Thomas Körner



Grenzschließung

war das land
getroffen vom schlag

die symptome
variierten stark

entzog man sauerstoff
bodden buchten haff

durchblutete mangelhaft
seengebiete

schwollen flüsse
wie krampfadern an

der harz etwa
war er halbseitig gelähmt

die säsische schweiz
schwindlig verwirrt

fielen im thürnger wald
sinneseindrücke aus

vergeblich nur
die mechanische rekanalisation
des spreewalds


was widerfuhr 
den bewohnern des landes

keine wortfindungssstörung
keine bewußtseinstrübung

nicht gangbehindert
nicht ungleichgewichtig

ohne doppelbilder

ihrer zukünftigen
wahrnehmung
fehlte lediglich
– gesichtsfeldausfall –
der größere teil der welt


2

reiseland

nun ersetzt uns
der staat die welt
ganz

und ich mache mich
auf den weg
um die welt

keine route markierend
unbestimmt schweifend
per anhalter

entdecke ich räume
unvermutet
wundersam

und sitze fest
zu nah der grenze

fluchtverdächtig
in arrest

beschlagnahmt
mein gepäck

versperrt die tür
zum gasthofzimmer

der schlüßel steckt
von außen

seit jeher unbehaust
nach hause nie
will ich

wozu ist hier
meines erzwungenen
bleibens

welch verwaistes
vaterland nötigt mich
diesmal

den finger zu tauchen
ins taufbecken heimat
an staates statt


3

reservation

endlich allein ungestört
befestigt das außen
unbelästigt innen

fauna und flora
bringt räumliche abgrenzung
eigenständig hervor

deutlich kleiner enger
isolation bewirkt armut
der art verzwergung

garantiert keine fressfeinde
anerkannt sicheres eiland
niemand verläßt die insel


4

rundgang

wir laufen im kreis
statt der sonn’ entgegen

die erde ist eine scheibe
endlos flach

wir wissen es besser
unser weltbild nicht

also bleiben wir
die wir sind

hineinversetzte

niemand ist eine insel


5

paradies

brache

himmelwärts
verklärt


6

versteck

glaubt nicht
mich zu finden
so leicht ist das nicht

hoch sanddorn und ginster
dank timm und dubberstein

die alte fricken
hat mich versteckt
unterm postsack
hinterm wasserkessel

da wo sie den fischern
das zeug wäscht

da wo richard
die aale räuchert

am liebsten allein
auf trächtiger wiese
meine sense kennt sie

weit schwimm ich hinaus
im mondlichen wasser
o mitnächtige see

ich halte mich
in meiner freiheit versteckt
ihr findet mich nie


7

der unheilbare

ihn lehrte der gott
die kunst des heilens

so heilte er
mensch um mensch genas

eigene schonung
untersagte sein eid

verbotene genesung
sühnte der tod

der tauschte schlangenstab
gegen leier

so sang
apollon zur feier

ins leben zurück
der unheilbare

stiftete schönheit
des ideals verheißung

als dichter erst
ein gottgeweihter


8

teufelskreis

als mir
die wirtschaftliche lebensgrundlage
als schriftsteller entzogen worden war

beschloss ich
für längere zeit
das leben eines arbeiters
zu führen

die anspannung
aller meiner geistigen
und körperlichen kräfte

war mit dem hohen anspruch
an mich selbst verbunden

dem wechselnden
künstlerisch-ästhetischen
bedürfnis der werktätigen
entgegen zu kommen

ich stand meinen mann
im zentrum der produktion
und schätzte die arbeit
als obersten wert

 *

gleich nach der arbeit 
ging es zur kultur

der zirkel schreibender arbeiter
beschloß
daß ein in die fabrik
delegierter autor
über mich die patenschaft
übernahm

leider erlangte ich
keine wichtigen impulse
für mein künstliches
volksschaffen

weitere einflüsse
vertieften die kluft
zwischen kunst und leben

 *

auf geheiß der werksleitung
wurde ich ersucht
den betrieb zu verlassen

nachdem mir
die wirtschaftliche lebensgrundlage
als arbeiter entzogen worden war

beschloss ich
die nächste zeit
das leben eines schriftstellers
zu führen


9

verzicht

er war
der dichter

nicht ihr


ihr ward
das volk

nicht er


WIR
war
nie

 *

nicht kennend
seine wirkung auf euch

es ablehnend
euch zu unterhalten

bemüht vielmehr
euch schweigen zu machen

wies er jedwede
bewunderung von sich

 *

er war
nicht

er wird
nicht sein

er entbehrt
es nicht


Unterschüpf 2023

 

 

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