orientierungsrahmen beim Treffen solch einzelner Entscheidungen ins Leben gerufen hat«.) Das ist in erster Linie daraus ersichtlich, dass die Entscheidung gar nicht bewusst ist. In Wirklichkeit entsteht durch die Entscheidung nicht nur das Weltbild, sondern auch die Identität des Subjekts. Die Identität, die durch die Entscheidung entstanden ist, obwohl sie zum gleichen natürlichen Subjekt gehört, das vor der Entscheidung auch existierte, ist ganz verschieden von der bloßen menschlichen Natur, schon dadurch, dass allein sie mit Geist versehen ist. Obwohl die Entscheidung ein Werk der menschlichen Existenz ist, und zwar ihr wichtigstes, geschieht sie trotz alledem ohne Bewusstsein oder Zustimmung des Subjektes, wie es sich selbst in der Identität versteht, die nach der Entscheidung gebildet wurde. (Macht und Entscheidung, S. 57 [32]: »So ist die Entscheidung als Ganzes nicht die bloße, an sich selbständige geistige oder seelische Vorbereitung der Praxis, sondern die Praxis selbst in einem umfangreichen Sinne«.)
Dass die Entscheidung nicht in ihrer gängigen Bedeutung begriffen werden kann, erhellt sich aus den Subjekten, die eine Entscheidung treffen können. Außer dem bestimmten Individuum können auch Gruppen, aber auch das menschliche Geschlecht im Ganzen Entscheidungen treffen. (Macht und Entscheidung, S. 72- 80 [40- 45].) Für Kondylis muss die Tatsache, dass die Menschen die gleichen Farben sehen, die gleichen Töne wahrnehmen und die gleichen Gerüche erkennen, als Entscheidungsprodukt betrachtet werden. Auf der Ebene der Gruppe müssen die Religionen, die Mythen, die Staatsgesetze auch als Entscheidungen betrachtet werden, obwohl möglicherweise niemand sie als solche getroffen hat, sondern sie langsam und allmählich nach dauernden Transformationen und Revisionen gebildet wurden.
Aus welchem Grund also verwendet Kondylis diesen Terminus? Wenn wir uns überlegen, was wir gewöhnlich mit ›Entscheidung‹ meinen, werden wir, glaube ich, zu folgendem Resultat kommen: Bei einer alternativen Wahl, besonders, wenn diese wichtig, persönlich und tief ist, findet sich das Subjekt mit Wahlmöglichkeiten konfrontiert, die auf den ersten Blick mehr oder weniger gleichwertig erscheinen. Denn andernfalls hätte man überhaupt nicht die Frage der Entscheidung, sondern hätte sofort das Vorteilhafteste vorgezogen. Nehmen wir also an, es handele sich um gleichwertige Alternativen. Da sie gleichwertig sind, gibt es keine Gründe, die das Subjekt zwingen würden, eine von diesen vorzuziehen. Folglich kann sich das Subjekt auf nichts stützen als auf seinen eigenen Willen oder auf seine Willkür.
Durch die Entscheidung werden die früher gleichwertigen Dinge hierarchisiert und das Subjekt bindet sich jetzt fest an seine Wahl, die es als seine eigene betrachtet. Die Tatsache, dass es sich für das eine entschied, gibt diesem einen höheren Wert, während es gleichzeitig die übrigen Alternativen herabsetzt. Jetzt wird das, was früher gleichwertig war, überlegen, und das, was früher mehr oder weniger fremd war, wird jetzt vertraut und persönlich. Selbst die Handlung der Wahl ist eine der Ausschließung und gleichzeitig der Hierarchisierung, ganz subjektiv.
Kondylis selbst erklärt, dass die Entscheidung in der Bedeutung, in der er sie verwendet, von allen alternativen Wahlen unterschieden werden muss. (Macht und Entscheidung, S.40 [23]: »Wenn das Subjekt weltanschauliche Entscheidung und Wahl zwischen Alternativen verwechselt, dann erliegt es einer optischer Täuschung«. Über die Unterscheidung der fundamentalen Entscheidung und der speziellen, vereinzelten Entscheidungen s. S. 47-49 [27-28].) Der wichtigste Grund ist, dass Wahlen solcher Art nur in einem schon fertig gestalteten Weltbild stattfinden. Im Gegensatz dazu erzeugt die Entscheidung in der kondylischen Bedeutung das Weltbild, das aus den elementaren Kräften der bloßen Existenz entspringt. Trotz alledem können wir aus dem oben erwähnten Beispiel folgendes entnehmen: a) den Begriff der Reduzierung der vielen Dinge auf wenige, b) die Hierarchisierung der früher gleichwertigen, c) die existenzielle Anbindung an das Resultat, und vor allem d) den tief subjektiven, spontanen und auf sich selbst gegründeten Charakter dieser Handlung.
Der Nachdruck auf den willkürlichen und spontanen Charakter (Macht und Entscheidung, z.B. S. 67, 91, 97, 112, 124, 169 [38, 51, 54, 62-63, 69, 94]) der Entscheidung und der Entstehung des Geistes könnte den Eindruck erwecken, die Entscheidung sei ein Erzeugnis der Freiheit in der traditionellen Bedeutung des Wortes, wie sie z.B. bei Kant oder Fichte vorkommt. (Die Entscheidung wird letzten Endes auf »die tieferen Bedürfnisse« (S. 41 [23]) oder, wie er in den Schlussbemerkungen des Buches notiert (S. 230 [128]) »auf den Geschmack« des Subjektes zurückgeführt: »[Ηier bedeutet] ›Geschmack‹ nicht unberechenbare Einfälle, sondern die tieferen Neigungen und Erwartungen der Existenz [...] und, so verstanden, [ist er] entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch eine sehr ernste Angelegenheit [...]«. Der ›Geschmack‹ bildet jetzt nicht das Ergebnis der Freiheit, sondern der Natur, der Not und des Schicksals. Der Mensch entscheidet nach seinem Geschmack, aber über den Geschmack entscheidet er nicht.) In der Realität aber geschieht das Gegenteil. Tatsächlich besteht Kondylis auf dem willkürlichen, zufälligen und in vielem unvorhersehbaren Charakter der Entscheidung, und er wendet sich gegen die marxistische Auffassung über objektive und vorgegebene Weltbetrachtung der Klassen. (Macht und Entscheidung, S. 230 [128]: »Der Inhalt der Entscheidung, der das Sollen [meine Hervorh.] näher definiert und dem Subjekt ein Verhalten vorschreibt, bleibt somit bei aller Wirkung der sozialen Abwehrmechanismen dem Geschmack dieses selben Subjekts überlassen«.) Kondylis betont in der Tat den existentiellen bzw. akzidentiellen Charakter der Entscheidung, ihre Abhängigkeit von vorübergehenden und veränderlichen Faktoren. Dennoch unterliegt die ganze Entscheidung der Notwendigkeit, aus der sie als ihr Ergebnis hervorgegangen ist. (Oder der ›Not‹, wie er es nennt. Bezüglich der Not Macht und Entscheidung, S. 60-61 [34].)
Weil die bloße Existenz endlich ist, muss sie ihre Selbsterhaltung sichern und folglich dauernd Hindernisse überwinden und Gefahren entgegentreten. Dieses Fürchterliche und Gefährliche ist der Feind, der die Existenz negativ bestimmt. Da er bedrohlich ist, muss die Existenz ihn besiegen. Der Feind muss im Weltbild als das erscheinen, was nicht existieren darf, also als das Böse. Die Existenz hat Feinde, weil sie endlich ist, weil sie bedroht werden kann. Aber weil sie bedroht werden kann, muss sie auch Feinde haben. (Man hat oft über die Emphase diskutiert, die Kondylis dem Begriff des Feindes und der Feindschaft gibt. Mit dem Erwähnten hoffe ich, es sei bewiesen, dass für Kondylis die Feindschaft nicht so sehr wie eine anthropologische Feststellung über die ›Natur‹ des Menschen betrachtet werden darf. Vielmehr muss sie wie ein Anhängsel der menschlichen Endlichkeit gesehen werden. Weil der Mensch zwangsläufig endlich ist, darum wird er auch bedroht. Der Feind ist die Person der Bedrohung: »Feind ist kurzum alles, was Angst einflößt, wovon Gefahr ausgeht« (S. 62 [35]). Der Feind bildet die historische Bestimmung, das ›Schicksal‹ der Entscheidung, weil die Entscheidung als Antwort auf die Gefährdung der Existenz entstanden ist. Das ist wiederum der Inhalt des Satzes, dass die Entscheidung das Ergebnis des conatus der Selbsterhaltung des begrenzten Wesens ist: das endliche Wesen muss kämpfen, um sich selbst zu erhalten.) Der Feind fasst den Notzustand zusammen, der die konkrete Entscheidung hervorgebracht hat. Deswegen zögert Kondylis nicht, den Feind ›Schicksal‹ der Entscheidung zu nennen. (Macht und Entscheidung, S. 63. [36])
Der Feind bildet einen Bestandteil der Entscheidung, soweit er, wie wir gesehen haben, das vertritt, was nicht existieren sollte und dem das Subjekt sich entgegenstellen muss. Kondylis wiederholt ein Motiv von Hegel und behauptet, dass die Identität des Subjekts ohne die Anwesenheit des Anderen in der Gestalt des Feindes (siehe die Analyse der Dialektik zwischen Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes) nicht konstituiert werden kann. So stark ist der Feind in das Weltbild und mit der Identität des Subjekts verflochten, dass der Sieg über ihn, seine Überwindung, noch wichtiger erscheinen kann als die Sicherstellung der physischen Existenz. Das erklärt bei Kondylis, außer der Freundschaft, Phänomene wie Selbstopfer, und allgemein alles, was als ›selbstloses‹ oder ›opferbereites‹ Verhalten erscheint.
Andererseits muss das Weltbild so herausgebildet sein, dass die Existenz des Subjektes als Wert und als Wahrheit in ihm enthalten ist. Wir haben schon gesehen, dass die Entscheidung aus dem Trieb der Selbsterhaltung hervorgegangen ist. Dieser Trieb, verwandelt in Sollen, ist im Weltbild enthalten als das, was existieren muss, als Gutes. Das Weltbild also ernennt den tiefsten Wunsch und die Sehnsucht der Existenz zum obersten und normativen Prinzip, d.h. ihre subjektiv notwendige, aber objektiv unmögliche Verewigung.
Die wichtigste Funktion der Entscheidung ist es, Werte und Wahrheiten im Dienst der Selbsterhaltung zu erzeugen. Die Entscheidung erzeugt Werte, indem sie die tiefsten Bedürfnisse und Neigungen der Existenz als Sollen interpretiert. Sie erzeugt Wahrheiten, indem sie das Weltbild, das durch die gewaltsame Einschränkung und Hierarchisierung der Welt entstanden ist, zur einzigen Realität erklärt. (Macht und Entscheidung z.B. [S.62]: »Der Dezisionismus erreicht somit seinen Höhenpunkt: er gibt seinen inhaltlichen Thesen als einzig objektive und verbindliche Wahrheit aus und fühlt sich damit imstande, jeden Dezisionismus unter Berufung auf diese Wahrheit schärfstens zu verurteilen«, siehe auch S. 154-156 [86-87].) Schon die Wiedergabe des Prädikats der Existenz bildet eine einfache Funktion des Subjekts, das in der Lage ist, die Realität in Diesseits und Jenseits einzuteilen (Macht und Entscheidung, S. 109-113 [61-63]), in Sein und Schein, und sein praktisches und theoretisches Verhalten entsprechend zu regeln. Die Realität im Weltbild des Feindes wird als Schein herabgesetzt (Macht und Entscheidung, S. 114-118 [64-66]), während der völlige Sieg über den Feind durch ein dauernd aufgeschobenes und ständig bevorstehendes Jenseits gesichert wird.
Die Ausrufung des Weltbildes, das eines unter vielen ist, zu einer einzigen objektiven Welt, und die Benennung der subjektiven Werte, die gegen die verschiedenen Werte der anderen Subjekte kämpfen, zu objektivem überindividuellem Sollen, bilden die fundamentale Funktion der Entscheidung. (Über die objektivierende Funktion der Entscheidung s. das 2. Kap. in Macht und Entscheidung S. 85-142 [48-80] passim.) Wenn es darum geht, dass die Existenz sich erfolgreich in der Welt orientiert, muss sie sich auf diese Dinge konzentrieren, die für sie wichtig sind, und die unwichtigen zurückweisen. Parallel muss sie sich verweigern, die Wahrheiten und die Werte der Feinde anzuerkennen, damit sie diese besiegen kann.
Wir haben gemerkt, Kondylis lässt sich nicht auf eine metaphysische Auffassung über Objektivität ein. Er geht einfach von dem Gedanken aus, dass es viele Entscheidungen gibt und entsprechend viele gegensätzliche Weltbilder, viele gegensätzliche Werte. (Macht und Entscheidung z.B. S. 69 [39]: »Der deskriptive Dezisionismus geht im Gegenteil von der elementaren, durch nichts wegzuinterpretierenden Tatsache der historisch überlieferten Vielfalt aus, erblickt ihre Ursache im Entscheidungs- bzw. Absonderungsakt oder –vorgang und sucht denselben unter Hinweis auf die notwendige Verwandlung des Selbsterhaltungsbestrebens in Machtanspruch begreiflich zu machen«.) Die jeweilige Entscheidung muss diese Vielgestaltigkeit der anfänglich gleichwertigen, verschiedenen Weltbilder einschränken und ihrem eigenen Weltbild Überlegenheit und Objektivität verleihen. Diese Verwandlung des Subjektiven und Willkürlichen in Objektives und Notwendiges scheint in Kants Dialektik ihre Wurzel zu haben. (Siehe die Analyse des transzendentalen Scheins in der Einleitung in die transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, A 293/ B 349/ A 309/ B 366.)
Die objektivierende Funktion der Entscheidung lässt sich klarer zeigen auf dem Kampfplatz um soziale Macht. Das Thema ist nicht nur, dass der Herrscher, wenn er versucht, seine Macht zu sichern, behaupten muss, er sehe nicht auf seinen persönlichen Vorteil, sondern er diene einem gemeinsamen objektiven Gut. (Macht und Entscheidung, S. 100 [56]: »Der Herrscher muss theoretisch dienen, um praktisch herrschen zu können«.) Das Thema ist eben, wer der Herrscher sei. Kondylis' Antwort ist klar: »Herrscher ist, wer angeblich objektive Instanzen verbindlich zu interpretieren vermag«. (Macht und Entscheidung, S. 124. [69])
Auf der Basis des oben Gesagten können wir die enge Verwobenheit der Entscheidung mit der Interpretation sehen. (Über die Verbindung von Interpretation und Entscheidung siehe Macht und Entscheidung, S. 55,124,126,129 [31,69,70,72].) Was der Herrscher bei seiner Interpretation macht, ist, die möglichen Bedeutungen eines notwendigerweise unbestimmten, normativen Prinzips zu reduzieren, die Begriffe in untergeordnete und übergeordnete, in echte und falsche einzuteilen und seine eigene Interpretation zur objektiven Regel zu ernennen. Er macht also auf kollektiver Ebene das verbindlich, was jede Entscheidung in jedem Fall macht: Einschränkung, Hierarchisierung und Objektivierung.
Die endgültige Funktion der Entscheidung ist es, ihre Natur zu verheimlichen. Damit die Entscheidung bei ihren Funktionen Erfolg hat, muss sie verheimlichen, dass es um eine subjektive und willkürliche Handlung der Gewalt an der Welt geht, aus welcher Weltbilder und Werte hervorgehen, eine Handlung also, durch welche die Selbsterhaltung zum Sollen erhoben wird und das Leben einen Sinn erhält. (Siehe z.B. S. 91 [51]:»[...] die Entscheidung [weist] jeden Verdacht energisch von sich [...] sie wäre Ausgeburt subjektiver Willkür [...].« Auch 103 [S.58]: »Hauptanliegen der objektivierten Entscheidung, d.h. des in ihrem Namen auftretenden Subjekts, ist die Verdeckung ihres Entscheidungscharakters, nämlich der Tatsache, dass sie so oder so Vergewaltigung des objektiv Daseienden aus der Perspektive einer bestimmten Existenz darstellt«. S. 116-117 [65]: »Indem sich die Entscheidung objektiviert, zielt sie also letztlich darauf ab, die konkrete Abhängigkeit ihres Inhalts von der spezifischen Beschaffenheit und den besonderen Schicksalen ihres Subjekts nach Möglichkeit zu vertuschen, um eben durch die Verdeckung oder Verleugnung der unwiederholbaren Eigenart ihrer existenziellen und geschichtlichen Wurzeln Allgemeinheit, Wahrheit und Verbindlichkeit für sich zu beanspruchen«.)
Die Entscheidung muss ihre Ergebnisse auf solche Weise darstellen, dass angenommen werden kann, sie seien von einer objektiven Weltordnung ausgegangen, mit welcher die Existenz harmoniert. Sie muss annehmen, dass die Welt und das Leben per se einen Sinn und einen Wert haben. Sie ist, anders gesagt, gezwungen, die Tatsache zu verheimlichen, dass sowohl der Sinn wie auch der Wert willkürliche Erzeugnisse einer Entscheidung bilden und die Welt ohne eine Entscheidung keinen Wert hat.
Der deskriptive Dezisionismus von Kondylis enthüllt diese verschiedenen Funktionen der Entscheidung. Wenn das oben Gesagte klar ist, muss man zu folgendem Resultat kommen: die Entscheidung ist der sich selbst verheimlichende, subjektive und willkürliche, jedoch objektivierende und objektivierte Akt oder Vorgang. Durch diese wird Geist erzeugt, auf ihrer Seite wird die ganze Existenz engagiert und durch sie werden die vielen Dinge zu wenigen oder zu einem eingeschränkt, die gleichwertigen hierarchisiert zu übergeordneten und untergeordneten, zu guten und zu bösen, zu wahren und zu falschen. Und all das wird gegen einen Feind gerichtet, der die Existenz bedroht. Das Sollen, die Wahrheit und die Objektivität bilden einfach Funktionen der Entscheidung im Dienst der Selbsterhaltung. (Siehe z.B. S. 214 [119] : »Ideen und Werte [sind] Funktionen, ja Funktionsweisen der um Selbsterhaltung und Machterweiterung kämpfenden sozialen Existenz [...]«.) Die Welt allein ohne die Entscheidung hat keinen Sinn und keinen Wert. (S. 135 [75]: »es gibt keine Werte und es kämpfen auch keine Werte gegeneinander, sondern es gibt nur konkrete Existenzen, die auf dem Umwege der Aufstellung und Interpretation von Werten bestimmte Beziehungen zueinander umzuwerfen oder zu festigen suchen«. Siehe [S. 117]: »Eine konsequente wertfreie Betrachtung wird erst möglich, wenn man die These, Welt und Mensch seien an sich sinn- und wertlos, in allen ihren logischen Implikationen ernst nimmt«.)
Die vorgelegte Darstellung hatte nicht zum Ziel, die Lektüre von Macht und Entscheidung zu ersetzen, sondern bei dieser zu helfen. Denn dieses Werk muss nicht nur wegen seiner theoretischen Kraft und Klarheit gelesen werden, sondern auch wegen seiner einzigartigen Schönheit.