Immo Sennewald: Abend

 
Kein Zeug­nis kann es mit den Tex­ten selbst auf­neh­men. Was man über einen Dich­ter sagt, ist ent­stellt [...]. Die ge­lehr­te Plage ist un­ver­meid­lich. Sie gei­ßelt die Poe­sie, die den­noch ihren Weg geht, un­an­ge­tas­tet.
L.​Cardoza y Ara­gon

Yvan Goll (YG), der deutsch- und fran­zö­sisch­spra­chi­ge Dich­ter, nach Pin­thus »durch Schick­sal Jude, durch Zu­fall in Frank­reich ge­bo­ren, durch ein Stem­pel­pa­pier als Deut­scher be­zeich­net«, ist so­wohl in Frank­reich wie auch in Deutsch­land wenig wahr­ge­nom­men wor­den, und wenn, dann meist ein­sei­tig. Die Haupt­grün­de lie­gen in einem im Sinne des Wor­tes schwer zu­gäng­li­chen Werk mit Sprach- und Edi­ti­ons­pro­ble­men. Erst in letz­ter Zeit, nach Vor­lie­gen der Nach­läs­se des Dich­ters sowie von Clai­re Goll (CG) zeich­net sich eine neue Be­schäf­ti­gung mit den Wer­ken und theo­re­ti­schen Re­fle­xio­nen die­ses wich­ti­gen Autor der eu­ro­päi­schen Avant­gar­de ab. Bis heute, sech­zig Jahre nach sei­nem Tod, fehlt eine text­kri­ti­sche Ge­samt­aus­ga­be, die für wei­te­re Stu­di­en un­ab­ding­bar er­scheint.

Die in bei­den Län­dern nicht ge­nü­gen­de und vor allem nicht ad­äqua­te Wahr­neh­mung eines im Fran­zö­si­schen wie im Deut­schen gleich be­hei­ma­te­ten Dich­ters spie­gelt sich auch in des­sen Prä­senz (oder bes­ser Nicht-Prä­senz) in Sam­mel­wer­ken wider. Um nur we­ni­ge Bei­spie­le aus dem deut­schen Sprach­raum zu nen­nen: In der Lyrik des Abend­lan­des ist Goll gar nicht ver­tre­ten, ob­schon im Nach­wort (Ho­hoff) als aus­drück­li­ches An­lie­gen der Samm­lung »das Ne­ben­ein­an­der, Über­kreu­zen und Über­ho­len des ge­mein­a­bend­län­di­schen Sin­nes­spie­gels« ge­nannt wird; eben­so fehlt er im Mu­se­um der mo­der­nen Poe­sie, in Deut­sche Lyrik. Ge­dich­te seit 1945 (Bin­gel 1978) und in den Ex­pe­di­tio­nen deut­scher Lyrik 1945 (Wey­rauch 1959). Das sur­rea­lis­ti­sche Ge­dicht (Be­cker et al 1986) er­wähnt nicht ein­mal sei­nen Namen. Auf der an­de­ren Seite ver­fah­ren An­tho­lo­gi­en wie Deut­sche Ge­dich­te (Bode 1984) und Deut­sche Lyrik vom Ba­rock bis zur Ge­gen­wart (Hay et al.1986) se­lek­tiv, indem sie nur frühe Ge­dich­te auf­neh­men. Le­dig­lich im Band Das große deut­sche Ge­dicht­buch (Con­ra­dy 1972) wird der Ver­such einer re­prä­sen­ta­ti­ven Aus­wahl vor­ge­nom­men.

Nicht nur in Ge­dicht­samm­lun­gen sucht man Goll oft ver­geb­lich. Zur Ge­schich­te der deut­schen Lyrik seit 1945 ge­hört er of­fen­sicht­lich nicht, glaubt man dem 1989 er­schie­ne­nen Band. Im Le­xi­kon des Sur­rea­lis­mus fin­det man sei­nen Namen weder unter »Goll« noch unter »Sur­rea­lis­ti­sche Zeit­schrif­ten«, nicht ein­mal unter »Ma­ni­fes­te des Sur­rea­lis­mus«. Selbst dort aber, wo es zu einer Er­wäh­nung kommt, ge­schieht dies auf eine Weise, die der Be­deu­tung die­ses Dich­ters nicht ge­recht wird. So liest man bei Schnee­de: »Eine klei­ne Grup­pe um den Dich­ter Yvan Goll er­hebt – unter Be­ru­fung auf Apol­li­n­ai­re – eben­falls An­spruch auf den Be­griff Sur­rea­lis­mus. Goll bringt Ende Ok­to­ber [1924, Anm. d. Verf.] eine Zeit­schrift ›Sur­rea­lis­me‹ her­aus, die je­doch eine Ein­tags­flie­ge bleibt.« Dar­über hin­aus ist Goll nicht er­wähnt in einem Buch von 257 Sei­ten, wel­ches durch sei­nen Titel zu ver­ste­hen gibt, dass es den ge­sam­ten Sur­rea­lis­mus er­fas­sen will. Auch in einem Auf­satz mit dem Titel Der Sur­rea­lis­mus und die spä­ten Pa­ri­ser Ismen fin­det sich YG nicht.

Für die be­schrie­be­ne Wahr­neh­mungs­ein­schrän­kung gibt es viel­schich­ti­ge Grün­de, da beim Werk YGs tat­säch­lich be­son­de­re Pro­ble­me zu kon­sta­tie­ren sind:

Pro­ble­me der Les­bar­keit

Da Zwei­spra­chig­keit nur bei einer Min­der­heit der Leser vor­liegt und Über­set­zun­gen oft erst Jahre nach dem Er­schei­nen in der je­wei­li­gen Ori­gi­nal­spra­che vor­ge­nom­men wur­den, war das Werk für einen brei­ten Le­ser­kreis nicht ver­füg­bar. Eine Par­al­le­le im fran­zö­si­schen Sprach­raum ist der an­de­re El­säs­ser, René Schi­cke­le, des­sen Werk bis heute nicht ins Fran­zö­si­sche über­setzt ist. Hier liegt auch eine der Ur­sa­chen dafür – Goll schrieb bis etwa 1925 seine Ge­dich­te in deut­scher Spra­che –, dass er meist als deut­scher »Ex­pres­sio­nist« und fran­zö­si­scher »Sur­rea­list« wahr­ge­nom­men wurde. Bei­des ist pro­ble­ma­tisch, letz­te­res aber be­son­ders da­durch, dass die ihn so Ein­ord­nen­den meist von einem an­de­ren Sur­rea­lis­mus­be­griff aus­ge­hen, dem öf­fent­lich­keits­wirk­sa­men Sur­rea­lis­mus der Grup­pe Bre­tons, wäh­rend YG selbst immer wie­der zeig­te, dass er unter die­sem Be­griff etwas an­de­res ver­stand.

Pro­ble­me der Ver­füg­bar­keit

Die­ses Pro­blem stellt sich dop­pelt dar: ein­mal in Bezug auf die Ver­füg­bar­keit der Texte an sich, dann in Bezug auf au­to­ri­sier­te Texte. Erst seit dem Tode von CG 1977 gibt es Zu­gang zu den Nach­läs­sen bei­der Dich­ter, die sich nach dem Wil­len von Golls Witwe in St. Dié und Mar­bach be­fin­den, wobei es sich letzt­lich aber auch hier wie­der nur um einen Teil des Nach­las­ses han­delt; denn ob­wohl die­ser »eu­ro­päi­sche« Teil si­cher der grö­ß­te ist, darf doch nicht ver­ges­sen wer­den, dass auch aus der Zeit im ame­ri­ka­ni­schen Exil ein sol­cher exis­tie­ren muss, über den es aber noch gar keine sys­te­ma­ti­sche Un­ter­su­chung gibt; vor allem über die Ge­schich­te der in eng­li­scher Spra­che ver­fass­ten Ge­dich­te liegt kaum etwas vor. Bei allen frü­he­ren Aus­ga­ben ist fer­ner die Frage der Au­then­ti­zi­tät nach wie vor offen. In den Nach­läs­sen fin­den sich mehr­fach ver­än­der­te hand­schrift­li­che Ver­sio­nen der glei­chen Texte so­wohl von CG wie auch von YG, Ty­po­skrip­te ohne Da­tie­rung und Sei­ten­zahl. Nur eine text­kri­ti­sche Ge­samt­aus­ga­be könn­te hier Klar­heit schaf­fen. Wis­sen­schaft­li­che Be­schäf­ti­gung war aber von An­fang an schwie­rig schon wegen des Feh­lens einer kom­plet­ten und ver­läss­li­chen Bi­blio­gra­phie. Erst 2003 wurde eine sol­che, nach dem Stand die­ses Jah­res voll­stän­di­ge, von Kra­mer/Vil­lain vor­ge­legt. Die Her­aus­ge­ber be­schrei­ben im Vor­wort die er­heb­li­chen Schwie­rig­kei­ten bei den Re­cher­chen aus­führ­lich, ins­be­son­de­re wird aus­ge­führt, wie kom­pli­ziert schon die Per­so­nal­bi­blio­gra­phie war, da YG viele ver­schie­de­ne Pseud­ony­me be­nutz­te, z.B. Iwan La­zang, Iwan Lassang, Tris­tan Torsi, Jo­han­nes Thor, Tris­tan Thor, Jean Lon­ge­vil­le, Jean de Saint. Dazu kommt, dass er sein Werk stän­dig ver­än­der­te. »He re­or­ga­ni­zed, re­w­ro­te, an­tho­lo­gi­zed and re­pu­blis­hed the same and dif­fe­rent ver­si­ons of poe­try«. ( Kra­mer/Vil­lain) Ein wei­te­rer Punkt ist das Pu­bli­zie­ren in ver­schie­de­nen Län­dern, nicht nur in Deutsch­land, Frank­reich und USA, son­dern auch in Süd­ame­ri­ka, Afri­ka und Asien, wobei die Ver­öf­fent­li­chun­gen oft in lo­ka­len Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten statt­fan­den. Dar­über hin­aus ist ein Teil des Werks ver­lo­ren. Das Hand­schrif­ten­ar­chiv des DLA Mar­bach in­for­miert seine Be­su­cher da­hin­ge­hend, dass die­ser Teil wohl end­gül­tig zer­stört ist. CG spricht von Plün­de­rung der Woh­nung in Paris, wobei Brie­fe und Ma­nu­skrip­te ge­stoh­len wor­den seien. Al­ler­dings ist die end­gül­ti­ge Un­ter­su­chung z.B. von Fun­den in einem Ar­chiv in Mos­kau wohl auch heute noch nicht ab­ge­schlos­sen. (Glau­ert 2002)

Pro­ble­me der Text­ver­fäl­schung

Die­ses Pro­blem ist be­son­ders viel­schich­tig, hat es doch nach­weis­lich ge­mein­sa­me Dich­tun­gen von CG und YG ge­ge­ben, auch haben beide Au­to­ren ge­gen­sei­tig ihre Texte kor­ri­giert und über­setzt. Bei Kor­rek­tu­ren nach YGs Tod muss aber von ei­gen­mäch­ti­gem Han­deln Clai­res aus­ge­gan­gen wer­den, womit die ent­spre­chen­den Texte wie­der­um nicht als au­to­ri­siert gel­ten kön­nen. CG hat nicht nur Daten ge­än­dert und Aus­wah­len in ihrem Sinne vor­ge­nom­men, son­dern sogar Ge­dich­te um­ge­schrie­ben, so dass oft nicht zu ent­schei­den ist, wel­cher der Ori­gi­nal­text von YG ist und wann er ge­schrie­ben wurde. Ein gut do­ku­men­tier­tes Bei­spiel fin­det sich in der Aus­ga­be Ge­dich­te des Ma­gi­ca-Ver­lags 1968, wo die grund­sätz­li­che Ver­än­de­rung des Ge­dichts Kreu­zi­gung durch Ein­fü­gen per­sön­li­cher Ele­men­te (»Ge­lieb­te«) nach­ge­zeich­net wird. CG war au­ßer­dem »äu­ßerst gro­ßzü­gig bei der Ab­fas­sung von Ge­dicht­ti­teln, wäh­rend YG nur etwa ein Drit­tel sei­ner Ge­dich­te mit Ti­teln ver­sah«, wie Glau­ert schreibt. Dazu kommt das Pro­blem, dass er auch gleich­zei­tig auf Fran­zö­sisch und Deutsch Ge­dich­te schrieb, die dann von ihm selbst oder von CG über­setzt wur­den. So ist oft schwie­rig fest­zu­stel­len, wel­ches das Ori­gi­nal und wel­ches die Über­set­zung ist und vom wem sie stammt, »bi­blio­graph­ers’ and edi­tors’ night­ma­re«. (Kra­mer-Vilain) Als wei­te­re Schwie­rig­keit ist zu nen­nen, dass sich YGs an sich gut les­ba­re Hand­schrift ab etwa 1945 grund­le­gend ver­än­der­te. Die in der Hand­schrif­ten­ab­tei­lung des DLA Mar­bach ein­seh­ba­ren Texte aus sei­nen letz­ten Le­bens­wo­chen, be­schrif­te­te Zet­tel, Zei­tungs­aus­ris­se und Brief­um­schlä­ge, kön­nen nur sehr schwer ent­zif­fert wer­den.

Pro­ble­me der »Ver­nie­man­dung«

Als »Ver­nie­man­dung« hatte Hilde Domin 1973 mit einem Wort von Oc­ta­vio Paz das be­zeich­net, was sich ab­spiel­te im Rah­men der so­ge­nann­ten »Goll-Af­fä­re«, die man kor­rek­ter »Clai­re Goll – Paul Ce­lan-Af­fä­re« nen­nen soll­te. »Yvan Goll ist bei uns na­he­zu ver­bo­ten, ein Ka­pi­tel der li­te­ra­ri­schen Mei­nungs­bil­dung, wo Ma­ni­pu­la­ti­on kon­kret nach­zu­wei­sen ist. […] Sein Name ist in der Ap­pa­ra­tur nicht ein­ge­füt­tert«. Ihr Ap­pell wolle Celan nichts neh­men, »uns aber einen Ly­ri­ker zu­rück­ge­ben, des­sen Stim­me er­stickt wurde. Man schwei­ge einen »der stärks­ten Dich­ter deut­scher Spra­che« ein­fach tot, schreibt sie, in Kind­lers Li­te­ra­tur­ge­schich­te der Ge­gen­wart sei er nicht ver­tre­ten. Die neue Ge­ne­ra­ti­on solle end­lich ent­schei­den, ob er nicht jetzt, da alle Be­tei­lig­ten tot seien, »bei uns eine Blei­be haben dürfe«. Auch diese sich über Jahre hin­zie­hen­de Dis­kus­si­on hat eine ad­äqua­te Re­zep­ti­on des Werks von YG ver­hin­dert.

Es gibt al­ler­dings noch eine an­de­re, frü­he­re »Ver­nie­man­dung« YGs, des Dich­ters und Theo­re­ti­kers, des Sur­rea­lis­ten, die damit zu­sam­men­hängt, dass er sich nicht in die Grup­pe von A. Bre­ton in­te­grier­te und des­halb tot­ge­schwie­gen wurde. Alain Bos­quet kommt in einem Brief an YG vom 27.9.49 aus Ber­lin auf An­tho­lo­gi­en zu spre­chen, die über den Sur­rea­lis­mus her­aus­ge­ge­ben wur­den. Er schreibt, diese wür­den nur jene an­füh­ren, die »par­tie du mou­ve­ment« ge­we­sen seien, wie Bre­ton, Eluard, Char und Sou­pault. Die­je­ni­gen, die aus Grün­den der »Ob­jek­ti­vi­tät« nicht dabei waren und nur »unter streng wis­sen­schaft­li­chen Ge­sichts­punk­ten« ge­ar­bei­tet hät­ten wie Ponge, Perse und Goll, »die der Sur­rea­lis­mus be­ein­fluss­te und die ihn be­ein­fluss­ten«, seien aus­ge­schlos­sen.

Pro­ble­me der Ver­schleie­rung

Die Be­mü­hun­gen von CG, das Werk YGs zu er­hal­ten, kön­nen und sol­len nicht ge­schmä­lert wer­den; al­ler­dings war sie auch be­müht, es in ihrem Sinne her­aus­zu­ge­ben und den My­thos des ein­zig­ar­ti­gen Lie­bes-Dich­ter­paa­res, zum gro­ßen Teil ihre ei­ge­ne Schöp­fung, zu ver­ewi­gen. Bei­des hat zu einer mehr­schich­ti­gen Ver­schleie­rung bei­ge­tra­gen, wobei die Schlei­er nur unter gro­ßen Schwie­rig­kei­ten zu heben sind. Zum Werk YGs schreibt Glau­ert schon 1971, dass es selbst für Ken­ner schwer sei, Clai­res An­teil zu de­fi­nie­ren. Akri­bi­sche For­schungs­ar­beit wird nötig sein, um zu un­ter­su­chen, wel­che der von CG in die Welt ge­setz­ten Bil­der ein­fach immer wei­ter un­kri­tisch über­nom­men wur­den, an­ge­fan­gen von ihrer ers­ten Ver­öf­fent­li­chung über YG in der »Ak­ti­on« 1918 («Sein Thema ist immer die Liebe«) bis zu den spä­ten Schil­de­run­gen aus dem Kran­ken­haus (»Denn neben dem schwe­ren phy­si­schen Kampf […] kämpf­te seine Seele den viel schwe­re­ren des Ab­schieds von der Ge­fähr­tin, die er un­be­schützt zu­rück­las­sen muss­te«).

Pro­ble­me der Ein­ord­nung

Nicht nur dass YG in ver­schie­de­nen Spra­chen und in allen Gat­tun­gen ge­schrie­ben und so­wohl Lyrik wie Drama, Ro­ma­ne wie theo­re­ti­sche Schrif­ten hin­ter­las­sen hat, ganz zu schwei­gen von sei­ner sehr frü­hen Be­schäf­ti­gung mit dem Film und der Zu­sam­men­ar­beit mit Kom­po­nis­ten, auch die Tat­sa­che, dass es für einen »eu­ro­päi­schen« Dich­ter immer noch kei­nen ge­eig­ne­ten »Re­zep­ti­ons­ort« gibt, führt zu Pro­ble­men in der Auf­nah­me und Be­wer­tung die­ses Au­tors. Die Zwei­tei­lung der Re­zep­ti­on in Deutsch­land als deut­scher Dich­ter, in Frank­reich als fran­zö­si­scher, ent­spricht nicht YGs Selbst­bild, denn er selbst sah sich als eu­ro­päi­schen Dich­ter an. »Ich schrei­be auf deutsch und auf fran­zö­sisch, ge­hö­re aber nur Eu­ro­pa«, schreibt er in einem Brief an Ma­ja­kow­skij. Der »Mann zwi­schen zwei Stüh­len«, wie er sich selbst be­zeich­ne­te, be­griff die­sen sei­nen Stand­punkt je­den­falls immer als Chan­ce und nicht als Man­gel. Rech­net man das Jü­di­sche und das Spe­zi­el­le des El­säs­sers hinzu, so er­ge­ben sich noch mehr Fa­cet­ten. YG war deut­scher und fran­zö­si­scher Dich­ter schon in dem Sinne, dass er beide Spra­chen als »Mut­ter­spra­che« be­herrsch­te. Er sprach Fran­zö­sisch im El­tern­haus und Deutsch in der Schu­le. Er kann­te die Pro­ble­ma­tik des Über­set­zens sehr gut, schrieb ein Ge­dicht in einer Spra­che, um es dann selbst in die an­de­re zu über­tra­gen, aber was ent­stand, war ein an­de­res Ge­dicht, wie er sagte. Diese Sen­si­bi­li­tät in Bezug auf die Über­trag­bar­keit von einer Spra­che in die an­de­re ist si­cher auch ein Grund für sein In­ter­es­se am Über­set­zen von Stof­fen und In­hal­ten von einem äs­the­ti­schen Me­di­um ins an­de­re. So war er nicht nur einer der ers­ten, der die Mög­lich­kei­ten des Films er­kann­te, was sich in sei­ner Zu­sam­men­ar­beit mit dem Film­ex­pe­ri­men­ta­tor Vi­king En­ge­ling zeigt, er ar­bei­te­te auch mit dem Kom­po­nis­ten Kurt Weill zu­sam­men; die engen Kon­tak­te mit den be­kann­tes­ten bil­den­den Künst­lern der Zeit, von denen viele seine Bü­cher il­lus­trier­ten, er­höh­ten diese Sen­si­bi­li­tät noch. Dazu kam seine spe­zi­fi­sche In­ter­na­tio­na­li­tät. Im El­sass ge­bo­ren, hatte er die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit 1910 durch »Na­tu­ra­li­sie­rung« er­hal­ten und war, um sich dem Mi­li­tär­dienst als über­zeug­ter Pa­zi­fist (der zudem nicht als jetzt Deut­scher aus­ge­rech­net gegen die Fran­zo­sen kämp­fen woll­te) zu ent­zie­hen, zu­nächst in die Schweiz ge­gan­gen, dann nach Paris und Ber­lin. Schon durch seine spe­zi­el­le Bio­gra­phie kam er also in ver­schie­de­nen Zen­tren der Avant­gar­de Eu­ro­pas in Kon­takt mit allen je­weils zeit­ge­nös­si­schen Strö­mun­gen. The­men wie In­ter­kul­tu­ra­li­tät, das Kos­mo­po­li­ti­sche, das Ste­hen zwi­schen den ver­schie­de­nen Küns­ten, alles Dinge, die die Avant­gar­de for­der­te, ver­kör­per­te er gleich­sam schon in sei­ner Per­son. Plei­ner stellt zu Recht fest, dass ge­ra­de die­ser wech­sel­sei­ti­ge Zu­sam­men­hang lange Zeit ver­stellt wurde durch die ein­sei­ti­ge Be­trach­tung von den Deut­schen als Ex­pres­sio­nist und von den Fran­zo­sen als Sur­rea­list.. YG muss als eu­ro­päi­scher Dich­ter be­zeich­net wer­den, jeder Ver­such sei­ner Ver­ein­nah­mung als »na­tio­na­ler« Autor geht an die­ser Künst­ler­per­sön­lich­keit vor­bei. YG war ein Grenz­gän­ger, zwi­schen Län­dern und Spra­chen eben­so wie zwi­schen li­te­ra­ri­schen Gat­tun­gen und künst­le­ri­schen Aus­drucks­for­men, aber auch zwi­schen ge­sell­schaft­li­chem En­ga­ge­ment und äs­the­ti­scher Zu­rück­ge­zo­gen­heit. Dass er seine viel­schich­ti­gen Kennt­nis­se und Er­fah­run­gen nicht nur in­ten­siv re­flek­tiert und in sein ei­ge­nes Schaf­fen in­te­griert, son­dern dass er sie »ge­ra­de­zu als pro­gram­ma­ti­sche und poe­to­lo­gi­sche Her­aus­for­de­rung für mo­der­ne Dich­tung ver­steht«, ist von Schmidt (1999) am Bei­spiel sei­ner In­ter­kul­tu­ra­li­tät ge­zeigt wor­den.

Eu­ro­päi­sche Avant­gar­de und »Ismen«

»Mo­der­ne« und »Avant­gar­de« sind zwei Be­grif­fe der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft, die, weit oder eng ge­fasst, in jedem Falle um­strit­ten sind. Da au­ßer­dem der Ter­mi­nus »Avant­gar­de« oft all­ge­mein be­nutzt wird im Sinne einer Be­zeich­nung für geis­ti­ge und krea­ti­ve Elite, sind zu­nächst ei­ni­ge An­mer­kun­gen zur Be­griff­lich­keit nötig. Sieht man ab von der »Mo­der­ne« als rei­nem Epo­chen­be­griff, kann man zu­nächst den gro­ßen Rah­men von po­li­tisch-so­zia­ler und äs­the­tisch-li­te­ra­ri­scher Mo­der­ne dif­fe­ren­zie­ren, dann Letz­te­re wei­ter­de­fi­nie­ren, zum Bei­spiel als die Epo­che der Au­to­no­mie von Kunst. Dabei darf al­ler­dings nicht über­se­hen wer­den, dass die »Mo­der­ne« keine Ein­heit dar­stellt und nicht durch eine Summe von Merk­ma­len zu er­fas­sen ist. Ein plu­ra­ler Mo­der­ne­be­griff ist daher mit Recht pos­tu­liert wor­den, Wolf­gang Welsch spricht von »Äs­the­ti­schen Mo­der­nen«.

In Bezug auf die »Avant­gar­de« gibt es in ähn­li­cher Weise keine Ein­heit­lich­keit. Auch hier soll­te man von »Avant­gar­den« spre­chen. Das Wort stammt aus dem Fran­zö­si­schen, ist zu­sam­men­ge­setzt aus »avant« (vor) und »garde« (Wache). Ur­sprüng­lich im mi­li­tä­ri­schen Be­reich be­nutzt, be­zeich­ne­te es die in Frank­reich schon im Mit­tel­al­ter be­kann­te »Vor­hut«, eine klei­ne Ein­heit, die an der Spit­ze des Hee­res mar­schiert. Der Be­griff war also zu­nächst rein räum­lich de­fi­niert. Als es spä­ter zu einer Über­tra­gung vom mil­tä­ri­schen Kon­text auf den Dis­kurs im Um­feld von Musik, Li­te­ra­tur und bil­den­den Küns­ten kommt, fin­det eine Be­deu­tungs­ver­schie­bung statt, »Avant­gar­de« be­zieht sich nun­mehr auf die Zeit. Be­denkt man, dass Avant­gar­de­kunst immer etwa 20 Jahre brauch­te, um selbst­ver­ständ­lich in Mu­se­en ge­zeigt zu wer­den, wird deut­lich, wie weit sie ihrer Zeit vor­aus ist. Sie ist aber nicht nur schnel­ler in ihrem Vor­aus­ge­hen als die be­ste­hen­den Po­si­tio­nen, sie sieht auch auf diese zu­rück und hält sie für zer­stö­rungs­wür­dig, ist in­so­fern Ver­tre­ter eines kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren Pro­gramms. So strebt die künst­le­ri­sche Avant­gar­de unter Um­stän­den nicht nur eine Ver­schmel­zung mit po­li­ti­schen (re­vo­lu­tio­nä­ren) Be­we­gun­gen an, son­dern sieht sich ge­ra­de­zu als deren Vor­hut. Diese Ge­dan­ken wur­den be­son­ders im Sur­rea­lis­mus Bre­tons wirk­sam. Sie sind aber nicht neu, wurde doch schon 1825 der mi­li­tä­ri­sche Be­griff durch die Saint-Si­mo­nis­ten im Zu­sam­men­hang mit Kunst ver­wen­det. Das Kon­zept hatte sei­nen Hö­he­punkt wäh­rend der Re­vo­lu­ti­on 1848 mit der Gleich­set­zung von po­li­ti­schem und künst­le­ri­schem Fort­schritt er­reicht; es sah die Künst­ler, die sich an Emo­ti­on und Ima­gi­na­ti­on der Men­schen rich­ten und diese da­durch be­ein­flus­sen kön­nen, als Füh­rer der Ge­sell­schaft an. (Grimm–Jost 1980)

Zur Avant­gar­de ge­hö­ren also zu­nächst alle künst­le­ri­schen Grup­pie­run­gen, die sich gegen die bis­her herr­schen­den Ver­hält­nis­se rich­ten. Da es dabei immer um Ori­en­tie­rung am Neuen, Durch­bre­chen des Alten, Bruch mit der Tra­di­ti­on geht, wel­che teil­wei­se ab­ge­lehnt, teil­wei­se ka­ri­kiert wird, kommt es immer auch zu Ge­gen­re­ak­tio­nen; die All­ge­mein­heit lehnt der­ar­ti­ge Ver­su­che ab – so wur­den z.B. R. Hu­el­sen­beck und H. Ball nicht nur aus­ge­buht, son­dern mit Unrat be­wor­fen – wobei von Sei­ten der Avant­gar­den aber diese Art Ef­fekt oft be­ab­sich­tigt ist. Avant­gar­dis­ti­sche Be­we­gun­gen ent­ste­hen vor­zugs­wei­se in Zei­ten, wo geis­ti­ge Po­si­tio­nen ganz neu be­dacht wer­den müs­sen. Eine sol­che Zeit der Um­wer­tung aller Werte war die des Ers­ten Welt­kriegs, der mit den ers­ten Ma­te­ri­al­schlach­ten, dem Kampf gegen Zi­vil­be­völ­ke­rung sowie der Mas­sen­ver­nich­tung einen der tiefs­ten Ein­schnit­te be­deu­te­te.

Peter Bür­ger de­fi­niert 1974 als »his­to­ri­sche Avant­gar­de« ein »En­sem­ble von Grup­pen­be­we­gun­gen und Ismen, deren erste sich mit dem Fu­tu­ris­mus in Ita­li­en kon­sti­tu­iert«; Grün­dungs­do­ku­ment wäre dann das erste fu­tu­ris­ti­sche Ma­ni­fest. Kon­sti­tu­ie­ren­de Merk­ma­le für diese his­to­ri­sche Avant­gar­de sind: In­ter­na­tio­na­li­tät, Grup­pen- und Be­we­gungs­cha­rak­ter, Ne­ga­ti­on der Au­to­no­mie von Kunst, Über­füh­rung von Kunst ins Leben und Auf­lö­sung des Werk­be­griffs. Be­son­ders am letz­ten Punkt wird deut­lich, dass die so de­fi­nier­ten Avant­gar­den einen Bruch in der »Mo­der­ne« be­deu­ten, blieb doch für diese die Ka­te­go­rie des »Werks« wei­ter­hin un­an­ge­tas­tet. Kon­se­quen­ter­wei­se wird an die­sem Merk­mal oft fest­ge­macht, ob eine Strö­mung zu den Avant­gar­de­be­we­gun­gen ge­zählt wird oder nicht. Ei­nig­keit dar­über herrscht aber kei­nes­falls. Bür­ger selbst rech­net z.​B.​den Ku­bis­mus dazu, weil er das seit der Re­nais­sance gel­ten­de Prin­zip der Zen­tral­per­spek­ti­ve erst­mals an­tas­te­te, ob­schon ge­ra­de der Ku­bis­mus nicht eine der Grund­ten­den­zen der Avant­gar­de ver­folg­te, näm­lich die Über­füh­rung der Kunst in Le­bens­pra­xis. Der Ex­pres­sio­nis­mus da­ge­gen sei nur mit Ein­schrän­kun­gen Avant­gar­de, der Da­da­is­mus die ra­di­kals­te avant­gar­dis­ti­sche Be­we­gung. An­de­re Au­to­ren rech­nen nicht nur Fu­tu­ris­mus, Ku­bis­mus, Ex­pres­sio­nis­mus, Da­da­is­mus und Sur­rea­lis­mus dazu, son­dern auch Ima­gi­nis­mus und Kon­struk­ti­vis­mus. Auch über die Zeit­räu­me herr­schen ver­schie­de­ne An­sich­ten. Fähn­ders will einen en­ge­ren Avant­gar­de­be­griff auf die Zeit zwi­schen dem fu­tu­ris­ti­schen Auf­bruch 1909 und dem Zwei­ten Welt­krieg be­schränkt wis­sen im Ge­gen­satz zu einem wei­te­ren, ins 19. Jahr­hun­dert zu­rück­grei­fen­den, wie in der an­glo­ame­ri­ka­ni­schen For­schung zu­grun­de­ge­legt. Auch er meint aber, dass sich ge­ra­de auf­grund der Viel­zahl und Dis­pa­rat­heit der Ismen Peter Bür­gers Zu­griff auf der Me­ta­ebe­ne be­währt habe, bei dem die his­to­ri­sche Avant­gar­de durch ihren An­griff auf den Au­to­no­mie­sta­tus der Kunst und des Werks be­stimmt wird, genau die­sen Sta­tus, den die klas­si­sche Mo­der­ne (Dö­blin, Kafka, Musil, Th. Mann, Joyce) nicht an­ge­tas­tet habe. Tat­säch­lich haben die Avant­gar­den sich nicht dar­auf be­schränkt, die »In­sti­tu­ti­on Kunst« an­zu­grei­fen, son­dern haben sich vor allem mit zwei Fra­gen be­schäf­tigt: der nach der De­fi­ni­ti­on von Kunst und der nach ihren Gren­zen. So ging es bei den Ready Mades von Duch­amp um nichts we­ni­ger als die Frage, was Kunst über­haupt sei. Viel spä­ter, in den Acht­zi­ger Jah­ren, for­mu­lier­te A. Danto seine These vom »Ende der Kunst«, wobei es aber nicht um das Ende der Kunst als sol­cher ging, son­dern darum, dass Fort­schritt in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst nicht mehr mög­lich sei. Die The­ma­tik ist nicht neu. Schon Hegel hatte vom Ende der Kunst ge­spro­chen und Hei­nes Wi­der­spruch her­aus­ge­for­dert, dass nicht die Kunst, son­dern nur die Kunst­pe­ri­ode zu Ende sei. Dies kann viel­leicht mit einem an­de­ren Cha­rak­te­ris­ti­kum der Avant­gar­den, ihrer Kurz­le­big­keit, zu­sam­men­ge­bracht wer­den. Per de­fi­ni­tio­nem kann ja Neues nicht auf Dauer neu blei­ben, durch den stän­di­gen Zwang zur Neue­rung gerät jede Be­we­gung an ihre Gren­zen. Seit dem Ende der Sech­zi­ger Jahre gab es prak­tisch nur noch die Dis­kus­si­on, ob Kunst durch neue Kon­zep­te vor­an­ge­hen könne. Seit der Post­mo­der­ne fehlt dazu noch der »Feind«, die Ver­bind­lich­keit einer Stil­rich­tung oder einer ge­sam­ten äs­the­ti­schen Ori­en­tie­rung, gegen die man sich als neue Avant­gar­de über­haupt noch ab­set­zen kann.

Die »his­to­ri­sche Avant­gar­de« ziel­te nach Bür­ger also ab auf eine grund­sätz­li­che Er­neue­rung der Kunst selbst sowie der Be­zie­hung von Kunst und Leben. Alle Avant­gar­de­be­we­gun­gen pro­tes­tier­ten gegen den (letzt­lich auf Nietz­sche zu­rück­ge­hen­den) rei­nen Äs­the­ti­zis­mus, der Ver­nei­nung der Exis­tenz oder zu­min­dest Wich­tig­keit von jedem Phä­no­men au­ßer­halb des künst­le­ri­schen Selbst be­deu­te­te, der die Kunst von der Le­bens­wirk­lich­keit ent­fernt und zu einem Ver­lust des Be­zugs zur so­zia­len Wirk­lich­keit ge­führt hatte, zur Flucht aus dem All­tag. So muss­te Kunst für das Leben be­deu­tungs­los blei­ben, konn­te je­den­falls in ihrem El­fen­bein­turm nicht die Ge­sell­schaft er­neu­ern. Das Leben selbst hatte nur noch Sinn durch die Kunst. Die Avant­gar­den setz­ten fol­ge­rich­tig genau hier ein, al­ler­dings gin­gen sie ver­schie­de­ne Wege und be­nutz­ten ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten: An­nä­he­rung an so­zia­lis­ti­sche Po­si­tio­nen wie auch schon bei Vic­tor Hugo in der fran­zö­si­schen Ro­man­tik oder bei Zola im Na­tu­ra­lis­mus oder di­rek­te Hin­wen­dung zur Po­li­tik (Fu­tu­ris­ten), Ten­die­ren in die Rich­tung von an­ti-de­mo­kra­ti­schem, an­ti­li­be­ra­lem, an­ti­bür­ger­li­chem Aris­to­kra­tis­mus (wie stel­len­wei­se bei S. Dali oder G. Benn), oder Ver­such, di­rekt ins Leben ein­zu­drin­gen (Da­da­is­ten).

Ein wei­te­res Cha­rak­te­ris­ti­kum der Avant­gar­den war ihre In­ter­na­tio­na­li­tät. Zwar hatte es schon im 19. Jahr­hun­dert Be­we­gun­gen wie Ro­man­tik, Na­tu­ra­lis­mus, Im­pres­sio­nis­mus und Sym­bo­lis­mus in meh­re­ren Län­dern Eu­ro­pas ge­ge­ben, im 20. Jahr­hun­dert strahl­te der Fu­tu­ris­mus von Ita­li­en über ganz Eu­ro­pa und Russ­land aus; Da­da­is­mus gab es nicht nur in der Schweiz und in Deutsch­land, viel­mehr kam es schon 1917 in New York zu Da­d­a­ma­ni­fes­ta­tio­nen, auch der Sur­rea­lis­mus war eine in­ter­na­tio­na­le Be­we­gung. Nicht nur Zü­rich, son­dern zum Bei­spiel auch Bar­ce­lo­na war in den Jah­ren 1916-1918 ein eu­ro­päi­sches Zen­trum der Avant­gar­de. Aus der rus­si­schen li­te­ra­ri­schen Avant­gar­de gibt es nicht nur Ma­ni­fes­te, son­dern schon 1906 fan­den sich im Werk von Ch­leb­nikov Poe­sie-Ele­men­te, die mit der Spra­che selbst ar­bei­te­ten, was spä­ter zu ZA-Um (»trans­men­ta­ler Spra­che«) führ­te. Die Ziele der tsche­chi­schen Avant­gar­de (neue Äs­the­tik, ge­sell­schaft­li­che Funk­ti­on der Küns­te) ar­ti­ku­lier­ten sich haupt­säch­lich in den Es­says von Karl Teige, der zu einer neuen Form an­setz­te, dem Bild­ge­dicht als Ver­schmel­zung von Ma­le­rei und Poe­sie. Dabei iden­ti­fi­zier­te er die Kunst mit dem Leben, sein »Poe­tis­mus« ver­stand sich als neue Äs­the­tik und Phi­lo­so­phie sowie als modus vi­ven­di. Von der ser­bi­schen Avant­gar­de wird wei­ter unten noch im Zu­sam­men­hang mit YGs Ma­ni­fes­ten die Rede sein. Es soll­te er­wähnt wer­den, dass be­züg­lich der In­ter­na­tio­na­li­tät auch die Emi­gra­ti­on eine große Rolle spiel­te; wäh­rend der Zeit des zwei­ten Welt­kriegs gin­gen Künst­ler aus Deutsch­land und Frank­reich nicht nur in die USA, son­dern auch nach La­tein­ame­ri­ka, wo­durch sich dann, etwas ver­spä­tet, der Ein­fluss der eu­ro­päi­schen Avant­gar­de auch auf die­sem Kon­ti­nent aus­brei­te­te.

Die avant­gar­dis­ti­schen Be­we­gun­gen tra­ten in den ver­schie­de­nen Län­dern fast gleich­zei­tig auf. Ihre In­ter­na­tio­na­li­tät ist aber nicht nur an die­ser Gleich­zei­tig­keit fest­zu­ma­chen, son­dern auch daran, dass es einen regen geis­ti­gen Aus­tausch zwi­schen den Ver­tre­tern der Strö­mun­gen in allen Län­dern gab. Das wurde vor allem durch die Zeit­schrif­ten ge­währ­leis­tet, in denen es oft mehr­spra­chi­ge Ab­dru­cke (z.B. der Ma­ni­fes­te) gab, au­ßer­dem durch Per­sön­lich­kei­ten wie Her­warth Wal­den, der nicht nur die Zeit­schrift »Der Sturm« in Ber­lin ge­grün­det hatte, son­dern auch eine Ga­le­rie glei­chen Na­mens. Er war ein Haupt­ver­mitt­ler zwi­schen fran­zö­si­scher und deut­scher Ma­le­rei und spiel­te eine große Rolle für die Wahr­neh­mung bei­der Küns­te und der zwi­schen ihnen be­ste­hen­den Be­zie­hun­gen. So lei­te­te er 1912 in Ber­lin eine De­lau­nay- Aus­stel­lung ein und ver­öf­fent­lich­te fast gleich­zei­tig im »Sturm« den Auf­satz Apol­li­n­ai­res, in dem von der »poe­ti­schen Ma­le­rei« die Rede ist.

Be­züg­lich des viel­schich­ti­gen The­mas Not­wen­dig­keit und Schei­tern der Avant­gar­de, aber auch Avant­gar­de als ge­schichts­phi­lo­so­phisch – lo­gi­sches Pro­blem wird ver­wie­sen auf die The­sen von Paul Mann und P. Lud­ger Fi­schers »Ver­such einer Be­griffs­ge­schich­te«. Ein wei­te­res Pro­blem des Be­griffs »Avant­gar­de« hat H. M. En­zens­ber­ger (1987) auf­ge­zeigt: »Wer näm­lich, außer ihr selbst, ent­schei­den soll, was zu jener Zeit ›vorne‹ ist, das bleibt offen.«

Be­trach­tet man die li­te­ra­ri­schen Be­we­gun­gen der »His­to­ri­schen Avant­gar­de«, der »Ismen«, die sich in den ers­ten fünf­und­zwan­zig Jah­ren des Jahr­hun­derts ma­ni­fes­tier­ten, fällt auf, dass sie »kei­nen Stil ent­wi­ckelt haben, es gibt kei­nen da­da­is­ti­schen, kei­nen sur­rea­lis­ti­schen Stil«. Diese Be­we­gun­gen haben viel­mehr (nach Bür­ger 1974) die »Mög­lich­keit eines epo­cha­len Stils li­qui­diert, indem sie die Ver­füg­bar­keit über die Kunst­mit­tel ver­gan­ge­ner Epo­chen zum Prin­zip er­ho­ben haben.« Ein Ge­mein­sa­mes hin­ge­gen war die zen­tra­le Äu­ße­rungs­form: die Ma­ni­fes­te. Diese ent­hiel­ten nur zu einem ge­rin­gen Teil kon­kret um­setz­ba­re oder zur Um­set­zung vor­ge­schla­ge­ne Pro­jek­te. »In ihnen buch­sta­biert die Avant­gar­de die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten, die­sen Sprung {den der Über­tra­gung des ab­so­lu­ten Gel­tungs­an­spruchs von Kunst auf die Ge­sell­schaft ins­ge­samt,Verf} aus der Kunst nicht nur zu den­ken, son­dern auch aus­zu­pro­bie­ren« (Fähn­ders 1997)

Als be­son­de­res Merk­mal der Avant­gar­de­kunst gilt Si­mul­ta­nei­tät. Das ist der »Kern von Apol­li­n­ai­res Äs­the­tik (Mack­worth), wobei be­son­ders die Fu­tu­ris­ten ver­such­ten, den Be­griff des Raums mit dem der Zeit zu ver­ei­nen. Au­ßer­dem soll­te Den­ken und sinn­li­che Wahr­neh­mung gleich­zei­tig in­te­griert wer­den. Wei­ter­hin ge­hö­ren zur Avant­gar­de­kunst das Mon­ta­ge­prin­zip (mon­tier­te Wirk­lich­keit) und The­men und Mo­ti­ve aus der tech­nisch-zi­vi­li­sa­to­ri­schen Mo­der­ni­tät (Brü­mann). In Bezug auf die Form sind zu nen­nen die »Pa­ro­le in li­bertà« Ma­ri­net­tis, die Auf­he­bung der Syn­tax und das Pro­sa­ge­dicht. »Es ist an den Vers ge­rührt wor­den« und »Als ein glück­li­cher Fund wird sich der freie Vers er­wei­sen« hatte Mall­ar­mé ge­sagt, und all das gab es auch schon seit Apol­li­n­ai­re. Neu ist die Auf­fas­sung, dass ganz neue Kunst ent­ste­hen muss, in der Maß­stab nicht mehr Schön­heit, son­dern Aus­drucks­stär­ke ist.

War YG ein Avant­gar­dist? Legt man Bür­gers Kri­te­ri­en an, spricht Vie­les da­ge­gen, da er weder die In­sti­tu­ti­on Kunst ab­schaf­fen woll­te noch den Werk­be­griff je­mals in Frage ge­stellt hat. Auch war er ein Ein­zel­gän­ger, was al­ler­dings nach Fähn­ders das Avant­gar­dis­ti­sche nicht aus­schlie­ßt. Er ge­hört aber ohne Frage in die­ses Jahr­hun­dert der Avant­gar­den, wie Fähn­ders es um­rei­ßt, geht es doch letzt­lich darum, »ob die Avant­gar­de nor­ma­tiv zu fas­sen ist, ob also es­sen­tia­lis­ti­sche Be­stim­mun­gen zu for­mu­lie­ren sind,« oder ob sie [...] »re­la­tio­nal, also stets in Bezug zu Vo­ri­gem und An­de­rem auf­ge­fasst wird« (Fähn­ders 2010). In die­sem Sinne tra­ten am An­fang des Jahr­hun­derts so­wohl in den bil­den­den Küns­ten als auch in der Dich­tung Avant­gar­den in ver­schie­de­nen For­men auf, die »Ismen«, wobei diese so­wohl zeit­lich als auch in­halt­lich in­ein­an­der­grei­fen und des­halb nicht iso­liert be­trach­tet wer­den kön­nen, wie Ex­pres­sio­nis­mus, Fu­tu­ris­mus, Ku­bis­mus, Da­da­is­mus, aber auch an­de­re wie z.B der mehr im eng­lisch­spra­chi­gen Raum wirk­sam ge­wor­de­ne Ima­gis­mus.
 

Jedes Kunst­werk ist Kind sei­ner Zeit, oft ist es die Mut­ter un­se­rer Ge­füh­le.
Was­si­ly Kandins­ky

Yvan Goll in­ner­halb der eu­ro­päi­schen Avant­gar­de

YG hat nicht nur an allen Avant­gar­de­be­we­gun­gen teil­ge­nom­men, son­dern sie auch ma­ß­geb­lich mit­ge­prägt. Dass sein Ein­fluss teil­wei­se nicht wahr­ge­nom­men und wei­ter­hin un­ter­be­wer­tet wird, hängt mit den im ers­ten Ka­pi­tel an­ge­deu­te­ten Be­son­der­hei­ten zu­sam­men. Von den ex­pres­sio­nis­ti­schen An­fän­gen bis zu sei­nem Tode 1950 hat er nicht nur sein dich­te­ri­sches Werk ge­schaf­fen, son­dern über drei­ßig Jahre hin­weg in sei­nen theo­re­ti­schen Schrif­ten einen Bei­trag zum Poe­tik-Dis­kurs des 20. Jahr­hun­derts ge­leis­tet, der unter an­de­ren Um­stän­den hätte fol­gen­rei­cher sein kön­nen. YG kam auf­grund sei­ner ganz spe­zi­el­len per­sön­li­chen Si­tua­ti­on als El­säs­ser (Bi­lin­gua­ler zwi­schen Deutsch­land und Frank­reich) und Jude, eben­so aber auf­grund der spe­zi­fi­schen Ge­schich­te der Zeit, die ihn in ver­schie­de­nen Pha­sen nach Paris, Zü­rich und Ber­lin, schlie­ß­lich ins Exil in die USA füh­ren soll­te, mit den ver­schie­dens­ten Strö­mun­gen der Kunst­sze­ne in un­mit­tel­ba­re Be­rüh­rung und nahm sie in sich auf. Er ist vom Ex­pres­sio­nis­mus stark be­ein­flusst wor­den, war selbst ex­pres­sio­nis­ti­scher Dich­ter; Pin­thus nahm sie­ben sei­ner Ge­dich­te in die Mensch­heits­däm­me­rung auf. Von 1914 bis 1918 hatte er Ly­rik­bän­de ver­öf­fent­licht, zu­nächst die Loth­rin­gi­schen Volks­lie­der, dann den Pa­na­ma­ka­nal, der die neue Phase zeigt: das In­ter­es­se am Tech­ni­schen mischt sich mit der ex­pres­sio­nis­ti­schen Mensch­heits­ver­brü­de­rung, wobei sich an­hand der ver­schie­den Ver­sio­nen die Ent­wick­lung ver­fol­gen lässt; schlie­ß­lich hat er 1921 den Nie­der­gang des Ex­pres­sio­nis­mus be­schrie­ben. Mit Aus­bruch des ers­ten Welt­kriegs dop­pelt »hei­mat­los«, wurde er doch von bei­den sich als Fein­de ge­gen­über­ste­hen­den Hei­mat­län­dern nicht als Pa­zi­fist, son­dern als je­wei­li­ger Fah­nen­flüch­ti­ger an­ge­se­hen, ging er wie viele In­tel­lek­tu­el­le in die Schweiz, wo er zu­nächst in­ten­si­ver mit dem Da­da­is­mus und Fu­tu­ris­mus in Be­rüh­rung kam. Zu Dada ent­wi­ckel­te er nach den Aus­sa­gen von CG aber kein Ver­hält­nis, er »fand all das Ge­zap­pel und die Schar­la­ta­ne­rie mit­ten im Krieg recht un­an­ge­bracht« (CG 1908). Zy­kli­sche Dich­tun­gen ent­stan­den, das Re­qui­em für die Ge­fal­le­nen von Eu­ro­pa, cha­rak­te­ris­tisch er­scheint hier schon »Eu­ro­pa«, das ihn als Be­griff nie mehr los­ge­las­sen hat und mit des­sen De­ka­denz er sich in sei­nen Ro­ma­nen be­schäf­tig­te. Nach dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Mensch­heits­pa­thos ver­öf­fent­licht YG po­li­ti­sche Schrif­ten im Sinne von pa­zi­fis­ti­schen Ap­pel­len an beide Sei­ten, aber auch den Ap­pell an die Kunst, wo er die Kunst zur »so­zia­len Lie­bestä­tig­keit« er­klärt. 1919 wie­der in Paris, hat er u.a. Um­gang mit Cen­drars, Mil­haud, Ara­gon, Man Ray, Leger, Cha­gall, Coc­teau, Pi­cas­so, Mal­raux. Auf der Suche nach der »Ur­dich­tung« denkt er an die »Zu­kunfts­kunst aus Asien«, sein Wunsch­bild einer neuen Kul­tur statt des aus­ge­blu­te­ten Eu­ro­pas, dich­tet die Hai­kais. Schlie­ß­lich tre­ten die Groß­stadt­fas­zi­na­ti­on, aber auch der di­rek­te stark prä­gen­de Ein­fluss des Ku­bis­mus – an dem YG die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät be­wun­der­te – in den Vor­der­grund: »Paris brennt«, das »ku­bis­ti­sche Ge­dicht« (Phil­ipps 1984) ent­steht 1921. Es gibt also sehr viele he­te­ro­ge­ne Ein­flüs­se, die ein­zeln nach­ge­zeich­net wer­den könn­ten und müss­ten; er­wähnt wer­den soll­te zu­min­dest R.​Rolland, den YG als »reins­ten Eu­ro­pä­er« ver­stand und den er über Jahre als sei­nen geis­ti­gen Men­tor ansah. Die drei wich­tigs­ten Ein­flüs­se für seine dich­te­ri­sche Ent­wick­lung, seine Poe­tik und sein Le­bens­the­ma »Über-Rea­lis­mus« stam­men aber von G.​Apolli­n­ai­re, A. Ar­taud und V. Hui­do­bro.

Guil­lau­me Apol­li­n­ai­re, in Frank­reich be­reits auf der Höhe sei­nes Ruhms, war in Deutsch­land nach dem Ende des ers­ten Welt­kriegs fast noch un­be­kannt. Nach ihm soll­te »die Rea­li­tät in der Kunst nicht mehr na­tu­ra­lis­tisch nach­ge­ahmt, son­dern durch einen in­ter­pre­ta­ti­ven Vor­gang auf einer hö­he­ren, zur Rea­li­tät ana­lo­gen Stufe in­ten­si­ver ar­ti­ku­liert wer­den«, wie Mül­ler-Len­trodt schreibt. Apol­li­n­ai­res poe­ti­sche Ver­fah­rens­wei­sen, Si­mul­ta­nei­tät und Mon­ta­ge, waren di­rekt am Ku­bis­mus ori­en­tiert. YG kann­te Apol­li­n­ai­re aus Ver­öf­fent­li­chun­gen in Der Sturm zwi­schen 1912 und 1915 und be­schäf­tig­te sich wei­ter mit ihm in Paris. Sein Brief an den ver­stor­be­nen Dich­ter Apol­li­n­ai­re nach des­sen Tod 1919 ist ein lei­den­schaft­li­ches Be­kennt­nis zu die­sem Autor. Der »bru­tals­ten Wirk­lich­keit den Atem und Glanz über­welt­li­cher Wahr­heit ein­zu­hau­chen«, das sei an ihm eben­so wie an Vil­lon zu be­wun­dern. In die­sem Auf­satz nennt er Apol­li­n­ai­re aus­drück­lich als Den­je­ni­gen, der »den Tauf­na­men Über­rea­lis­mus (Sur­réa­lis­me, was mit dem rea­lis­ti­schen Na­tu­ra­lis­mus nichts zu tun hat), für das längst Be­kann­te ge­ge­ben« habe, – Goll nennt die Reihe Horaz, Hans Sachs, Whit­man, Ta­go­re – dass »kleins­tem Ta­ges­er­leb­nis tiefs­te Me­lo­die ent­rauscht.« »Über­rea­lis­mus! Über­zeit­lich­keit im Zeit­li­chen.« Apol­li­n­ai­re sei der »Ver­kün­der der neuen as­ke­ti­schen Kunst des Ku­bis­mus«.

Dass YG, ein li­te­ra­ri­scher Kos­mo­po­lit, dem na­tio­nal aus­ge­rich­te­ten Apol­li­n­ai­re nicht un­kri­tisch ge­gen­über­stand, zeigt sich al­ler­dings eben­falls in die­sem Text. Die Kri­tik be­zieht sich auf den Dich­ter pol­nisch-jü­di­scher Ab­stam­mung, der diese seine Her­kunft immer ver­leug­ne­te eben­so wie auf den, der den »Krieg lieb­te.« »Hat sich der Krieg ge­rächt ? [...] Du hast sehr un­recht ge­habt. [...] Du hast ge­tö­tet, und selbst für so hohes Ideal war es un­er­laubt. Aber Deine Schuld sühn­te sich sel­ber. Du star­best ein­sam, Du Dich­ter.«

Auf der einen Seite hat also YG Apol­li­n­ai­re als Dich­ter be­wun­dert – die Lek­tü­re von Zone aus dem Band Al­cools war für ihn ein Schlüs­sel­er­leb­nis und in sei­nem Auf­satz Paris, Stern der Dich­ter nann­te er diese Dich­tung »In­schrift des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts.« »Er hat das »vi­su­ell aus­ge­rich­te­te sti­lis­ti­sche Legat Apol­li­n­ai­res [...] ver­tei­digt, wäh­rend Bre­ton gleich­zei­tig den Be­griff [Sur­rea­lis­mus, An­mer­kung d. Verf.] für seine ei­ge­nen hoch­pro­gram­ma­ti­schen ideo­lo­gi­schen Ziele be­nutz­te«, schreibt Vilain. YG hat ku­bis­ti­sche Tech­ni­ken von Apol­li­n­ai­re über­nom­men, nicht aber den Glau­ben an die Ef­fek­te nur aus dem Me­di­um selbst. Wei­te­re Un­ter­schie­de hän­gen zu­min­dest zu einem Teil damit zu­sam­men, dass Goll aus dem »deutsch« ge­präg­ten Ex­pres­sio­nis­mus kam; man kann sie wie folgt ta­bel­la­risch kurz zu­sam­men­fas­sen:

Goll Apol­li­n­ai­re
Teil­wei­se Bruch mit Tra­di­ti­on an­ge­strebt Ver­such, tra­di­tio­nel­le Werte zu in­te­grie­ren
Po­si­tiv, aber kri­tisch ge­gen­über
Tech­nik und mo­der­ner Zi­vi­li­sa­ti­on
Fas­zi­niert von der Tech­nik
 
   
Pes­si­mis­ti­sche Kul­tur­sicht Po­si­ti­ve Ein­stel­lung und Be­geis­te­rung
Ge­sell­schafts­kri­tisch
 
In Ein­klang mit der fran­zö­si­schen Ge­sell­schaft
Nicht kriegs­be­geis­tert, pa­zi­fis­tisch
 
Na­tio­na­lis­tisch, an­ti­deutsch, Kriegs­frei­wil­li­ger
Kos­mo­po­li­tisch, in­ter­na­tio­nal Füh­rungs­an­spruch Frank­reichs


 

Das Be­wusst­sein ist es, das die Wahr­heit er­schafft
An­to­nin Ar­taud

An­to­nin Ar­taud in­kor­po­riert den ra­di­kals­ten Sur­rea­lis­mus im Sinne einer per­ma­nen­ten Re­vol­te gegen jede Art ma­te­ri­el­ler und geis­ti­ger Un­ter­drü­ckung. Er schrieb, malte und mach­te Thea­ter, gab Zeit­schrif­ten her­aus und war ex­trem er­folg­reich mit sei­nem Thea­ter­kon­zept der »Grau­sam­keit«. 1925 wurde er Se­kre­tär der Sur­rea­lis­ten. Er ar­bei­te­te an der Zeit­schrift La re­vo­lu­ti­on sur­rea­lis­te mit, kam aber rasch in Kon­flikt mit Bre­ton. Als die Zeit­schrift 1928 in Le sur­réa­lis­me au ser­vice de la re­vo­lu­ti­on um­be­nannt wird, ver­lässt Ar­taud die Grup­pe und geht nach Cuba und Me­xi­ko zu den Ta­ra­hu­mara-In­dia­nern, »einem Volk, des­sen Riten und Den­ken älter sind als die Sint­flut«. Ihn in­ter­es­sier­ten die Rausch­zu­stän­de, er be­schäf­tig­te sich mit Voo­doo und Her­me­tik, mit my­thi­schen prä­his­to­ri­schen Quel­len, einer an­de­ren Kul­tur im Ge­gen­satz zu der schrift­lich nie­der­ge­leg­ten eu­ro­päi­schen, mit der es »of­fen­bar zu Ende wäre, so­bald die Texte ver­nich­tet wür­den«. Eu­ro­pa be­schei­nigt er einen »Zu­stand hoch­gra­di­ger Zi­vi­li­sa­ti­on: ich meine damit, dass es schwer krank ist«. Bei den In­dia­nern fin­det er Schöp­fungs­ri­ten, die zei­gen, »wie die Dinge in der Leere sind und wie die Leere im Un­end­li­chen ist, wie dann die Dinge aus dem Un­end­li­chen in die Wirk­lich­keit tra­ten«. Er be­schreibt Fels­for­ma­tio­nen »wie ma­the­ma­ti­sche Chif­fren«, be­nutzt zum Teil die Spra­che der her­me­ti­schen Phi­lo­so­phen. Er ver­weist auf die Kab­ba­la, in der es eine Musik der Zah­len gebe. Zu die­ser ver­bor­ge­nen Natur gibt es einen Zu­gang, Fel­sen sind Zif­fern, an­schau­lich ge­wor­de­ne Welt­for­mel, Natur nichts an­de­res als Ma­the­ma­tik. Er stellt an­hand der ma­gi­schen Zei­chen der In­dia­ner auch einen Zu­sam­men­hang her mit Ro­bert Fludd und des­sen Dar­stel­lung der Welt­schöp­fung eben­so wie mit den Ro­sen­kreu­zern. Die An­sicht, dass der Sur­rea­lis­mus die ei­gent­li­chen Dinge sucht, sie aber oft im objet trou­vé fin­den kann, hat Ar­taud lange mit den Sur­rea­lis­ten ge­teilt. Dar­über hin­aus sei Sur­rea­lis­mus auch Auf­leh­nung gegen Va­ter­fi­gu­ren, Er­schlie­ßen von Wegen, wo man ins Ge­heims­te vor­drin­gen kann, Mys­tik, Ok­kul­tis­mus und große Ver­wei­ge­rung. Ar­taud stellt das Ganze auch in den Kon­text der west­li­chen Zi­vi­li­sa­ti­on, die in die Brü­che geht, wenn sie die Phan­ta­sie li­qui­diert. Der An­griff gegen das Be­wusst­sein (»Die ra­tio­na­lis­ti­sche Auf­fas­sung der Welt [...] er­zeugt, was ich das ge­spal­te­ne Be­wusst­sein nen­nen will«) ist eins sei­ner gro­ßen The­men, die al­che­mis­ti­sche Ver­wand­lung, das Ge­fühl der Ein­heit, des Er­ha­be­nen. Das Werk sei die To­ten­mas­ke der Idee, es müsse flie­ßend sein. Der Kör­per sei Me­di­um des Schmer­zes, der Lei­den­schaft, des Nicht-Kon­trol­lier­ba­ren, dem Schlaf sei al­che­mis­ti­sche Kraft eigen. »Das Sub­jek­til«, das Sub­jekt als Waffe, ist Ar­tauds Aus­druck. Er ist in­ter­es­siert an De­zen­trie­rung, dem Nicht-Ich. Da die Rea­li­tät nicht aus­reicht, er­fin­det er eine neue: die »Sorts«, Send­schrei­ben wie To­tems oder Fe­ti­sche, sind ma­gi­sche Bot­schaf­ten, »idio­syn­kra­ti­sche Wel­ten«. Auch wenn Vie­les hier in eine Psy­cho­pa­tho­lo­gie des Wahns ein­ge­ord­net wer­den muss und die Er­schaf­fung einer ei­ge­nen Welt in der Kunst von psy­chisch Kran­ken häu­fig ist, so ist doch über­all her­me­tisch-al­che­mis­ti­sche Spra­che nach­voll­zieh­bar.

Das au­to­ma­ti­sche Schrei­ben al­ler­dings war für Ar­taud eine »Ver­gif­tung des Geis­tes.« Er wies das Prin­zip des Auges, des Se­hens und Be­herr­schens zu­rück, dar­über hin­aus war ihm das Wort Maß­stab »für un­se­re Ohn­macht, für un­se­re Tren­nung vom Wirk­li­chen.« Am Ende sei daher Ver­las­sen der Spra­che nötig zu­guns­ten von Lau­ten, Schrei­en, Ge­bär­den. Ar­taud er­leb­te ei­ner­seits im Wahn an­de­re Rea­li­tä­ten und er­schuf an­de­rer­seits wie­der an­de­re. »Ein­ge­stan­den oder un­ein­ge­stan­den, be­wusst oder un­be­wusst, im Grun­de sucht das Pu­bli­kum in der Liebe, im Ver­bre­chen, den Dro­gen, in Krieg oder Auf­stand einen Le­bens­zu­stand, der tran­szen­diert, den poe­ti­schen Zu­stand«.

Der »In­qui­si­tor« Bre­ton (CG) ent­fern­te Ar­taud aus der Grup­pe der Sur­rea­lis­ten. Bei Ar­taud liest sich das so: »Ob Ar­taud die Re­vo­lu­ti­on schei­ße­gal sei? woll­te man von mir wis­sen. Eure ist mir schei­ße­gal, meine nicht, ant­wor­te­te ich und trenn­te mich vom Sur­rea­lis­mus, weil auch der Sur­rea­lis­mus eine Par­tei ge­wor­den war.«

Vicen­te Hui­do­bro, chi­le­ni­scher Dich­ter, 1893 ge­bo­ren, kam durch den li­te­ra­ri­schen Salon sei­ner Mut­ter mit dem Werk Apol­li­n­ai­res in Kon­takt, schrieb zu­nächst ro­man­tisch be­ein­fluss­te, dann ge­sell­schafts­kri­ti­sche Ge­dich­te. Bei der Vor­stel­lung sei­ner Theo­rie des »Creacio­nis­mo« sagte er: »La pri­me­ra con­di­ción del poeta es crear, la se­g­un­da crear, la ter­ce­re es crear.« Im glei­chen Jahr er­scheint ein Ge­dicht­band mit dem Ge­dicht Ars poe­ti­ca, in dem steht, der Dich­ter solle sich nicht auf das Be­sin­gen einer Rea­li­tät kon­zen­trie­ren, son­dern eine an­de­re er­schaf­fen.

Der Creacio­nis­mo bricht mit der Tra­di­ti­on der Ab­bil­dung von Rea­li­tät. Die Dich­tung ver­zich­tet auf Mi­me­sis im Sinne von Nach­ah­mung, die Um­set­zung er­for­dert neue sprach­li­che Mög­lich­kei­ten; al­ler­dings ent­steht das Neue nicht aus dem Nichts, son­dern Tra­di­tio­nen wer­den in­te­griert. Tech­nisch kann das da­durch er­reicht wer­den, dass man Frag­men­te von Altem neu zu­sam­men­stellt oder Bruch­stü­cke von Altem in Neues ein­fügt. Der Dich­ter soll nicht imi­tie­ren, son­dern er­schaf­fen. Hui­do­bro sieht Dich­ter und Natur als gleich­be­rech­tig­te Schöp­fer an. Diese Ana­lo­gie zwi­schen der Schöp­fung Got­tes (der Natur) und der vom Dich­ter ge­schaf­fe­nen Welt führt letzt­lich zu der Aus­sa­ge, dass der Dich­ter auf der glei­chen Stufe wie Gott stehe. Al­ler­dings han­de­le es sich hier eher um ein erst in Zu­kunft zu er­rei­chen­des Ideal. Kri­te­ri­um der Schön­heit ist das Un­ge­wöhn­li­che. Das er­in­nert an Lau­tréa­mont, an Re­ver­dy, auf die sich auch die Sur­rea­lis­ten um Bre­ton be­ru­fen, aber Hui­bro­do setzt sich scharf von die­sen und vor allem dem au­to­ma­ti­schen Schrei­ben ab. Der Künst­ler soll Ele­men­te aus der be­kann­ten Welt auf­neh­men, sie be­wusst trans­for­mie­ren und kom­bi­nie­ren, um dar­aus neue Wel­ten zu schaf­fen. Immer wie­der stellt Hui­bro­do die Wich­tig­keit der Ver­nunft beim Dich­ten her­aus. Dabei gibt es die Muse oder die In­spi­ra­ti­on durch­aus, der Dich­ter bringt das Werk in einem Zu­stand des »de­li­rio poe­ti­co« her­vor. Der krea­ti­ve Akt steht im Zen­trum. Es fin­det ein Trans­fer von der äu­ße­ren »ob­jek­ti­ven« Welt nach innen statt (»Si­sti­ma«), dann wird über die »Tec­ni­ca«, die künst­le­ri­sche Ar­beit, der Trans­fer von innen nach außen vor­ge­nom­men. Hui­do­bro weist die psy­cho­ana­ly­ti­sche Aus­rich­tung des Bre­ton­schen Sur­rea­lis­mus zu­rück, wie aus sei­nem Ma­ni­fies­to de Ma­ni­fiestos 1925 her­vor­geht. YG hat Hui­do­bro ge­kannt und be­wun­dert, er hat auch ei­ge­ne Texte in des­sen Zei­tung »Crea­ti­on« ver­öf­fent­licht. Crea­ti­on pure sei die For­de­rung, die er an sich und alle stel­le. »Die Kunst ist die Hu­ma­ni­sie­rung der Natur« zi­tiert er Hui­do­bro. Nicht »schil­dern und ko­pie­ren, was da ist, son­dern mit dem At­tri­but des Mensch­li­chen aus­ge­stat­tet neue Da­seins­wer­te schaf­fen«. Dich­tung sei ein sol­cher Da­seins­wert, die Er­schaf­fung einer neuen mensch­li­chen Natur. So ent­ste­he des »Dich­ters Wort me­ta­phy­sisch ganz aus mensch­li­chem Geist«.

Die we­sent­li­chen Ein­flüs­se auf YG las­sen sich wie folgt zu­sam­men­fas­sen:

Von Apol­li­n­ai­re hat Goll über­nom­men: den Be­griff Sur­rea­lis­mus; den Über­rea­lis­mus als Wahr­heit, (mit den neuen Mit­teln des Dich­ters ver­wirk­licht); die Über­zeit­lich­keit und die Er­he­bung aus dem All­tag. Nicht über­nom­men hat er die Fas­zi­na­ti­on durch das Ma­te­ri­al an sich, die Ef­fek­te aus die­sem ohne Kom­po­si­ti­on.

Durch Ar­taud wur­den ver­stärkt seine Af­fi­ni­tät zum Her­me­ti­schen und Ok­kul­ten, zur Zah­len- und Buch­sta­ben­mys­tik der Kab­ba­la, seine Be­schäf­ti­gung mit der Art Brut, allem »An­de­ren«, mit den ver­schie­de­nen Ver­su­chen, Rea­li­tät zu über­stei­gen; fer­ner die Ab­leh­nung der Ec­ri­tu­re au­to­ma­tique. Im Un­ter­schied zu Ar­taud neigt sich bei YG das Ge­wicht mehr zur Über­rea­li­tät und bei Ar­taud mehr zum Ab­sur­den.

Mit Hui­do­bro ver­bin­den ihn: das Nicht-Ab­bil­den, viel­mehr Neu­er­schaf­fen, durch­aus im Sinne des »Creacio­nis­mo«; die Ana­lo­gie von Schöp­fer und Dich­ter; der hohe Stel­len­wert der Ver­nunft,die Ab­leh­nung der Ec­ri­tu­re au­to­ma­tique und die Be­to­nung des Kom­po­si­to­ri­schen im dich­te­ri­schen Akt; fer­ner die An­sicht, dass neue sprach­li­che Mög­lich­kei­ten nicht aus dem Nichts ent­ste­hen, son­dern von Tra­dier­tem aus­ge­hen und in sol­ches in­te­griert wer­den kön­nen.

Über diese drei we­sent­li­chen Ein­flüs­se hin­aus hat YG aus dem Fun­dus aller Ge­dan­ken und Theo­ri­en sei­ner Zeit ge­schöpft und sich davon prä­gen las­sen. So ver­band ihn mit Mag­rit­te der Glau­be an das »Mys­te­ri­um«, wel­ches sich in der Kunst er­eig­net. Goll er­scheint als der poeta doc­tus, der alles in sich auf­nimmt, ver­ar­bei­tet und ver­wen­det und genau aus die­sem Grun­de auch nicht in eine be­stimm­te Grup­pe mit fest­ge­leg­ter Ideo­lo­gie pass­te (wie es für de Chi­ri­co ein­mal zu­traf und neben Ar­taud zum Bei­spiel auf Mag­rit­te oder auch Max Ernst zu­trifft).

Yvan Golls theo­re­ti­sche Schrif­ten

YG hat von An­fang an sein dich­te­ri­sches Schaf­fen mit theo­re­ti­schen Re­fle­xio­nen be­glei­tet. Schon Mül­ler-Len­trodt (1997) hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass es dabei nicht ei­gent­lich um poe­ti­sche Pro­gram­me geht, die dann in Dich­tun­gen um­ge­setzt wer­den soll­ten, eben­so wenig wie es bei den Dich­tun­gen um die Ein­lö­sung die­ser Pro­gram­me geht. Viel­mehr sieht man das, was Benn in sei­nem Vor­trag »Pro­ble­me der Lyrik« über Lyrik und Essay sagt: »Fast schei­nen sie sich zu be­din­gen«. YG schreibt keine Pro­gram­me, er dich­tet und re­flek­tiert Dich­tung.

Texte 1917 bis 1920

Von 1917 bis 1920 er­schei­nen an wich­ti­gen Tex­ten: Vom Geis­ti­genAp­pell an die KunstDas neue Frank­reichBrief an den ver­stor­be­ne­nen Dich­ter Apol­li­n­ai­rePa­ri­ser Ta­ge­buch und Über Ku­bis­mus sowie Von neuer Fran­zö­si­scher Dich­tung. Sie zei­gen am An­fang den deut­li­chen Ein­fluss des Ex­pres­sio­nis­mus («Rufe an den Men­schen«), auch des Fu­tu­ris­mus (»Schrei«-Ma­ni­fes­te) und pro­pa­gie­ren den »Geist«, der »immer da­ge­gen« sei, gleich­zu­set­zen mit dem »ewi­gen Kampf« mit der Ge­gen­sei­te, die die »Sat­ten, die Denk­fau­len« um­fasst; sie ent­hal­ten fer­ner die De­fi­ni­ti­on, dass Kunst »Liebe« sei. Dabei wird deut­lich ge­macht, dass mit die­ser Liebe eine »so­zia­le Lie­bestä­tig­keit« ge­meint ist. Der Künst­ler ist Ar­bei­ter und seine Ar­beit ist »Kampf«, die Kunst »er­heischt Pu­bli­kum, ist eine öf­fent­li­che An­ge­le­gen­heit«. Das kann ge­le­sen wer­den als Ab­set­zen von dem El­fen­bein­turm der l’art pour l’art, ist aber noch wenig dif­fe­ren­ziert. Ganz all­ge­mei­ne For­de­run­gen wie »Der Mensch kehre zum Men­schen zu­rück« blei­ben al­ler­dings nicht al­lein. »Heute schimpft man auf Li­te­ra­ten, die nach po­li­ti­scher Wir­kung trach­ten. Wie soll ein geis­ti­ger Ar­bei­ter wir­ken als durch geis­ti­ge Auf­sta­che­lung?« zeigt die Ten­denz schon deut­li­cher; schlie­ß­lich wird es aus­ge­spro­chen, das »ego­is­ti­sche l’art pour l’art«. In Frank­reich habe es je­den­falls schar­fen Pro­test gegen den Krieg ge­ge­ben, in Deutsch­land sehr wenig. Ob­wohl das So­zia­le einen sehr hohe Stel­len­wert ein­neh­me, blei­be aber das In­di­vi­du­um die »ein­zi­ge Rea­li­tät«. Alles müsse auf ihm und sei­nem In­ter­es­se auf­ge­baut wer­den. Ge­wollt sei eine »tä­ti­ge«, eine »brü­der­li­che« Kunst«. In die­ser Kunst han­delt das In­di­vi­du­um, denn »Han­deln be­deu­tet: Den­ken, schöp­fe­risch sein.« Der Text soll zum »Leben und zur Rea­li­tät« auf­ru­fen, der ge­mein­te In­di­vi­dua­lis­mus sei »Tat­be­wusst­sein« wie bei Lu­ther, Eras­mus und Baku­nin, er sei »der Geist der Re­vo­lu­ti­on«.

Im Brief an den ver­stor­be­nen Dich­ter Apol­li­n­ai­re geht Goll einen Schritt wei­ter. Die Er­he­bung des Vol­kes aus dem All­tag in die Über­zeit­lich­keit sei ein Ziel, wel­ches die­ses Volk Vil­lon und Apol­li­n­ai­re ver­dan­ke. Dass dem »kleins­ten Ta­ges­er­leb­nis tiefs­te Me­lo­die ent­rauscht« be­tont Goll zu­gleich damit, dass Apol­li­n­ai­re die­ser »durch alle Jahr­hun­der­te der Dich­tung be­wie­se­nen Tat­sa­che« »theo­re­ti­schen Sinn und zu­gleich den Tauf­na­men [gab]: Über­rea­lis­mus (Sur­réa­lis­me), was mit dem rea­lis­ti­schen Na­tu­ra­lis­mus nichts ge­mein­sam hat.« Über­rea­lis­mus wird etwas wei­ter unten dann als »Über­zeit­lich­keit im Zeit­li­chen« be­zeich­net. Dar­über hin­aus aber er­ste­he noch mehr aus den Wor­ten, aus dem »Bild des Ge­dich­tes« als aus Klang und Rhyth­mus, »in Worte ge­gos­se­ne flim­mern­de Wel­len des Aug-Oze­ans«. Die­ser Text, geht es auch schon in frü­he­ren Tex­ten um Kunst, be­schäf­tigt sich also als ers­ter ganz aus­drück­lich mit der Poe­tik.

Pa­ri­ser Ta­ge­buch und Über Ku­bis­mus er­schie­nen beide 1920. Im ers­ten steht: »Wenn der Bür­ger mit sei­nen Fett­fin­gern in sol­chen As­ke­tis­mus, wie es der rein ver­stan­de­ne Ku­bis­mus ist, hin­ein­fuch­telt, so ist die Kunst ver­lo­ren.« Ku­bis­mus sei Hin­ga­be an das bloße Sein der Dinge«, »Ab­kehr von aller äu­ße­ren Er­schei­nungs­welt«, nicht ein neuer Geist, son­dern eine neue Form. »Ma­le­rei ist weder Wie­der­ga­be der Natur noch Be­stä­ti­gung einer Ge­sin­nung […], Ma­le­rei ist nichts als Ma­le­rei.« Der Ku­bist male Tisch, Man­do­li­ne, Trau­be »in ihrem in­ners­ten Sein«, er suche die »Ver­ein­fa­chung der Dinge und ihre Ob­jek­ti­vi­tät, das ›Ding an sich‹.« Er sei Künst­ler mit der Auf­ga­be, »eine Schöp­fung zu geben, eine Ein­heit, eine Welt in sich«.

Eben­falls 1920 er­schien der län­ge­re Text Von neuer fran­zö­si­scher Dich­tung. Dem Wil­len zur Macht des 19. Jahr­hun­derts würde der »Wille zum Geist« ent­ge­gen­ge­stellt. Selbst­be­sin­nung habe zu einer Be­frei­ung ge­führt, die aber ent­ge­gen­ge­setz­te Wir­kun­gen her­vor­ge­bracht habe: Ent­wick­lung zur po­li­ti­schen oder zur rei­nen Kunst. Ers­te­re über­wie­ge noch in Deutsch­land, in Frank­reich habe sich der Mensch im An­schluss an das in­stinkt­haf­te Auf­schrei­en auf sei­nen In­tel­lekt be­son­nen. Des Geis­ti­gen Werk­zeug sei das geis­ti­ge Werk. Die neu­es­te li­te­ra­ri­sche Ge­ne­ra­ti­on in Paris habe »Clar­té« und »In­di­vi­dua­lis­mus.« Dass die Kunst zur so­zia­len Er­neue­rung bei­trägt, wird wie im ers­ten Text be­tont, eben­so der Stel­len­wert des In­di­vi­du­ums als schöp­fe­ri­sches Wesen. Golls Text führt zu Un­ter­schei­dung zwi­schen »Mensch­lich­keits­kunst« und »Künst­le­ri­scher Kunst« und dann zu neu­er­li­cher De­fi­ni­ti­on des »Über­rea­lis­mus«, der »als neue Gott­heit« pro­kla­miert werde, nach­dem »aller Rea­lis­mus als lang­wei­lig emp­fun­den« würde und allem Vor­aus­ge­gan­gen, von den Par­nas­si­ens bis zum Sym­bo­lis­mus, »alle Schil­de­rung, Ab­zeich­nung, alles ego­is­ti­sche Baden in schö­nem Ge­fühl« ver­gan­gen sei. Er sei »nicht Über­he­bung über das Ir­di­sche, aber tie­fes Ein­le­ben in die­ses, ganz Er­ge­bung an das Sei­en­de, [...] an jeden Au­gen­blick, der ja ein Stück Ewig­keit ist.« Der Dich­ter wolle »nicht über­sinn­lich, aber trans­sinn­lich« sein. Die­sen neuen In­hal­ten ge­büh­re eine ad­äqua­te Form. Der Vers wolle »nicht Ver­schö­ne­rung, nicht il­lu­sio­nis­ti­sche Ver­bild­li­chung und me­ta­phern­haf­te Um­schrei­bung, er wolle »er selbst sein, schöp­fe­ri­sche Schöp­fung, Kunst. Der Vers, nicht mehr schön, son­dern Aus­druck der au­ßer­or­dent­li­chen Wahr­heit«. Die Welt werde in die At­mo­sphä­re der Über­wirk­lich­keit ge­taucht, das be­deu­te der »letz­ten gan­zen Wirk­lich­keit«. »Es sol­len nicht mehr Sätze ge­formt wer­den, son­dern Dinge aus Wor­ten.« Apol­li­n­ai­re habe be­reits diese For­de­run­gen auf­ge­stellt (»L’art doit être une créa­ti­on et non une re­pré­sen­ta­ti­on«) und dann auch rea­li­siert. Die »Dinge aus Wor­ten« wür­den al­ler­dings eine neue Tech­nik er­for­dern: »Keine Gram­ma­tik mehr, keine gan­zen Sätze«, und wenn es mög­lich wäre, dann wür­den Stü­cke von Din­gen »in die Bü­cher hin­ein­ge­klebt wer­den, wie es die Maler in ihren Ge­mäl­den tun.«

Wei­ter­hin er­schie­nen in den Jah­ren 1919 und 1920 Texte zur dra­ma­ti­schen Kunst. Diese müsse »den Men­schen wie­der zum Kind ma­chen«, das ein­fachs­te Mit­tel dazu sei die Gro­tes­ke«, aber ohne dass sie zum La­chen reize.« Das neue Drama würde »alle tech­ni­schen Mit­tel zu Hilfe zie­hen, die heute die Wir­kung der Maske aus­lö­sen«, wobei YG das Gram­mo­phon eben­so nennt wie die Maske der Stim­me, au­ßer­dem müss­ten Mas­ken mit phy­sio­gno­mi­schen Über­trei­bun­gen ein­ge­setzt wer­den. Dar­über hin­aus sei die »Basis für alle neue kom­men­de Kunst […] das Kino. »Wir ste­hen in einem neuen Zeit­al­ter, dem der Be­we­gung.« Bild jage Bild, die Be­we­gung sei das neue Ele­ment. »Die Um­wäl­zung war seit lan­gem ge­spürt: Fu­tu­ris­mus, Si­mul­ta­nis­mus. Pi­cas­so in der Ma­le­rei. Stramm in der Lyrik. Ah­nun­gen«. End­gül­tig seien Raum und Zeit über­rum­pelt, die »höchs­ten For­de­run­gen der Kunst: die Syn­the­se und das Spiel der Ge­gen­sät­ze« wür­den »durch die Tech­nik erst er­mög­licht«. Im un­be­grenz­ten Raum sei nicht die Hand­lung, son­dern die Be­we­gung die Basis, jeder Traum sei im Film rea­li­sier­bar, die »Fabel des ein­heit­li­chen Raums, der fünf Akte und allen Ku­lis­sen­re­qui­sits« dahin. Das »Ki­no­dram« werde nicht nur Dich­tung sein, son­dern alles: »Ma­le­rei, Musik, Plas­tik. Tanz«. Es habe aber auch eine »so­zia­le Be­deu­tung«, sei es doch nicht für ein Land ge­schaf­fen oder für eine Elite einer Stadt ge­spielt, viel­mehr ge­hö­re es allen. Zudem werde es bald »eine Ki­no­spra­che geben. [...] Eine Ra­dio­gramm-Ly­rik«.

Texte 1921-1923

Im Ja­nu­ar 1921 ver­öf­fent­lich­te YG in der Zeit­schrift Zenit den Text Der Ex­pres­sio­nis­mus stirbt. Ex­pres­sio­nis­mus, das sei nicht der Name »einer künst­le­ri­schen Form, son­dern einer Ge­sin­nung« ge­we­sen. Alle seien da­bei­ge­we­sen, auch er selbst, aber das Re­sul­tat sei »lei­der, und ohne Schuld der Ex­pres­sio­nis­ten, die deut­sche Re­pu­blik 1920«. Jetzt sei der Kampf zur Gro­tes­ke ge­wor­den, der »Geist in die­ser Schie­be­r­epo­che Ulk.« Die Welt­an­schau­ung des Ex­pres­sio­nis­mus habe nir­gend­wo ge­siegt, die­ser habe nicht einem von sech­zig Mil­lio­nen das Leben ge­ret­tet. Jetzt schei­ne »eine neue Kraft über uns zu kom­men: die ge­hirn­ma­schi­nel­le«. »Weg mit der Sen­ti­men­ta­li­tät, ihr Deut­schen, was gleich­be­deu­tend ist mit: Ihr Ex­pres­sio­nis­ten«. In Frank­reich sei man wäh­rend des gan­zen Krie­ges nicht sen­ti­men­tal ge­wor­den. »Neue Län­der rufen hin­term Ural, [...] hin­ter allen Ozea­nen ihren Wil­len zum Leben [...]. Junge Län­der. Junge Men­schen.« Die­ser Text Golls ist wich­tig und zu­nächst über­ra­schend, weil der Autor sich ja im Un­ter­schied zu den meis­ten zum Ex­pres­sio­nis­mus ge­zähl­ten Dich­tern aus­drück­lich selbst als Ex­pres­sio­nist be­zeich­net hatte. Spä­tes­tes aus sei­nem Ab­schieds­text geht klar her­vor, dass ge­ra­de er den Ex­pres­sio­nis­mus nicht als rein künst­le­ri­sche Be­we­gung, son­dern im Sinne einer um­fas­sen­den geis­tig-mo­ra­li­schen Er­neue­rung be­grif­fen hatte.

Vier Mo­na­te spä­ter, im Mai 1921, er­schien in der glei­chen Zeit­schrift Zenit das Ze­ni­tis­ti­sche Ma­ni­fest. Die­ses nun, of­fen­sicht­lich stark vom Da­da­is­mus ge­prägt, schreit ganz im Stil der Ma­ni­fes­te den »Hass« her­aus auf die »Lügen des Le­bens«, die »Phra­sen der Liebe«, wo doch die Na­tio­nen »als Tiere, als Mör­der, als Mi­li­ta­ris­ten« ge­bo­ren und auf­ge­päp­pelt wor­den seien, ein »ver­gif­te­tes Ge­schlecht«, dem »ZENIT« ent­ge­gen­ge­setzt wird als Aus­druck von Sonne, Wahr­heit, gegen die »sen­ti­men­ta­len Klein­na­tio­na­len« und den »Quatsch« von Na­tio­nen, Stamm­bäu­men, Ur­ge­schlech­tern. Nicht Fran­zo­sen, Ser­ben, Deut­sche seien die Men­schen, son­dern Eu­ro­pä­er, Ame­ri­ka­ner, Afri­ka­ner, der Mensch müsse »ohne Ab­zei­chen [...] in die of­fe­ne SONNE der Wahr­heit tre­ten.«

YG hatte sich dem Za­gre­ber Kreis und der Be­we­gung des Ze­ni­tis­mus ge­nä­hert, weil ihn of­fen­sicht­lich der In­ter­na­tio­na­lis­mus fas­zi­nier­te. In der Zeit­schrift wur­den mehr­spra­chi­ge Texte ver­öf­fent­licht. Der Her­aus­ge­ber Micic al­ler­dings ver­band »sei­nen avant­gar­dis­ti­schen, sehr stark am ita­lie­ni­schen Fu­tu­ris­mus aus­ge­rich­te­ten Aus­drucks­wil­len mit (vom deut­schen Ex­pres­sio­nis­mus in­spi­rier­tem) Mensch­heits­pa­thos und Ideen eines bal­kan­völ­ki­schen Kraft- und Über­men­schen­tums« (Ull­mai­er 1995), was zu YGs pa­zi­fis­tisch-kos­mo­po­li­ti­scher Grund­hal­tung kei­nes­falls pass­te. So wurde die Nähe zum Ze­ni­tis­mus für die Ent­ste­hung sei­nes Ge­dich­tes Paris brennt wich­tig, letzt­lich dau­er­te sie aber nicht lange, wie über­haupt der Ze­ni­tis­mus eine kurz­le­bi­ge avant­gar­dis­ti­sche Be­we­gung war. YG hat ihn wahr­ge­nom­men als »Bän­di­gung und Zu­sam­men­bal­lung aller Ismen«, wobei er­stre­bens­wert wäre, aus allen das Beste zu neh­men. Nach White ( in Ro­bert­son -Vil­lain 1997) hat der Ze­ni­tis­mus YGs seine Wur­zeln nicht nur im deut­schen Ex­pres­sio­nis­mus, son­dern auch und be­son­ders im fran­zö­si­schen Or­phis­mus und im ita­lie­ni­schen Fu­tu­ris­mus, mit bei­den teile er den An­spruch, die de­fi­ni­ti­ve li­te­ra­ri­sche Re­prä­sen­ta­ti­on eines neues Zeit­al­ters zu sein. Im Üb­ri­gen sei der Ze­ni­tis­mus ein »mar­gi­nal bal­kan avant­gar­de li­tera­ry mo­ve­ment« und »die is­men­syn­kre­tis­ti­sche Pro­pa­gie­rung mo­der­nis­ti­scher Stil­mit­tel als es­sen­ti­ell eine Fort­set­zung des Ex­pres­sio­nis­mus mit an­de­ren Mit­teln« ge­we­sen, wäh­rend auf der an­de­ren Seite er ihn in Apol­li­n­ai­res Schuld ste­hen sieht, »des­sen Eklek­ti­zis­mus er wei­ter ent­fal­tet und for­ciert.«

Den Ex­pres­sio­nis­mus hatte YG über­win­den wol­len, (»er »stirbt«), aber seine Hal­tung dazu war wohl sehr kom­plex, nicht nur ab­leh­nend. Er woll­te seine ex­pres­sio­nis­ti­sche Ly­rik­auf­fas­sung eher er­wei­tern und mo­der­ni­sie­ren als er­set­zen. Der Text, in dem er das for­mu­liert und ex­pres­sis ver­bis von einer »neuen Poe­tik« spricht, wurde im Ok­to­ber 1921 ver­öf­fent­licht: Das Wort an sich. Hier geht Goll noch­mals auf den Ex­pres­sio­nis­mus ein, aber nicht mehr auf des­sen In­hal­te. Was ge­fehlt habe? »Die Form«, und Form müsse »der ad­äqua­te, in­ner­lich wie äu­ßer­lich be­grün­de­te Aus­druck eines Zeit­in­hal­tes sein.« Die heu­ti­ge Form sei »eine Ver­ti­ka­le«, steil müsse also auch die Spra­che sein, »hart. Nackt. Und vor allem ein­deu­tig.« Die Ex­pres­sio­nis­ten hät­ten diese Not­wen­dig­kei­ten ge­spürt, aber nicht ge­löst. »Die Spra­che wurde ver­ge­wal­tigt und ver­hurt, statt zur gro­ßen Ein­fach­heit und Keusch­heit er­ho­ben.« Zum Aus­druck des neuen Emp­fin­dens ge­hö­re eine »Ur­spra­che, eine ein­fa­che, ein­deu­ti­ge Kunst«, denn »Lyrik muss ein­deu­tig sein.« Es sei frag­lich, ob eine eu­ro­päi­sche Spra­che »mit so­viel Klas­si­kern im Blut« das noch sein könne. Er würde des­halb ver­su­chen, Es­pe­ran­to zu dich­ten. Es gelte, »den grö­ßt­mög­li­chen In­halt in die aku­tes­te und zu­gleich ein­fachs­te Form zu brin­gen, [...] tiefs­tes Er­leb­nis in Te­le­gram­me zu kom­pri­mie­ren, und zwar ste­no­gra­phiert.« Und dann die Frage: »Und dabei doch Ge­sang sein?« Und die Ant­wort: »Nicht ge­ra­de Ge­sang. Aber Rhyth­mus«. »Das Wort an sich« sei die For­mel einer Lyrik, die »mo­der­nen For­de­run­gen ge­recht wird«, al­ler­dings nicht im Sinne von Ma­ri­net­ti, der »Wort« und Dich­tung ma­te­ria­lis­tisch auf­fas­se, denn: »Wir glau­ben an die me­ta­phy­si­sche Sen­dung der Poe­sie«. »Wort – an – sich – Dich­tung ist nicht Aus­druck, son­dern An­deu­tung«, das Ge­gen­teil sei die »de­ka­den­te, ge­dank­lich aus­spin­nen­de Kunst, die der müden sen­ti­men­ta­len Ge­schlech­ter.« Das Wort an sich sei »Ma­te­rie, ist Erde, die ge­stanzt, Dia­mant, der zi­se­liert sein will. Es ist meist Haupt­wort. Sehr rea­lis­tisch.« Das er­in­nert an G. Benns 30 Jahre spä­te­re For­mu­lie­rung »Worte, Worte, Sub­stan­ti­ve!« Die »an­de­re Ein­fach­heit« sei der al­lein­ste­hen­de Satz. »Immer Haupt­sät­ze. Jeder Satz­vers in seine ei­ge­ne At­mo­sphä­re ge­stellt, wie Te­le­gra­phen­dräh­te, alle iso­liert, jeder seine ei­ge­ne Mel­dung tra­gend. [...] Jeder Vers iso­liert [...], des­halb kann es kei­nen Reim, keine Stro­phe mehr geben! Diese Dinge sind nicht nur un­mo­dern oder lang­wei­lig ge­wor­den, son­dern di­rekt un­mög­lich.« Al­ler­dings: »Der Mensch wirkt nur je nach der Ge­sell­schaft, in der er sich be­fin­det. Der Vers auch. Jeder Vers muss ein Gan­zes sein und be­wuss­ter Trä­ger eines Gan­zen.« Die ja­pa­ni­schen Ge­dich­te wür­den nur drei Verse brau­chen, um die Welt aus­zu­drü­cken. Ein­fach­heit sei also »Über­bord­wer­fen ra­len­tie­ren­der Gram­ma­tik, […] letz­te Re­du­zie­rung auf das Not­wen­di­ge.« Be­son­ders nötig sei aber die Ein­fach­heit da, wo der In­halt des Ver­ses »zum Plat­zen ge­la­den« sei, »die Elek­tri­fi­zie­rung des In­tel­lekts er­folgt ist: Hoch­span­nung.« Die neue Form sei not­wen­dig wegen des neuen Prin­zips »Ge­schwin­dig­keit des Le­bens, die durch die Tech­nik her­vor­ge­ru­fen« sei. Wenn man sich die­ses neue Prin­zip nicht an­eig­nen, die neue Spra­che nicht er­fin­den würde, so könn­ten wir »pri­mi­tiv für das vier­te Jahr­tau­send« wer­den.

Hier wer­den fu­tu­ris­ti­sche For­de­run­gen über­nom­men, so der Mit­tel­punkt von Tech­nik, Be­we­gung und Ge­schwin­dig­keit sowie die grö­ßt­mög­li­che Kom­pri­mie­rung. Al­ler­dings kön­nen diese bei YG nicht in ideo­lo­gi­sche For­de­run­gen ein­ge­ord­net wer­den wie bei Ma­ri­net­ti. Tech­nik soll nicht an­ge­be­tet und ver­herr­licht wer­den, son­dern wahr­ge­nom­men als Aus­druck der Zeit, und nach die­ser soll sich auch die Spra­che des Dich­ters rich­ten. Dar­über hin­aus soll Poe­sie so­wohl »Rhyth­mus« wie auch eine »me­ta­phy­si­sche Sen­dung« haben.

Das Ma­ni­fest des Sur­rea­lis­mus

Golls Ma­ni­fest des Sur­rea­lis­mus er­schien zeit­lich vor dem Bre­tons 1924 in sei­ner Zeit­schrift »Sur­réa­lis­me«. Rea­li­tät, steht da, sei die Basis jeder gro­ßen Kunst, und jede künst­le­ri­sche Schöp­fung habe ihren Aus­gangs­punkt in der Natur. Als die Ku­bis­ten Ge­gen­stän­de in ihrer gan­zen Wirk­lich­keit in ihre Bil­der hin­ein­kleb­ten, was »Über­tra­gung der Wirk­lich­keit auf eine hö­he­re künst­le­ri­sche Ebene« be­deu­te, sei der Sur­rea­lis­mus ent­stan­den. Die Kon­zep­ti­on stam­me von Apol­li­n­ai­re, für den die Worte des All­tags­le­bens »eine selt­sa­me Magie« ge­habt hät­ten, so dass er aus ele­men­ta­rem Ma­te­ri­al poe­ti­sche Bil­der ge­formt habe. »Das Bild ist heute der Prüf­stein guter Dich­tung. Die Schnel­lig­keit der As­so­zia­ti­on zwi­schen dem ers­ten Ein­druck und dem letz­ten Aus­druck be­stimmt die Qua­li­tät des Bil­des«, wobei die schöns­ten Bil­der die seien, »die weit von­ein­an­der ent­fern­te Ele­men­te der Wirk­lich­keit am di­rek­tes­ten und schnells­ten ver­bin­den«. Im Ge­gen­satz dazu habe bis zu Be­ginn des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts das Ohr über die Qua­li­tät eines Ge­dichts ent­schie­den. Rhyth­mus, Klang, Stab­reim, Vers, alles sei für das Ohr ge­we­sen. Aber: »wir sind im Jahr­hun­dert des Films. Mehr und mehr ma­chen wir uns durch vi­su­el­le Zei­chen ver­ständ­lich. Schnel­lig­keit be­stimmt heute die Qua­li­tät«. Kunst sei »Aus­strah­lung des Le­bens […].Über­rea­lis­mus, Aus­druck un­se­rer Epo­che, hält sich an die Sym­pto­me, die sie cha­rak­te­ri­sie­ren. Er ist di­rekt, in­ten­siv und weist Küns­te, die sich auf abs­trak­te Zwei­te-Hand-Be­grif­fe stüt­zen wol­len, zu­rück: Logik, Äs­the­tik, gram­ma­ti­sche Ef­fek­te, Wort­spie­le.« Au­ßer­dem be­gnü­ge sich der Sur­rea­lis­mus nicht damit, Aus­drucks­mit­tel einer Grup­pe eines Lan­des zu sein: »Er ist in­ter­na­tio­nal. Er wird alle Ismen, die Eu­ro­pa spal­ten, auf­sau­gen und von jedem die le­bens­wich­ti­gen Ele­men­te neh­men.« Ohne Bre­ton mit Namen zu nen­nen, folgt schlie­ß­lich eine Be­schrei­bung jenes an­de­ren Sur­rea­lis­mus: »Diese Fäl­schung des Sur­rea­lis­mus, die ei­ni­ge Ex-Da­das er­fun­den haben, um den Bür­ger zu bluf­fen, wird wie­der von der Bild­flä­che ver­schwin­den. Sie ver­kün­det die All­macht des Traums und stem­pelt Freud zur neuen Muse. Als ob sich die Lehre Freuds in die Welt der Poe­sie über­tra­gen ließe! Heißt das nicht, Psych­ia­trie und Kunst ver­wech­seln? Ihr »psy­chi­scher Me­cha­nis­mus«, auf Traum und gleich­gül­ti­gem Spiel des Ge­dan­kens ba­siert, wird nie­mals die Kraft haben, un­se­ren phy­si­schen Or­ga­nis­mus zu zer­stö­ren. Denn die­ser lehrt uns, dass die Rea­li­tät immer Recht be­hält, dass das Leben wah­rer ist als der Ge­dan­ke. Unser Sur­rea­lis­mus fin­det die Natur wie­der, das Ur­ge­fühl des Men­schen, und sucht, – mit Hilfe eines völ­lig neuen künst­le­ri­schen Ma­te­ri­als – auf­zu­bau­en.« Auch wenn sich die Pro­gno­se Golls in der Ge­schich­te als falsch er­wies, weist er mit sei­ner Be­grün­dung auf etwas Grund­sätz­li­ches hin: einen Ka­te­go­ri­en­feh­ler. Das Pro­blem ist nicht aus­ge­stor­ben. Man wird er­in­nert an die un­end­li­che zeit­ge­nös­si­sche Dis­kus­si­on um Ge­hirn und Be­wusst­sein zwi­schen »der Hirn­for­schung« und »der Phi­lo­so­phie«.

Goll er­öff­ne­te im Au­gust 1924 die ei­gent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um die rich­ti­ge Auf­fas­sung des Su­rea­lis­mus, die »Que­rel­le sur­réa­lis­te«, (aus­führ­lich be­han­delt bei Mül­ler-Len­trodt 1997 und Knauf 1996), wobei er sich zu­nächst nur zum An­walt Apol­li­n­ai­res macht, dann aber Bre­ton auch di­rekt an­greift. Ver­gleicht man die Ma­ni­fes­te der bei­den Au­to­ren, so fällt zu­nächst die Ge­mein­sam­keit auf, dass sich beide auf Apol­li­n­ai­re be­ru­fen, we­sent­li­che Un­ter­schie­de wer­den al­ler­dings eben­falls gleich deut­lich. So ging es Apol­li­n­ai­re ja we­ni­ger um Au­to­ma­tis­men als »um un­ge­wohn­te Kom­bi­na­ti­ons­wei­sen, die mög­li­cher­wei­se un­be­wusst oder ver­se­hent­lich zu­ta­ge tre­ten, aber weder ohne Ab­sich­ten noch künst­le­ri­schen Ge­stal­tungs­wil­len«, wie Bür­ger schreibt (in Re­ents 2009). Das hatte Apol­li­n­ai­re an sei­nem Bei­spiel von der Er­fin­dung des Rades in Les Ma­mel­les de Tei­re­si­as il­lus­triert. YG lehnt Bre­tons Ver­ab­so­lu­tie­rung Freuds ab, was nicht Ab­leh­nung von Freud oder der Psy­choa­la­ny­se be­deu­tet, son­dern Ab­leh­nung der Ver­men­gung von Dich­tung und Psych­ia­trie. Dar­über hin­aus steht im Mit­tel­punkt die Bild­theo­rie. Im Grun­de geht es Goll immer um die For­de­rung nach einer Aus­drucks­wei­se, die sich auf der Höhe der Zeit be­fin­det: Über­rea­lis­mus als »Aus­druck un­se­rer Epo­che«, an­de­rer­seits bleibt er wei­ter­hin der »Natur« und dem »Ur­ge­fühl des Men­schen« ver­haf­tet.

Warum blieb YGs Ma­ni­fest fol­gen­los? Das am Ende an­ge­führ­te »Ur­ge­fühl des Men­schen« oder dass der Sur­rea­lis­mus »mit Hilfe eines völ­lig neuen künst­le­ri­schen Ma­te­ri­als auf­zu­bau­en sucht« ist eine sehr vage For­mu­lie­rung. Im Ge­gen­satz zu Bre­tons Ma­ni­fest gibt es in die­sem Text keine kla­ren An­ga­ben zu einer Me­tho­dik oder Tech­nik, kein Pro­gramm, wel­ches grup­pen­bil­dend hätte wir­ken kön­nen. Bei Bre­ton gab es klar struk­tu­rier­te Vor­ga­ben; al­ler­dings woll­te YG wohl auch gar keine Grup­pe grün­den und auf­recht­er­hal­ten. Es ging ihm von An­fang an und immer nur um Dich­tung. Er wehr­te sich gegen die Ver­mi­schung von Psych­ia­trie und Li­te­ra­tur, wie er es nann­te und woll­te die All­tags­wirk­lich­keit als Aus­gangs­punkt für die Dich­tung be­to­nen, wobei aber nicht wie­der­ge­ge­ben, son­dern poe­tisch über­rea­li­siert wer­den soll­te, was ein Kon­zept und künst­le­ri­sche Ar­beit vor­aus­setzt. Das un­ter­schei­det ihn ra­di­kal von Bre­ton, der den Autor ohne Kon­zept durch Au­to­ma­tis­men und un­be­wuss­te Ab­läu­fe in­spi­riert, aber auch ge­steu­ert haben woll­te. Man könn­te über­spitzt for­mu­lie­ren, dass der Sur­rea­list nach Bre­ton pri­mär »pas­siv« ist, Re­zep­tor, der Über­rea­list Golls »aktiv«, Ge­stal­ter. YG be­ton­te im Ge­gen­satz zu Bre­ton immer wie­der die wich­ti­ge Rolle des Ku­bis­mus für die Sur­rea­lis­ten. Er woll­te neu zu er­schaf­fen­de Wirk­lich­keit, Über­wirk­lich­keit durch den Künst­ler, tas­te­te aber an­sons­ten die Rea­li­tät pri­mär nicht an. Bre­ton ging es da­ge­gen um eine rea­lité su­pe­ri­eu­re, ge­kenn­zeich­net durch das Ein­rei­ßen der den Men­schen nor­ma­ler­wei­se ein­engen­den Gren­zen, haupt­säch­lich des Be­wusst­seins, wo­durch es zu einer Er­wei­te­rung der sonst ge­ge­be­nen Wirk­lich­keit käme. Dar­über hin­aus woll­te Bre­ton ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Ein­fluss neh­men; YG woll­te das nicht, für ihn blieb die Kunst letzt­lich im Reich der Äs­the­tik an­ge­sie­delt. Auch aus die­sem Grun­de nahm er wohl den Kampf mit Bre­ton gar nicht auf, son­dern zog sich nach dem Abend, an dem es zu einem Hand­ge­men­ge Bre­ton – Goll kam, zu­rück aus dem ge­sam­ten Dis­kurs, nahm keine Stel­lung mehr und zog es vor, sich nur noch sei­ner ei­ge­nen Poe­tik und Poe­sie zu wid­men. Goll und Bre­ton haben sich im ame­ri­ka­ni­schen Exil wie­der­ge­trof­fen. Ein in­ter­es­san­tes Licht auf das Ver­hält­nis der bei­den Män­ner wirft die von Mül­ler-Len­trodt (1977) un­ter­such­te Ge­schich­te des da­ma­li­gen Brief­wech­sels.

Die we­sent­li­chen Un­ter­schie­de Goll – Bre­ton seien noch­mals zu­sam­men­ge­fasst:

YG war ein Ein­zel­gän­ger und hat sich letzt­lich in keine Grup­pe ein­ge­fügt. Er hat den Sur­rea­lis­mus nie als po­li­ti­sches Pro­gramm emp­fun­den. Er war gegen die psy­cho­ana­ly­ti­sche Aus­rich­tung des Bre­ton­schen Sur­rea­lis­mus.

Vor allem aber hat er den »rei­nen psy­chi­schen Au­to­ma­tis­mus« (und damit auch die Ec­ri­tu­re au­to­ma­tique) ab­ge­lehnt, der nach Bre­ton den Sur­rea­lis­mus de­fi­niert. Immer hatte er ein Kon­zept und ein Thema, wel­ches er be­wusst be­ar­bei­te­te. Der »Sur­rea­lis­mus« Golls un­ter­schei­det sich vom Sur­rea­lis­mus Bre­tons also haupt­säch­lich durch das Kon­zept des Dich­ters als Schöp­fer neuer Wel­ten, wel­cher Ver­nunft und Kennt­nis­se in den Schaf­fens­pro­zess ein­bringt, im Ge­gen­satz zum Emp­fän­ger er­wei­ter­ter Rea­li­tä­ten, wel­cher dem ( nach Bre­tons sur­rea­lis­ti­schem Ma­ni­fest) »Denk-Dik­tat ohne jede Ver­nunft-Kon­trol­le« un­ter­liegt.

Das Ma­ni­fest des Reis­mus

Vier­und­zwan­zig Jahre lie­gen zwi­schen Golls Ma­ni­fest des Sur­rea­lis­mus und dem des Reis­mus. Jahre, in denen sein gro­ßer Ge­dich­te­zy­klus Jo­hann Oh­ne­land – Jean sans terre er­schie­nen war, die Ro­ma­ne, die Wech­sel­dich­tun­gen mit CG, die Ma­lay­si­schen Lie­der. Jahre des Exils, schlie­ß­lich der Krank­heit. »Reis­mus« ist die letz­te poe­to­lo­gi­sche Re­fle­xi­on, (Pout­hier), der letz­te Ismus des Dich­ters YG; von nie­man­dem wird er ge­teilt, seine ei­ge­ne Er­fin­dung und Ent­de­ckung ist er, und er starb mit dem Dich­ter. Nicht ein­ge­gan­gen wer­den kann hier al­ler­dings auf die phi­lo­so­phi­sche Reis­mus­theo­rie bei T. Ko­tar­bin­ski( Lem­ber­ger Schu­le). Es ist mög­lich, dass YG seine Schrif­ten ge­kannt hat – zumal da Ver­bin­dun­gen Ko­tar­bins­kis zum Wie­ner und Ber­li­ner Kreis be­stan­den. Hin­wei­se dar­auf habe ich in YGs Schrif­ten im Ver­lauf mei­ner Re­cher­chen aber nicht ge­fun­den.

Die Ein­gangs­fra­ge »Ent­springt die Poe­sie dem Wort oder dem Ge­gen­stand?« führt zu­nächst zu der – in eine rhe­to­ri­sche Frage ge­klei­de­ten – Fest­stel­lung, dass eine Dich­tung, die »nur dem Wort ent­sprang«, im Ge­biet der Rhe­to­rik, Gram­ma­tik, der vom Men­schen er­schaf­fe­nen Künst­lich­keit« ste­cken­blei­be. Was muss also ge­sche­hen? »Um die Es­senz des Le­bens aus­zu­drü­cken, müs­sen Kunst und Ma­le­rei dem Ding an sich, dem Res, ent­strö­men: Blume sein, mit der Wur­zel ver­bun­den. Diese Wur­zel ist res und nicht Rea­li­tas. Sie ist das ve­ge­ta­ti­ve Ob­jekt in Be­we­gung und nicht die Rea­li­tät, wie sie der Mensch sieht, denkt oder träumt. Rea­lis­mus, Sur­rea­lis­mus, Neue Rea­li­tät stam­men von der Wirk­lich­keit ab. Der Reis­mus, den wir als grund­le­gen­de Theo­rie vor­schla­gen, ent­springt dem ab­so­lu­ten Ding. ›Am An­fang war das Wort‹? Stel­len wir lie­ber fest: ›Am Ende war das Wort‹, nach einer lan­gen ge­dul­di­gen Me­ta­mor­pho­se, die, im Dich­ter, den Ge­gen­stand in Wort ver­wan­del­te.« Die For­mu­lie­rung am Ende des Tex­tes liest sich wie das per­sön­li­che Glau­bens­be­kennt­nis des Dich­ters YG: »Wenn es wahr ist, dass die Welt von einer sich un­auf­hör­lich er­neu­ern­den En­er­gie er­schaf­fen ist, die die Völ­ker Gott nen­nen, dann hat der Dich­ter die Auf­ga­be, mit dem Verb be­waff­net, aus sei­ner per­sön­li­chen Sub­stanz das Wort mit der to­ta­len Aus­strah­lung zu ge­bä­ren: Res. Der Reis­mus, im Ge­gen­satz zur will­kür­lich abs­trak­ten Kunst, die in der Dich­tung mit der Idee und dem will­kür­li­chen Bild des Ge­gen­stan­des spielt, streift das res eben­so nah wie der Gläu­bi­ge die Es­senz Got­tes.«

Car­mo­dy hat einen Zu­sam­men­hang ge­se­hen zwi­schen dem Reis­mus und dem, was er als »sci­en­ti­fic poe­try« be­zeich­net. As­sall meint, dass der Dich­ter hier für den schwei­gen­den Gott spre­che. Letz­lich sagt der Text hier aber nur aus, der Dich­ter – Reist habe die Auf­ga­be, das Ding an sich (res) in Worte zu fas­sen und es da­durch zu zei­gen. Das Kunst­werk ent­springt also nicht dem Wort, son­dern dem Ge­gen­stand, dem »ab­so­lu­ten Ding«. Der Dich­ter er­reicht durch seine Ar­beit die Me­ta­mor­pho­se, der Ge­gen­stand wird in Wort ver­wan­delt. Hier wird der Ge­dan­ke des mo­der­nen Dich­ters und sei­ner Ar­beit im Wort­la­bo­ra­to­ri­um kom­bi­niert mit der al­che­mis­ti­schen Vor­stel­lung der Mög­lich­keit von Um­wand­lung und Läu­te­rung. Das hat auch Schwandt ge­se­hen, der al­ler­dings dar­aus schlie­ßt, es ginge darum, das ei­ge­ne poe­ti­sche Ver­fah­ren im gro­ßen Werk der Al­che­mis­ten zu ob­jek­ti­vie­ren. Der Dich­ter ist nicht das Genie, wel­ches nur als Me­di­um für eine Ein­ge­bung exis­tiert, son­dern er ist ein Ar­bei­ter mit der Auf­ga­be, das »Wort mit der to­ta­len Aus­strah­lung zu ge­bä­ren«, kommt aber in die­sem Pro­zess dem Gött­li­chen nahe.

Für ein wei­ter­füh­ren­des Ver­ständ­nis des Reis­mus­kom­ple­xes sind zwei Texte er­hel­lend, die sich im Hand­schrif­ten­ar­chiv des DLA Mar­bach be­fin­den:

a. Reis­me

Es han­delt sich um ein Ty­po­skript, unter des­sen Titel ver­merkt ist »Notes par Reis­me fai­tes quel­ques se­mai­nes avant sa mort«. Hier wird ex­pli­zit auf die Kab­ba­lis­ten Bezug ge­nom­men. »Le mot est l’ul­ti­me éle­ment des éle­ments. [...] C’est ainsi que les kab­ba­lis­tes créent Dieu, en pro­nonçent Son nom.« Die Tech­nik sei ge­we­sen, am Ende einen puren Ex­trakt her­zu­stel­len, den Namen Got­tes, den höchs­ten Aus­druck des Seins. So habe Abula­fia im 13. Jahr­hun­dert Buch um Buch ge­schrie­ben, um durch »spe­cu­la­ti­ons ver­ba­les« den Namen Got­tes zu su­chen, zwei­und­sieb­zig Namen habe er ge­fun­den. »Le poete n’a pas be­so­in d’une re­li­gi­on, mais il a be­so­in d’une lan­gue et d’un mythe, pour trou­ver le nom de Dieu. Ecri­re un poéme, c’est re­cher­cher, non la pier­re phi­lo­so­pha­le, mais la pa­ro­le phi­lo­so­pha­le, matière ma­gi­que.« Am Ende steht in die­sem Text YGs De­fi­ni­ti­on von Ge­dicht und Dich­ter: »Le poème: ex­pri­mer la chose, lui don­ner exis­tence hu­mai­ne. Le poète: l’al­chi­mis­te de l’al­pha­bet.«

b. Le Reis­me

Hier han­delt es sich um zwei Blät­ter (Kopie) eines In­ter­views mit YG im Ho­pi­tal Civil Stras­bourg 1949, die ein­ge­se­hen wer­den kön­nen, aber nicht ko­piert wer­den dür­fen. Ge­fragt nach sei­ner per­sön­li­chen Dich­tungs­theo­rie, ant­wor­tet YG in die­sem In­ter­view, diese sei der Reis­mus, »l’árt qui va a la ra­ci­ne des cho­ses et des mots [...] poe­sie ex­trai­te de la ra­ci­ne pre­mie­re: de Res, la chose qui est«. Es gehe immer um die Dis­kus­si­on von Rea­lis­mus und Sur­rea­lis­mus. Nach dem Über­win­den des »Dik­tats des Un­be­wuss­ten« hät­ten viele Sur­rea­lis­ten das Reale als Quel­le wie­der­ge­fun­den – was sei denn wohl rea­ler als Bil­der von Max Ernst oder Mag­rit­te? Die Post-Sur­rea­lis­ten wür­den zu den wah­ren Quel­len zu­rück­keh­ren, »au ro­man­tis­me al­le­mand qui con­te­n­ait, sans theo­rie, tous les germs et tou­tes les vit­ami­nes de la poé­sie op­po­sée a la rea­lité«. Er kommt wie­der zu spre­chen auf die Be­grif­fe Wort und Ding, er­wähnt Sart­re, der sich be­schäf­tigt habe mit »Le Mot ex­pri­mant la Chose«, eben­so wie »les Mots en li­ber­te d’Apol­li­n­ai­re« und »Par­ti-Pris-des Cho­ses de Fran­cis Ponge« und stellt Rea­lis­mus (»l’art de de­cri­re le monde comme on le voyait«) dem Reis­mus ge­gen­über («l’árt de faire sur­gir le monde de sa ve­rité in­te­ri­eu­re, de ses lois fon­da­men­ta­les, de ses ra­ci­nes bio­lo­gi­ques et cosmi­ques«). Schwandt (1968) weist dar­auf hin, dass Goll Sart­re kann­te, auch auf des­sen Auf­satz im Hin­blick auf F. Ponge, wo er das Wort »mot­cho­se« be­nutzt; eben­so weist er hin auf den Un­ter­schied zwi­schen Goll und Ponge (Pon­ges Ziel sei Imi­ta­ti­on: mot-cho­se, Golls In­te­gra­ti­on: mot­cho­se.) Beide ver­ei­ne in­des­sen, dass am An­fang des dich­te­ri­schen Pro­zes­ses Dinge ste­hen, nicht Wör­ter.

Am Ende des In­ter­views schlie­ßt YG den Kreis zur Kab­ba­la (» La Kab­ba­le con­ti­ent des tré­sors de matière poe­tique«) und be­zieht sich auf Abula­fia, des­sen Bü­cher unter dem Pseud­onym Ra­ziel er­schie­nen seien. »Celui qui nom­me­ra Dieu, le connaîtra«. Was sei also na­tür­li­cher für die Dich­ter, als die Kab­ba­lis­ten nach­zu­ah­men, denn auf diese Weise könn­ten sie sich der »con­naisance suprême« nä­hern. »Et les poe­tes mo­der­nes font’ ils autre chose que de cher­cher par la Mot, a tra­vers le Verbe l’és­sence de la vie, la ra­ci­ne des cho­ses, le nom de Dieu«.

Es mag rich­tig sein, was Car­mo­dy (1956) sta­tu­iert, dass sich am Ma­ni­fest des Reis­mus zeige, YG be­sä­ße nicht » the man­ner of phra­sing a theo­ry that makes foun­ders of schools« . Den­noch ist es kaum ge­recht­fer­tigt, zu sagen: »the con­cepts as sta­ted are ob­scu­re«. YG ver­bin­det hier das »Ding an sich« mit dem von ihm schon 1921 be­nutz­ten Be­griff »Wort an sich«. Be­reits 1918 hatte er eine Poe­tik ent­wor­fen, in der er we­sent­li­che As­pek­te in Bezug auf Mall­ar­mé an­sprach – das Wort als prima ma­te­ria, seine Au­to­no­mie, die Ob­jekt­er­zeu­gung durch das Wort – wobei aber all dies jetzt immer mehr in al­che­mis­ti­sches und vor allem kab­ba­lis­ti­sches Ge­dan­ken­gut in­te­griert wird. We­sent­lich ist, dass YG das Wort in den Mit­tel­punkt der Schöp­fung stellt, die Dinge wer­den erst durch Spra­che er­schaf­fen. Das Pro­blem, wel­ches be­reits Schwandt be­schrie­ben hat, ist, dass er sich mit der For­mu­lie­rung vom Ding an sich, wel­che er of­fen­sicht­lich von Kant be­zieht, auf die phi­lo­so­phi­sche Ebene der Dis­kus­si­on be­gibt. Er meint nun, das Ding an sich sei er­kenn­bar ( im Ge­gen­satz zu Kant). Al­ler­dings geht es ihm gar nicht um Phi­lo­so­phie, son­dern um Poe­tik; das Ding an sich wird näm­lich durch das Wort of­fen­bart, es ist erst er­kenn­bar, wenn es die Me­ta­mor­pho­se, die Trans­mu­ta­ti­on, durch­lau­fen hat, die der Dich­ter vor­nimmt. Die Ver­ar­bei­tung durch den Dich­ter ist ein al­che­mis­ti­scher Akt oder, je nach­dem, eine kab­ba­lis­ti­sche Tech­nik. Am Ende steht die neue Wirk­lich­keit mit neu er­schaf­fe­nen »Din­gen« durch den Dich­ter. Auch hier steht YG in der Tra­di­ti­on von Rim­baud und Apol­li­n­ai­re, Rim­bauds Al­che­mie des Wor­tes und Apol­li­n­ai­res al­chi­mies ar­chi­ly­ri­ques.

 

Die Kunst soll die Rea­li­tät über­rea­li­sie­ren. Das erst ist Poe­sie.
Yvan Goll

Yvan Golls Über­rea­lis­mus und seine Poe­tik

Für den Rea­lis­mus exis­tiert die ganze ma­te­ri­el­le Wirk­lich­keit un­ab­hän­gig von un­se­rem Be­wusst­sein, un­se­rer An­schau­ung, un­se­rer Spra­che. Nietz­sche sprach von meh­re­ren Arten, diese Wirk­lich­keit zu sehen, (Per­spek­ti­vis­mus), aber auch vom Hin­aus­ge­hen über die Be­dingt­heit des Men­schen (Über­mensch). Wie aus den Äu­ße­run­gen YGs her­vor­geht, stellt er die Rea­li­tät an den An­fang, sie ist Grund­la­ge, der Boden, von dem alles aus­geht. Dann aber geht es in der Kunst nicht um Nach­ah­mung, son­dern um Über­rea­li­sie­rung, um Neu­kon­struk­ti­on. Am Wort ge­schieht eine Me­ta­mor­pho­se durch die Ar­beit des Dich­ters, wobei neue Ma­te­ria­li­en, die auch nur Fund­stü­cke sein kön­nen, im Sinne von Mon­ta­ge be­nutzt wer­den. So wird die Wirk­lich­keit durch den Künst­ler in eine neue Rea­li­tät trans­for­niert, ein al­che­mis­ti­scher Vor­gang. Auch das Ge­dicht Ars poe­ti­ca müss­te hier ein­be­zo­gen wer­den, wel­ches schlie­ß­lich nicht in der Form einer theo­re­ti­schen Schrift, son­dern in der stren­gen, an ein Son­nett er­in­nern­den Ge­dicht­form, die Grund­la­gen von YGs Poe­tik ent­wi­ckelt. Man sieht, dass der Dich­ter eine kon­stru­ie­ren­de Kunst höher ein­stuft als eine be­schrei­ben­de, und dass bei der kon­stru­ie­ren­den Kunst zwei Dinge be­son­de­re Be­deu­tung haben: die Bild­lich­keit und die Sprach­ver­ein­fa­chung und -ver­kür­zung. Dar­über hin­aus ist das Selbst­ver­ständ­nis als Dich­ter bei YG ei­gent­lich ro­man­tisch. Ull­mai­er hält auch die le­bens­phi­lo­so­phi­sche Prä­gung für eine Kon­stan­te.

Sieht man die theo­re­ti­schen Texte über die Zeit hin­weg, so kann man fest­stel­len, dass YGs The­men immer um Rea­li­tät, Spra­che, Kunst und Poe­sie krei­sen. Dabei fin­det sich eine Ent­wick­lung vom en­thu­si­as­ti­schen »ex­pres­sio­nis­ti­schen« Auf­schrei bis zum ab­ge­klärt wir­ken­den Ma­ni­fest des Reis­mus kurz vor sei­nem Tode. Dass Goll sei­nen Über­rea­lis­mus so von An­fang an ver­folgt hat, bis er am Ende im MdR end­gül­ti­ge Ge­stalt an­nahm, kann also al­lein schon an sei­nen theo­re­ti­schen Tex­ten nach­ver­folgt wer­den. Es geht ihm um das »Ver­ste­hen­wol­len von dem, was um uns, in uns und außer uns ist«, um des­sen Dar­stel­lung und um des­sen Über­schrei­tung. Eine Um­setz­tung sei­ner theo­re­ti­schen Po­si­tio­nen sah YG bei Joyce ver­wirk­licht. »Man muss für die Kunst Joy­ces ein an­de­res Wort er­fin­den: Su­prarea­lis­mus«. (Jan Bür­ger). Alle Be­schäf­ti­gun­gen YGs mit ver­schie­dens­ten In­hal­ten und Me­tho­den sind in die­sem Zu­sam­men­hang zu sehen und sind ein­ge­gan­gen in sein spä­tes dich­te­ri­sches Werk. Ein ganz we­sent­li­cher Be­reich die­ses Un­be­kann­ten, wel­ches zu er­for­schen, zu ver­ste­hen und wenn mög­lich zu über­schrei­ten wäre, ist das Phä­no­men Zeit. In dich­te­ri­scher Ver­kür­zung aus­ge­drückt ist Über­rea­lis­mus also Über­zeit­lich­keit im Zeit­li­chen. Je­den­falls war YGs Thema nicht »nur die Liebe«, und selbst die Hei­mat­lo­sig­keit, immer wie­der in den Vor­der­grund her­me­neu­ti­scher Be­mü­hun­gen ge­stellt, ist nur als ein Fak­tor zu be­trach­ten in dem Sinne, wie bio­gra­fi­sche Mo­men­te bei jedem Autor exis­tent und werk­be­ein­flus­send sind. So ist zum Bei­spiel die Zu­ge­hö­rig­keit YGs zum Ju­den­tum wohl der aus­schlag­ge­ben­de Grund dafür, dass er sich ge­ra­de mit der Kab­ba­la mehr be­schäf­tigt hat als mit an­de­ren mys­ti­schen Sys­te­men; als Thema sei­nes Werks in sei­ner Ge­samt­heit taugt das aber nicht als Kri­te­ri­um. Viel­mehr ist es so, dass »Rea­li­tät«, ihr Da­sein, ihre Be­schrän­kun­gen und ihre Aus­deh­nung sowie ihre po­ten­ti­el­le Über­schrei­tung das ab­so­lut be­herr­schen­des Le­bens­the­ma war, in des­sen Rah­men Golls Den­ken und Dich­ten zu ver­or­ten ist. Dies trifft ganz be­son­ders zu für seine späte Lyrik.

 

Sur­rea­lism ist durch mich hin­durch­ge­gan­gen und hat seine Salze de­po­niert.
Yvan Goll

Golls späte Lyrik

Unter der »spä­ten Lyrik« wird im Fol­gen­den die nach der Rück­kehr aus dem Exil ent­stan­de­ne Lyrik ver­stan­den, im Un­ter­schied zur Ein­tei­lung von Glau­ert (1996), die in der vier­bän­di­gen Ge­samt­aus­ga­be der Lyrik Golls eine Tren­nung vor­nimmt in »Frühe Ge­dich­te 1906 -1930« und »Späte Ge­dich­te 1930-1950«. Unter Letz­te­ren wer­den bei Glau­ert aus­schlie­ß­lich in fran­zö­si­scher Spra­che ver­fass­te Ge­dich­te bis 1947 zu­sam­men­ge­fasst, fer­ner die Elé­gie de Lacka­w­an­na, die eng­lisch­spra­chi­gen Fruit from Sa­turn, die ver­mut­lich 1942-1945 ent­stan­den und wei­te­re in Samm­lun­gen nicht ent­hal­te­ne eng­li­sche Ge­dich­te. Von den zeit­lich spä­tes­ten Ge­dich­ten der letz­ten Le­bens­jah­re wur­den in die­sen Band auf­ge­nom­men die Elé­gie d’Ih­pé­ton­ga sowie Mas­ques de Cend­re, en­stan­den 1948 in Metz, auch Le Char Triom­pha­le de l’An­ti­moi­ne, fer­ner Bou­quet Ita­li­enTryp­tique Véniti­enLes Cer­cles Ma­gi­ques und Les Ge­or­gi­ques Pa­ri­si­en­nes eben­so wie wei­te­re »in Samm­lun­gen nicht ent­hal­te­ne Ge­dich­te 1948-1950«. Das ist ein­leuch­tend. Nicht ein­leuch­tend ist, dass hier Mul­ti­ple Femme und Traum­kraut eben­so feh­len wie Abendgesang.​Neila und wei­te­re »in Samm­lun­gen nicht ent­hal­te­ne Ge­dich­te 1946-1949«, dar­un­ter der Hiob-Kom­plex und der Kom­plex Hôpital und In den Hoch­öfen des Schmer­zes. All diese spä­ten Ge­dich­te hat Glau­ert im drit­ten Band Lie­bes­ge­dich­te 1917-1950 zu­sam­men­ge­fasst. Trotz der auch von ihr selbst aus­führ­lich do­ku­men­tier­ten all­ge­mei­nen Schwie­rig­kei­ten mit YGs Nach­lass und der Edi­ti­ons­la­ge scheint die­ses Vor­ge­hen nicht ge­recht­fer­tigt, kommt es doch einer Vor-In­ter­pre­ta­ti­on gleich, indem es ohne wei­te­re Be­grün­dung diese Ge­dich­te zu­sam­men mit den von vorn­her­ein als »Po­e­mes d’Amour« de­kla­rier­ten, 1925 von CG und YG ge­mein­sam ver­öf­fent­lich­ten Ge­dich­ten auf eine Stufe stellt. Es wird zu zei­gen sein, dass dies nicht ge­recht­fer­tigt ist, dass viel­mehr Traum­kraut viel in­ten­si­ve­re Be­zie­hun­gen zu den an­de­ren »spä­ten« Ge­dich­ten auf­weist, die des­halb hier fol­ge­rich­tig unter »späte Lyrik« zu­sam­men­ge­fasst wer­den.

Nach den Wech­sel­ge­sän­gen der Liebe Po­e­mes d’amour, den Ma­lay­ischen Lie­dern und Jean sans terre ist eine Ver­än­de­rung der the­ma­ti­schen Schwer­punk­te bei YG zu be­ob­ach­ten. Immer wie­der tau­chen die Wör­ter Tod oder tha­na­tos, mort, sang und tombe auf, das an­de­re Ufer, »sans bil­let dans la bar­que d’Ache­ron«, da­ne­ben der Wür­fel des Schick­sals. Phi­lo­so­phi­sche und her­me­ti­sche The­men, Mys­tik und My­then, ja, The­men der Tran­szen­denz haben YG zeit­le­bens be­schäf­tigt, ein deut­li­cher Nie­der­schlag fin­det aber erst in der spä­ten Lyrik statt. Dabei sind die ent­spre­chen­den Be­grif­fe durch­aus nicht erst in der Lyrik des Kran­ken­la­gers aus­zu­ma­chen, eine ein­fa­che bio­gra­fi­sche Zu­ord­nung greift also nicht nur prin­zi­pi­ell zu kurz, sie lässt sich auch gar nicht her­stel­len. In Metro de la mort ist vom Styx die Rede, Ge­dich­te hei­ßen L’Oeil, von den Türen der Phi­lo­so­phen wird ge­spro­chen. Selbst im 1940 ent­stan­de­nen Croix de Lor­rai­ne ist die Rede von Vin mys­tique, pain de peine, Rose des Char­tres und Ros­ceau de Stras­bourg. Man liest L’huile sa­crée, Hei­li­ge, Ho­si­an­na, Lu­mie­re de pu­ri­fi­catri­ces. Ver­mi­schung von Christ­li­chem und Magie ist über­all zu be­ob­ach­ten. In­schrif­ten, In­itia­len, Magie fin­den sich als Be­grif­fe auch in Par­me­nia, die Apo­ka­lyp­se ist oft prä­sent, schlie­ß­lich Kab­ba­la, Tal­mud, Thora und wei­te­re jü­di­sche Be­grif­fe (schofars de li­ber­te) oder The­men und vor allem »Ra­ziel«. Immer wie­der taucht der Traum auf oder ein »herbe«, herbe verte, herbe folle. Wei­ter­hin spielt die Zeit eine Rolle. Im Ge­dicht Pro­lo­gue steht: »Quel temps-est-il? Je dis, Temps – Est -il temps en­co­re? Il est deja temps?« Alles wird im Zu­sam­men­hang ge­se­hen mit dem Un­end­li­chen, Zah­len wer­den wich­tig, Chif­fren, Magie, My­then und mystère. Der Bogen, der Dich­ter, Poe­sie und mys­ti­sche Wis­sen­schaf­ten di­rekt und be­wusst ver­bin­det, wird dann etwa 1945 ge­schla­gen. Zum »Haupt­the­ma« wird das Ganze schlie­ß­lich in Fruit from Sa­turn. Dort er­schei­nen Be­grif­fe wie: my death and re­sur­rec­tion, the kab­ba­lists com­poun­ded seven­ty names of God, the di­vi­ne gar­ment, holy be­asts and mad an­gels, aber vor allem auch the sphe­ric fruit from Se­phi­rot. Einen Hö­he­punkt bil­den schlie­ß­lich die Samm­lung, die aus­drück­lich The Magic cir­cles heißt, die Ge­dich­te The Eye bzw. The eye of eyes und Ra­ziel. Der Samm­lung Fruit of Sa­turn hat Goll selbst An­mer­kun­gen an­ge­fügt, in denen er Be­grif­fe aus dem Um­feld der jü­di­schen Mys­tik wie The Kab­ba­list, Ra­ziel, The Ten Se­phi­rot er­klärt, aber auch an­de­re aus der Al­che­mie wie Ura­ni­um, Azi­muth Cir­cle sowie Sam­sa­ra aus der Hin­du-Phi­lo­so­phie.

Im Mythe de la Roche Per­cée kommt dazu, dass der Fels als le­ben­dig be­schrie­ben wird, von der »ten­dres­se des pier­res« ist die Rede, der Fels ist aber auch »Voix de la lon­gue me­moi­re« und ein »Roche phi­lo­so­pha­le.« In einem gro­ßen Kreis wer­den ein­be­zo­gen Ge­schich­te und Natur und alles endet wie­der beim Atem Got­tes: »De­chif­fre nous le sans­krit des des­mi­de. Lis – nous a haute voix de quartz hébraïque Pour que nous per­ce­vi­ons enfin Le souf­fle pe­tri­fie de Dieu«. Auch zu die­ser Samm­lung gibt es einen »klei­nen Füh­rer zur Er­stei­gung des Durch­bro­che­nen Fel­sens« von YG. Darin setzt der Autor aus­drück­lich den »My­thus« mit der Suche nach dem Stein der Wei­sen gleich. »Der Dich­ter hat in seine Re­tor­te zwei Teile Geo­lo­gie und einen Teil Magie ge­wor­fen, um dar­aus die poe­ti­sche Es­senz zu ge­win­nen«. An­ti­ke und mo­der­ne Geo­gra­phie ver­schmel­zen in einem Kreis­lauf der Zei­ten. Auch in der Ih­pe­ton­ga-Ele­gie setzt sich dies fort. Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft tref­fen sich, eine »ville de to­tems« aber auch »le bar­que de Cha­ron« und schlie­ß­lich das Her­me­tisch-An­dro­gy­ne.

Die Mas­ques de cend­res füh­ren die The­ma­tik wei­ter. In Ra­siels Ge­sang hier wird eine aus­drück­li­che Ver­bin­dung zum Dich­ter und zur Poe­sie ge­zo­gen. Wie­der heißt ein gan­zes Ge­dicht Oeil, »Te re­gar­dant me re­gar­der«; das Auge steht wie­der in Ver­bin­dung mit Sa­turn, der Rose, der Ver­wand­lung, dem blu­ti­gen Sie­gel und dem Jüngs­ten Ge­richt.

In Le Char triom­pha­le de l’An­ti­moi­ne sind schon die Titel cha­rak­te­ris­tisch, u.a. Le grand œuvreAzothL’arbre Se­phi­rot, Le se­meur d’He­ca­go­nesTrans­mu­ta­ti­onsLa Rose des RosesL’œuf phi­lo­so­phi­que und wie­der Ra­ziel, dar­über hin­aus aber auch Titel, die auf Mem­non, Pa­ra­cel­sus und He­ra­klit ver­wei­sen. Ein wei­te­res Ge­dicht L’œuf phi­lo­so­phi­que fin­det sich in den nicht in Samm­lun­gen ent­hal­te­nen Ge­dich­ten.

Unter Ein­be­zie­hung der theo­re­ti­schen Schrif­ten Golls und im Ge­samt­bild sei­ner Lyrik ist Knauf (1996) zu wi­der­spre­chen, der hier eine »Rück­kehr zum Tra­di­tio­na­lis­mus« an der Ver­ar­bei­tung mys­ti­scher und ok­kul­ter The­men fest­macht und meint, dies sei zu ver­ste­hen als eine »Re­ak­ti­on auf ver­än­der­te his­to­risch-ge­sell­schaft­li­che Be­din­gun­gen.« Viel­mehr ist es so, dass Goll kon­se­quent sein »Über­rea­lis­mus«-Pro­jekt ver­folgt, nach dem »Ding an sich« sucht, wel­ches durch das Wort Teil einer neuen Schöp­fung wer­den soll, und zu die­sem Zwe­cke immer mehr auf al­che­mis­ti­sche Be­zie­hun­gen und kab­ba­lis­ti­sche Tech­ni­ken zu­rück­greift.

Traum­kraut

Die Traum­kraut-Ge­dich­te be­deu­ten eine Zäsur in der spä­ten Lyrik YGs, zu­nächst ein­fach des­halb, weil sie in deut­scher Spra­che ge­schrie­ben wur­den. Goll schreibt in sei­nem Brief an Dö­blin: »Nach zwan­zig­jäh­ri­ger Ab­kehr bin ich zur deut­schen Spra­che zu­rück­ge­kehrt, mit wel­cher Hin­ga­be und Lust der Er­neue­rung, fast klop­fen­den Her­zens«, oder an Bol­lin­ger : »Das ist für mich ein über­mü­tig schäu­men­der Früh­ling, an dem ich klop­fen­den Her­zens, nach mehr als zwan­zig­jäh­ri­ger Un­ter­bre­chung, die deut­sche Spra­che wie­der in mir er­schal­len lasse. Und die Ge­dich­te, die ich in den letz­ten Jah­ren nur lo­cker hin­ge­schrie­ben, jetzt zu­sam­men­le­ge und ab­schrei­be. Mir ist, als hätte ich ein Bünd­chen Korn­ran­ken in der Hand.« Es gibt viele Mög­lich­kei­ten einer Er­klä­rung, wes­halb YG zur deut­schen Spra­che zu­rück­ge­kehrt ist. Wahr­schein­lich ist es nicht das »Ich stand auf und ging heim in das Wort[...] von wo ich un­ver­treib­bar bin« Hilde Do­mins, denn Fran­zö­sisch war ja für ihn eine gleich­be­rech­tig­te, viel­leicht sogar erste »Mut­ter­spra­che«. Eher schon nä­hert man sich dem Phä­no­men, be­ach­tet man Do­mins wei­te­ren Hin­weis an ganz an­de­rer Stel­le: wie gro­ßar­tig und ver­trackt und un­über­setz­bar die deut­schen Ad­jek­ti­ve seien und wie sie um­ge­dacht wer­den müss­ten ins Kon­kre­te. In der Si­tua­ti­on, in der sich Goll in Frank­reich be­fand, war Deutsch wohl auch die Spra­che einer an­de­ren Rea­li­tät: das Hos­pi­tal, das Ster­ben rund­her­um, alles war »fran­zö­sisch«. Es ist mög­lich, dass YG, wie Car­mo­dy ver­mu­tet, diese spä­ten Ge­dich­te be­wusst ab­gren­zen woll­te. We­sent­lich ist je­den­falls, dass im Deut­schen mehr wort­schöp­fe­ri­sche Mög­lich­kei­ten be­ste­hen, be­son­ders in Bezug auf dich­te­ri­sche Ver­kür­zung. Da sich hier Wör­ter di­rekt asyn­de­tisch ver­bin­den las­sen (Bei­spiel: »Traum­kraut«), – was in der fran­zö­si­sche Spra­che nicht mög­lich ist – kon­sti­tu­tiert sich eine neue Ein­heit, die zudem dem Prin­zip der Lyrik – höchst­mög­li­che Ver­kür­zung – am nächs­ten ist. Das al­lein könn­te durch­aus ein Grund sein, diese Spra­che zu wäh­len, will man Neues aus­drü­cken, Un­ge­sag­tes oder an­ders – mit den üb­li­chen Mit­teln der Spra­che oder den Wor­ten in ihrer de­no­ta­ti­ven Be­deu­tung – schwer oder nicht zu Sa­gen­des. In die­sem Sinne meint wohl Pout­hier, dass der Sprach­wech­sel in Zu­sam­men­hang mit der me­ta­pho­ri­schen Welt­ver­wand­lung stehe, für die die deut­sche Spra­che ge­eig­ne­ter sei. Er ist aber der Mei­nung, dass der po­li­ti­sche As­pekt der aus­schlag­ge­ben­de sei. Goll habe sich von der deut­schen Spra­che ab­ge­wandt, seit sie von Hit­ler miss­braucht wor­den war. Dafür spricht Vie­les; so schrieb YG 1939 beim Er­schei­nen von Cen­taur an Wolf­gang Cor­dan nach Ams­ter­dam: »Und am Er­schei­nungs­ta­ge ver­wan­del­te sich der süße Wein der Dich­tung in Essig, wurde die deut­sche Spra­che eine feind­li­che Waffe, – nicht für alle, für ganz we­ni­ge wohl, aber doch die Spra­che des Fein­des. Ge­wiss, hätte ich Ex­em­pla­re zur Hand, ich würde sie ver­schi­cken, aber nicht ohne die not­wen­di­ge Notiz: ›Diese Über­tra­gun­gen sind in der Spra­che Goe­thes ver­fasst, nicht in der Hit­lers.‹« Dar­über hin­aus aber war das Thema Spra­che für YG immer be­son­ders wich­tig ge­we­sen, wie aus vie­len sei­ner Äu­ße­run­gen her­vor­geht. Von ihm stammt auch das Wort, dass der Dich­ter sich in das Wort rette.

Dass die Spra­che aber nicht die ein­zi­ge Zäsur ist, geht aus dem wei­te­ren Ver­lauf von Golls Brief an Dö­blin her­vor: »Sur­rea­lism ist durch mich hin­durch­ge­gan­gen und hat seine Salze de­po­niert. Doch mir ist, als wäre die­ses Traum­kraut Pflan­ze einer neuen Ge­burt.« Diese neue Ge­burt meint zu­nächst si­cher auch den Neu­an­fang in Eu­ro­pa, von dem Goll sagt: »Spät bin ich nach Eu­ro­pa heim­ge­kehrt und finde viele Tore schwarz und ein­ge­stürzt. Aber durch Ihr Gol­de­nes Tor sind wie­der viele im Tri­umph ein­ge­zo­gen [...]. Um zum ers­ten­mal wie­der zur Spra­che zu kom­men, sende ich Ihnen dies Päck­chen Ge­dich­te.« Den­noch heißt »Zur Spra­che kom­men, eine neue Ge­burt« si­cher nicht nur, in Eu­ro­pa an­fan­gen und Deutsch schrei­ben. Es heißt, eine neue Phase der dich­te­ri­schen Exis­tenz be­gin­nen. Diese An­sicht wird ge­stützt durch die Tat­sa­che, dass Goll im er­wähn­ten Brief an Dö­blin zu­nächst ge­schrie­ben hatte »Um zum ers­ten Male wie­der zur deut­schen Spra­che zu kom­men« und das Wort »deut­schen« dann durch­strich.

Zur Edi­ti­ons­ge­schich­te

Die be­kann­te Ver­wir­rung be­züg­lich YGs Werk ist bei der spä­ten Lyrik be­son­ders groß. Der Titel Traum­kraut stammt si­cher vom Autor selbst. 1949 er­schie­nen in der von Dö­blin her­aus­ge­ge­be­nen Mo­nat­zeit­schrift Das Gol­de­ne Tor fünf Ge­dich­te Golls unter dem Pseud­onym Tris­tan Thor mit dem Nach­satz »Aus dem Ge­dicht­band Das Traum­kraut«, im Heft 4/ 1949 (und post­hum im Heft 5 in der glei­chen Zeit­schrift wei­te­re Ge­dich­te). Die an Hans Bol­lin­ger ge­schick­ten Samm­lun­gen ent­hal­ten je­weils ver­schie­de­ne Ge­dich­te, wei­te­re wur­den zu Leb­zei­ten nicht ver­öf­fent­licht. Die letz­ten Ge­dich­te und die letz­ten Fas­sun­gen von Traum­kraut sind ent­stan­den im Hôpital Ame­ri­can in Neuilly bei Paris. Damit ist der ge­si­cher­te Kennt­nis­stand schon fast um­ris­sen. Das ge­naue Ent­ste­hungs­da­tum ist bei vie­len Ge­dich­ten ge­si­chert, bei an­de­ren nicht. 1965 fan­den sich im Nach­lass ver­schie­de­ne Kon­vo­lu­te mit je­weils wech­seln­der Ge­dicht­zahl, in Form von Ty­po­skrip­ten, aber auch Hand­schrif­ten auf auf­ge­ris­se­nen be­nut­zen Brief­um­schlä­gen, Rück­sei­ten an­de­rer ge­druck­ter Texte, fer­ner Text­va­ri­an­ten und hand­schrift­li­che Ver­bes­se­run­gen. Die Ge­dich­te des Zy­klus Abendgesang.​Neila en­stan­den gleich­zei­tig, wes­halb Glau­ert sie zu­sam­men mit Traum­kraut als Ein­heit be­trach­tet. Nach YGs Tod hat CG alle Edi­tio­nen in die Wege ge­lei­tet und mit Vor­wor­ten ver­se­hen, dabei hat sie in der be­kann­ten Weise auch Titel ver­än­dert, Ge­dich­te neu über­setzt und ver­schie­de­ne Fas­sun­gen dru­cken las­sen. Die »blaue Mappe« mit den letz­ten von Goll selbst kor­ri­gier­ten Fas­sun­gen der Ge­dich­te unter dem Titel Yvan Goll. Das Traum­kraut wurde nicht auf­ge­fun­den.

Im Fol­gen­den wird die von YG noch selbst zu Leb­zei­ten vor­ge­nom­me­ne Aus­wahl zu­grun­de­ge­legt, die der Dich­ter am 9.2.1950 mit einem Be­gleit­brief an Alain Bos­quet schick­te, wel­cher die Ge­dich­te hatte über­set­zen wol­len. Goll, der diese Aus­wahl 18 Tage vor sei­nem Tod vor­nahm, woll­te of­fen­sicht­lich ge­ra­de diese Ge­dich­te als Ver­mächt­nis hin­ter­las­sen, zumal auf­fällt, dass er die bei­den Oden sowie Gips­kopf und Ra­ziels Ge­sang aus­drück­lich mit auf­nimmt. Be­züg­lich der bei­den letz­ten Ge­dich­te ist auch be­mer­kens­wert, dass die Mas­ques des Cend­res ja be­reits 1949 im Ori­gi­nal fran­zö­sisch er­schie­nen und von CG über­setzt wor­den waren, wes­halb sich die Frage stellt, wieso Goll auch diese Ge­dich­te hätte von Bos­quet über­set­zen las­sen sol­len; es ging es ihm of­fen­bar we­ni­ger um die Über­set­zung als um die Her­aus­ga­be ge­ra­de die­ser Zu­sam­men­stel­lung. Nä­he­re Hin­wei­se dazu habe ich in Golls Hand­schrif­ten nicht fin­den kön­nen. Je­den­falls hat YG die hier an­ge­spro­che­ne Aus­wahl an Bos­quet ge­schickt, damit sie unter dem Titel Das Traum­kraut ver­öf­fent­licht würde, und sein Satz »›Das Traum­kraut‹ sera mon seul re­cueil de po­e­mes al­le­man­ds« un­ter­streicht die große Wich­tig­keit, die er ge­ra­de die­ser Samm­lung bei­maß.

Bis­her vor­lie­gen­de Ar­bei­ten zu »Traum­kraut«

Ver­schie­de­ne Au­to­ren haben sich mit den Ge­dich­ten be­schäf­tigt. Ri­chard Exner kann man zu­stim­men in sei­ner Be­ur­tei­lung, dass es sich um »per­fect poems« han­delt. Seine Hin­zu­fü­gung »of a dying man« ist al­ler­dings un­we­sent­lich, und dass sie uns »speech­less« zu­rück­las­sen, mag den Ein­druck ver­mit­teln wol­len, den sie hin­ter­las­sen kön­nen, ist aber nicht un­be­dingt hilf­reich, da der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler per de­fi­ni­tio­nen über ein Ge­dicht spre­chen und nicht vor ihm ver­stum­men soll.

Exner schreibt 1954, YG sei »der tra­gi­sche Dich­ter« par ex­cel­lence, seine The­ma­tik sei kaum va­ri­ie­rend immer »Liebe oder Tod«. Seine Lie­bes­ly­rik ge­hö­re zum Bes­ten, hier be­gin­ne im Wort, was die Kri­tik ly­ri­sche Al­che­mie nen­nen würde. Goll er­rei­che gro­ßar­ti­ge Mi­schun­gen von Abs­trak­tem und Kon­kre­tem in der Spra­che. Ähn­lich äu­ßert er sich 1957 in einer neuen Ar­beit, in der er auch eine Deu­tung der »Toch­ter der Tiefe« vor­nimmt.

1956 liest man bei F.J. Car­mo­dy: »Goll wrote his love ly­rics to his wife, Clai­re, and her per­son is pre­sent in all of them«. »She is the point of re­turn and his as­suran­ce in the face of death.« Car­mo­dy stellt die Po­e­mes d’amour, die Chan­sons Ma­lai­ses und dann auch Traum­kraut in eine Reihe und be­haup­tet, Traum­kraut sei »a re­cord of Golls last thoughts, down to Ja­nu­a­ry 50, his do­mi­nant thougth was of Clai­re. [...] Clai­re has be­co­me his total re­pre­sen­ta­ti­on of rea­li­ty.« Es ist wohl so, dass man da eher Clai­res ei­ge­ne Worte sieht. Sie hatte von »zärt­li­chen Ge­dich­ten eines Ster­ben­den« ge­spro­chen und der »Vor­sor­ge des Man­nes, der der Ge­lieb­ten einen un­er­schöpf­li­chen Vor­rat an Ge­fühl hin­ter­las­sen woll­te«, wie Glau­ert ver­merkt. Car­mo­dy je­den­falls meint, YGs Werk sei »al­most ent­i­re­ly au­to­bio­gra­phi­cal and cir­cum­stan­ti­al«, es ent­stün­de aus in­ne­ren Grün­den und sei »mar­ked by pre­cise ex­ter­nal events«. Traum­kraut sei »an un­par­al­le­led syn­the­sis of vi­si­ons of death, of mad­ness per­haps not ent­i­re­ly si­mu­la­ted and of love set in the most dis­tant re­aches of per­cep­ti­on.«

Der Autor be­grün­det also ei­ner­seits rich­tig aus der Spra­che, dass die Traum­kraut-Ge­dich­te sur­rea­lis­ti­sche Ge­dich­te sind, deu­tet dann aber die ge­sam­te Samm­lung bio­gra­fisch-per­sön­lich. Darin wird man ihm kei­nes­falls fol­gen kön­nen. Auch die di­rek­te Zu­ord­nung zum Bei­spiel der Häu­ser, Hüt­ten und Pa­läs­te, die in den spä­ten Ge­dich­ten oft auf­tau­chen, zur »do­mi­nant ob­ses­si­on with se­cu­ri­ty for love against ex­stinc­tion through loss of con­scious­ness and death« wird man so nicht ste­hen las­sen kön­nen, eben­so wie es sich bei der di­rek­ten Über­set­zung der Me­ta­pher »Asche« in »Golls ex­pres­si­on for loss of con­scious­ness at the point of death« um eine Über­sim­pli­fi­zie­rung han­delt. Zu wi­der­spre­chen ist fer­ner der Aus­sa­ge, dass es sich um Bil­der pa­ra­noi­scher Natur han­de­le.

1960 be­merkt Exner in Dich­tun­gen über Golls spä­te­res Werk: »Ein Zug der frü­hen Lyrik, das Ge­fan­gen­sein im Jar­gon einer li­te­ra­ri­schen Be­we­gung, fällt beim spä­ten Goll fast ganz fort.« Das hieße aber nicht, dass er dem Sur­rea­lis­mus ver­fal­len sei. Man könne ge­ra­de an sei­ner Hal­tung dem Sur­rea­lis­mus ge­gen­über auf­zei­gen, wie »ei­gen­wil­lig und von einem in­ne­ren Zen­trum be­stimmt seine späte Lyrik war«. Wich­ti­ge Hin­wei­se fin­den sich in Bezug auf den Reim, den YG im Deut­schen sel­ten be­nutzt habe, wäh­rend er im Fran­zö­si­schen bis an des Dich­ters Le­bens­en­de an­zu­tref­fen sei. »In der deut­schen Lyrik ist kaum ein ein­zi­ges ge­reim­tes Ge­dicht als sprach­lich voll­kom­men ge­glückt an­zu­spre­chen. Im Deut­schen war der Reim für Goll keine Quel­le der Kon­zen­tra­ti­on und der Magie, son­dern le­dig­lich ein Zu­ge­ständ­nis, und also sol­cher ent­las­tet er die Vers­zei­le und höhl­te sie aus.« Auch wenn Exner eine ro­man­ti­sie­ren­de Kon­zep­ti­on ver­tritt und die späte Lyrik als »Be­schwö­rung einer Hei­mat in der ge­lieb­ten Frau« sieht (Pout­hier), ist es je­den­falls sein Ver­dienst, dar­auf hin­ge­wie­sen zu haben, dass YG sein sur­rea­lis­ti­sches Kön­nen ins Deut­sche übrträgt, und zwar zum ers­ten Mal; denn bei Trakl, Heym und Las­ker-Schü­ler wür­den sich sol­che sprach­li­chen Züge nicht fin­den. Auch be­tont Exner schon 1960, dass sich in Traum­kraut die »Spra­che ver­dich­tet« und der Über­rea­lis­mus »ver­tieft und ver­frem­det« habe.

K. M. Mi­chel schreibt 1961, in Golls Werk spie­ge­le sich der Weg von Pro­test zu Le­gen­de und von Pa­ro­le zu Li­ta­nei. Dass der Ver­such des Dich­ters, alle mög­li­chen Ismen zu­sam­men­zu­bal­len, zu einem »schi­zo­phre­nen ethi­schen Cha­rak­ter« Golls »und ei­gent­lich au­to­ma­tisch zur Gro­tes­ke« ge­führt habe, weil die alles ver­ei­nen könne, ist nur schwer nach­voll­zieh­bar. Be­züg­lich der Traum­kraut-Ge­dich­te ver­tritt die­ser Autor die Auf­fas­sung, dass alle hier ver­ei­nig­ten Ge­dich­te um das glei­che Thema krei­sen: »die im Er­lö­schen des Le­bens be­schwo­re­ne Er­in­ne­rung an Liebe und Glück, die in traum­ge­bo­re­nen Me­ta­phern auf­blüht, ver­sinkt, ve­r­ascht.« Im Gan­zen ist Mi­chel der Mei­nung, Traum­kraut werde stark über­schätzt, Vie­les darin sei »eine reine Pri­vat­an­ge­le­gen­heit zwi­schen Yvan und Clai­re«. Dabei kri­ti­siert er auch und vor allem die sprach­li­che Ge­stal­tung: die Ge­ni­tiv­m­e­ta­pher sei zu einer Manie ge­wor­den.

Auch J. C. Midd­le­ton ur­teilt 1963, Goll sei ein Dich­ter ge­we­sen, des­sen »Images« schon vor Traum­kraut »crea­ti­ons less of so­ci­al than of per­so­nal vi­si­on« ge­we­sen seien. Er meint au­ßer­dem, dass Golls »image­ry« dazu neige, »al­le­go­ri­cal and not strict­ly sym­bo­lic« zu sein. In den Traum­kraut-Ge­dich­ten zeige sich ein »mind who has to trans­po­se ex­pe­ri­ence into images, not one whose ex­pe­ri­ence flows, whol­ly and spon­ta­neous­ly, into sym­bols«.

V. Per­kins geht 1968 gleich­falls von der nach dem Tod ver­öf­fent­lich­ten Samm­lung von 52 Ge­dich­ten aus. Sie hält diese Ge­dich­te für eine Syn­the­se nicht nur von YGs frü­he­rer Dich­tung, son­dern sei­nes ge­sam­ten Wer­kes. Dabei wür­den au­to­bio­gra­fi­sche und eso­te­ri­sche Ele­men­te, re­prä­sen­tiert für sie »in the final tra­gic vi­si­on of a man and a poet on the thres­hold of death«, ver­eint. »While in­cor­po­ra­ti­ong such di­ver­se ele­ments, howe­ver, Traum­kraut re­mains an es­sen­ti­al­ly per­so­nal ex­pres­si­on of the poets re­ac­tion to death«. Das »most si­gni­fi­cant new fea­ture« sei gleich zu An­fang im Titel zu fin­den. Die­ser würde be­reits den gan­zen Zy­klus vor­weg­neh­men: Traum weise auf den traum­haf­ten As­pekt der Ge­dich­te hin, wäh­rend Kraut sich auf Golls kör­per­li­chen Ver­fall be­zie­he, pro­ji­ziert auf Bil­der von Pflan­zen und Bäu­men. Seine Furcht vor »in­sa­ni­ty« habe ihn zu »hal­lu­ci­na­to­ry images of ve­ge­ta­ti­ve pro­li­fe­ra­ti­on« ge­führt. »Such hal­lu­ci­na­ti­ons were in­du­ced by the poet as a safe­guard against their po­ten­ti­al rea­li­ty«. Die­ser Ge­brauch »of ve­ge­ta­ti­ve images to de­scri­be the sym­ptoms of Golls ill­ness« sei ein be­mer­kens­wer­tes Phä­no­men in den Ge­dich­ten. Wich­ti­ger er­schei­nen Per­kins Hin­wei­se auf YGs Be­schäf­ti­gung mit der Zeit, wobei sie diese al­ler­dings wie­der mit dem per­sön­li­che Er­le­ben von Krank­heit ver­bin­det: »A na­tu­ral con­se­quence of Golls re­flec­tions on his ill­ness is his preoc­cupa­ti­on with the con­cept of time and with the idea of the tran­sci­ence of exis­tence«. In den Traum­kraut-Ge­dich­ten sei das Kon­zept Zeit mit den Bil­dern rund ums Was­ser ver­bun­den. Die Au­to­rin stellt auch rich­tig fest, dass YG Al­che­mie und Kab­ba­lis­mus be­nutzt, um Ana­lo­gi­en zur Dich­tung auf­zu­zei­gen. Weis­sen­bur­ger be­zeich­net Per­kins Ar­beit den­noch als »voll­kom­men un­zu­rei­chend«, da sie das Spät­werk auf den Nach­weis der Bild­lich­keit re­du­zie­re, ohne auf deren Funk­ti­on ein­zu­ge­hen. We­sent­lich kri­tik­wür­di­ger er­scheint, dass auch diese Au­to­rin sich zu sehr auf die per­sön­lich-bio­gra­fi­sche Si­tua­ti­on des Dich­ters be­zieht, des­sen Per­son sie mit dem in den Ge­dich­ten auf­tre­ten­den Ich iden­ti­fi­ziert.

Die eben­falls 1968 er­schie­ne­ne Dis­ser­ta­ti­on E. Schwandts hin­ge­gen kann auch heute noch als grund­le­gend gel­ten. Der Autor schreibt: Es gibt kei­nen »ex­pli­zi­ten Sinn, keine lo­gisch ein­deu­ti­ge Aus­sa­ge, weil das Ge­dicht kei­nem Mit­tei­lungs­sche­ma folgt, das in einer dis­kur­siv ver­fah­ren­den In­tre­pre­ta­ti­on zur Be­stä­ti­gung sei­ner selbst käme«. Viel­mehr gelte der Fun­da­men­tal­satz der mo­der­nen Poe­tik, nach dem der Sinn eines Tex­tes iden­tisch ist mit sei­ner Wort­form. Immer be­ste­he die Kluft zwi­schen Poe­sie und deu­ten­der Re­fle­xi­on über Poe­sie, die Kluft zwi­schen der alo­gi­schen bild­haf­ten Struk­tur der dich­te­ri­schen und der lo­gi­schen der be­griff­li­chen Spra­che. Daher könne man sich dem Ge­dicht nur be­schrei­bend nä­hern. Der Autor be­nutzt die ge­ne­ti­sche Me­tho­de, um den Pro­zes­s­cha­rak­ter der Lyrik YGs auf­zu­zei­gen. Er be­tont die Wich­tig­keit des Pro­zes­ses: wie bei Va­le­ry habe die schaf­fen­de Tä­tig­keit ge­gen­über dem ge­schaf­fe­nen Werk Vor­rang ge­habt. In sei­ner bei­spiel­haf­ten Ana­ly­se von Hoch­öfen des Schmer­zes und Hiob geht er aus von den ver­schie­de­nen Fas­sun­gen eines Ge­dichts. Dabei ar­bei­tet er die Grund­vor­stel­lun­gen der Al­che­mie her­aus, die Feu­er-, Blu­men- und Aschen­me­ta­pho­rik, den ve­ge­ta­ti­ven und tech­ni­schen Bild­be­reich, die ne­ben­ein­an­der exis­tie­ren und in jeder neuen Fas­sung mehr ent­fal­tet wer­den. »Gleich­klang und Rhyth­mus un­ter­stüt­zen sich wech­sel­sei­tig als die Form­kräf­te der von Reim und Me­trum frei­en Vers­zei­le. In zu­neh­men­dem Maße er­wei­sen sie sich als struk­tur­bil­dend, als wich­ti­ge Auf­bau­prin­zi­pi­en der spä­ten Lyrik Golls.« »Rhyth­mus und Melos er­wei­sen sich als bin­den­de Prin­zi­pi­en des Ge­dichts, sie sind sprach­lich Evi­den­zen einer mu­si­ka­li­schen Grund­struk­tur«. Der Autor be­schäf­tigt sich mit der Tech­nik der pa­ra­do­xen Ver­tau­schung und ein­ge­hend mit der Ge­ni­tiv – und Kon­trak­ti­ons­m­e­ta­pher im Werk YGs. Vor allem aber be­tont er, dass das Ge­dicht keine Imi­ta­ti­on oder Um­set­zung einer außer ihm lie­gen­den Wirk­lich­keit ist, dass es viel­mehr um Trans­fi­gu­ra­ti­on gehe und dass der Ly­ri­ker zwar mit den Ele­men­ten der em­pi­ri­schen Rea­li­tät ar­bei­te, aber durch ra­di­ka­le Ver­wand­lung eine Über­wirk­lich­keit, die Wirk­lich­keit der Dich­tung, schaf­fe. Eben­so weist er dar­auf hin, dass sich YGs neuer Dich­ter­be­griff in Ra­ziel in­kar­niert.

Der glei­che Autor be­schäf­tigt sich 1970 mit der »my­thi­schen Selbst­dar­stel­lung« YGs. Die letz­te Selbst­dar­stel­lung des Dich­ters im Hiob ent­hal­te die poe­to­lo­gi­sche Di­men­si­on. YGs My­then seien Sta­tio­nen sei­nes dich­te­ri­schen Selbst­be­wusst­seins: der Neue Or­pheus als Uto­pie des ex­pres­sio­nis­ti­schen Dich­ters, als Mensch­heits­er­lö­ser, Jean sans terre als My­thos vom un­be­haus­ten Men­schen, schlie­ß­lich Hiob mit sei­ner Über­win­dung als My­thos vom lei­den­den Dich­ter. Il­lu­si­on, Des­il­lu­si­on, Schei­tern und Ver­klä­rung als Sta­di­en. Was blie­be, sei die schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit, der poe­ti­sche Akt. Der Autor kommt hier zu dem Schluss, dass YGs letz­te Ge­dich­te ver­su­chen, ihre Äs­the­tik in An­thro­po­lo­gie über­zu­füh­ren, dass sie einen ei­ge­nen on­to­lo­gi­schen Sta­tus be­haup­ten und eine sä­ku­la­ri­sier­te Re­li­gi­on der Kunst be­grün­den.

Ph. Berg be­schäf­tigt sich 1976 mit den jü­di­schen The­men, dabei in einem ei­ge­nen Ka­pi­tel mit Traum­kraut. Sie iden­ti­fi­ziert wie­der Autor und Text und nimmt eine bio­gra­fisch be­zo­ge­ne In­ter­pre­ta­ti­on vor. Die Traum­kraut-Ge­dich­te seien »die letz­ten Verse der Liebe und des Todes.« »Das Wis­sen um das un­auf­halt­sa­me Ende und die Ver­gäng­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf der einen und die Sehn­sucht nach Er­lö­sung von Schmerz und Tod auf der an­de­ren Seite sind die geis­ti­gen Pole die­ser Lyrik«. Diese Mei­nung wird nicht näher be­grün­det. The­ma­tik und Bild­be­reich seien, wie in Aschen­mas­ken, der Mensch al­lein im To­des­kampf und die Zer­set­zung des Kör­pers durch die Krank­heit, die Auf­lö­sung alles Be­ste­hen­den. Dass die stär­ke­re Ver­dich­tung und Poe­ti­sie­rung die dau­ern­de Ar­beit an der Spra­che zeige, – so seien die 38 Zei­len des Chien de ma mort im Traum­kraut-Ge­dicht Blut­hund auf 13 Zei­len re­du­ziert – die in immer neuen Va­ria­tio­nen das Bild­ma­te­ri­al ver­ein­facht und durch­in­te­griert, ist eine hilf­rei­che Be­ob­ach­tung. Berg hebt auch die Feu­er- und Blu­men­me­ta­pho­rik her­vor, ver­bin­det sie aber wie­der di­rekt mit der Krank­heit; die Me­ta­phern stün­den für die ve­ge­ta­ti­ven Wu­che­run­gen von Wun­den und Ge­schwü­ren. Trotz der vie­len di­rek­ten per­sön­li­chen Be­zü­ge, die sie vor­nimmt, schreibt die Au­to­rin am Ende, dass eine psy­cho­lo­gisch-bio­gra­fi­sche In­ter­pre­ta­ti­on frag­wür­dig sei; die »Fak­ten« seien nur als The­ma­tik zu ver­ste­hen, für die poe­ti­sche Struk­tur seien sie ohne Be­lang. YG ar­bei­te mit den Ele­men­ten der em­pi­ri­schen Rea­li­tät, das Ge­dicht aber »ob­jek­ti­viert sich in sei­ner me­ta­pho­ri­schen Struk­tur und sei­ner me­ta­pho­ri­schen Sprach­schicht«, die trans­pa­rent dar­über ge­legt würde. So könne der Dich­ter in sei­nem Ge­bil­de über­le­ben und wei­ter­wir­ken. Die Au­to­rin sieht wei­ter­hin eine Wen­dung ins Re­li­giö­se im Sinne der Über­win­dung des Ni­hi­lis­mus im Kunst­werk und hebt die Wich­tig­keit des dich­te­ri­schen Schöp­fungs­pro­zes­ses bei YG her­vor.

V. Pro­fit nennt ihre Ar­beit von 1977 »In­ter­pre­ta­ti­on of Iwan Golls late poe­try« und be­schäf­tigt sich mit den Kom­ple­xen Hiob und Hôpital. Sie kri­ti­siert Car­mo­dy auf­grund sei­ner di­rek­ten Rück­schlüs­se auf bio­gra­fi­sche Fak­ten aus dem Text und das Ver­wen­den der Bio­gra­fie zur Er­klä­rung der Poe­sie. Das Pro­blem läge darin, dass Car­mo­dy das Ge­dicht für eine Imi­ta­ti­on einer Re­al­si­tua­ti­on hiel­te, wäh­rend das Ge­dicht mit sei­nen au­to­no­men Ge­stal­tungs­prin­zi­pi­en eine neue, von der Em­pi­rie un­ab­hän­gi­ge ge­nu­in poe­ti­sche Wirk­lich­keit her­vor­brin­ge.

M. Par­mée (1981) be­ruft sich auf die Ein­tei­lung Car­mo­dys, der die »di­ver­si­ty and the au­to­bio­gra­phi­cal na­tu­re« in YGs Dich­tung be­to­ne und diese des­halb in meh­re­re Pha­sen ein­ge­teilt habe. Ob­schon sie des­halb chro­no­lo­gisch vor­ge­he, gäbe es per­sis­tie­ren­de The­men, »which trans­cend bio­gra­phi­cal di­vi­si­ons«. Die meis­ten The­men YGs seien schon im Früh­werk da, zum Bei­spiel die Zeit; Liebe in­spi­rie­re einen gro­ßen Teil sei­nes Werks ab 1916 bis zu sei­nem Tode , auch blei­be der »so­ci­al con­cern« des Dich­ters be­ste­hen. »Na­tu­res rich­ness and the value of life are un­fai­lingly af­fir­med through the image­ry«. Seine The­men hät­ten eine po­si­ti­ve und ne­ga­ti­ve Seite, eine ge­wis­se »con­stant am­bi­gui­ty«. »The inner dua­li­ty which Goll re­co­gni­zes in him­s­elf un­der­lies his whole work«. Al­ler­dings wür­den die The­men gegen Ende des Le­bens immer kom­ple­xer. Von sei­nen immer wie­der­keh­ren­den Bil­dern sei eins der neu­ar­tigs­ten (»ori­gi­nal«) das der Mi­ne­ra­li­en; diese wür­den in den ok­kul­ten Ge­dich­ten am Ende das »basic sym­bol for the ob­ject of the poets se­arch for spi­rit in mat­ter« dar­stel­len. Cha­rak­te­ris­tisch sei fer­ner »Golls ex­pres­si­on of a po­si­ti­ve theme in ne­ga­ti­ve image­ry and vice versa.« Bil­der, die man mit Schöp­fung zu­sam­men­brin­ge, wie Sonne, Ei, Quel­le seien oft kom­bi­niert mit Tod und Zer­stö­rung kon­no­tie­ren­den Bil­dern. Diese zwei As­pek­te wür­den im Spät­werk immer wei­ter in­te­griert, die kla­ren Ka­te­go­ri­en aus­ge­löscht, die Poe­sie würde immer rei­cher und kom­ple­xer. Eben­so kom­bi­nie­re YG oft »images of food and drink with images con­not­ing in­sub­stan­tia­li­ty«, was die Au­to­rin da­hin­ge­hend in­ter­pre­tiert, dass dies »the poets ma­te­ri­al po­ver­ty and spi­ri­tu­al rich­ness« zeige. Sie kommt zu dem Schluss, dass »Exner su­re­ly over­sim­pli­fies«, wenn er in Bezug auf Golls Lyrik sagt, sie va­ri­ie­re ihre The­ma­tik Liebe und Tod kaum«, stellt aber selbst ihr letz­tes Ka­pi­tel unter den Titel »The Love Poet« und eben­falls die frü­hen und die spä­ten Ge­dich­te zu­sam­men unter den Sub­ti­teln »The power of love« »The pain of love« sowie »The Na­tu­re of the bel­oved«, wobei sie sta­tu­iert, »Golls late love poems re­turn to his re­la­ti­ons­hip with Clai­re. Clai­re is all that he has left, and the prin­ciple tone of these last poems is of com­pa­ni­ons­hip and con­so­la­ti­on. [...] She pro­tects him now that he is wea­ker.« Sogar die »mu­lit­pli­ci­ty, elu­siven­ess and time­les­ness, ex­pres­sed in na­tu­re image­ry« in den letz­ten Ge­dich­ten be­zieht sie au­to­ma­tisch auf die Per­son Clai­res: »The bel­oved is more than a woman, she be­co­mes a ma­gi­cal, my­thi­cal being, an Ur­ge­stalt des Wei­bes, dis­per­sed through the uni­ver­se«, oder: »Fre­quent­ly the bel­oved is seen in terms of a land­scape«, wobei die di­rek­ten Zu­wei­sun­gen in der Fest­stel­lung gip­feln: »The late love poems are […] not overt­ly se­xu­al or even sen­su­al, a fact pro­bab­ly due to Golls phy­si­cal con­di­ti­on at the pe­ri­od«. Ob­schon die Au­to­rin mit dem Be­kennt­nis endet, diese spä­ten Ge­dich­te seien »par­ti­cu­lar­ly dif­fi­cult to ca­te­go­ri­ze or sum­ma­ri­ze be­cau­se the in­te­gra­ti­on of the­mes and image­ry is both rich and sub­ti­le«, be­harrt sie nicht nur auf auf ihrer Ein­ord­nung als Lie­bes­ge­dich­te und sta­tu­iert »re­sem­blan­ces to tra­di­tio­nal love poe­try, no­ta­b­ly in the pre­do­mi­nant use of na­tu­re image­ry and the ele­va­ti­on of the bel­oved to a hig­her plane of rea­li­ty«, son­dern ver­weist je­des­mal auf einen be­stimm­ten bio­gra­fi­schen Bezug, wobei sie schlie­ß­lich über die Chan­sons Ma­lai­ses schreibt: They »re­pre­sent a cen­tral fi­gu­re who is a com­plex com­bi­na­ti­on of the real Clai­re, the real Yvan and an ideal Yvan and Clai­re who need no thoughts and no other exis­tence but love«. Um die Zeit, als Par­mée das schrieb, lag der Nach­lass schon vor; den Brief­wech­sel YG-Pau­la Lud­wig, der erst 1993 er­schien, hat sie wohl nicht ge­kannt. Es geht aber we­ni­ger darum; viel­mehr ist dies ein gutes Bei­spiel, auf welch tö­ner­nen Füßen über­zeug­te »bio­gra­fi­sche« In­ter­pre­ta­tio­nen ste­hen, die den grund­sätz­li­chen Feh­ler be­ge­hen, die Per­son des Au­tors mit dem ar­ti­ku­lier­ten Ich des Tex­tes gleich­zu­set­zen.

In­ner­halb sei­ner the­ma­tisch ganz an­ders aus­ge­rich­te­ten Ar­beit be­schäf­tigt sich J. Phil­lips 1984 unter an­de­rem auch mit den Traum­kraut-Ge­dich­ten und kommt zu fol­gen­dem Schluss: »Goll at­tempts, with Traum­kraut, a fu­si­on of the strenghths of Ex­pres­sio­nism and Sur­rea­lism in a new and ori­gi­nal me­di­um«.

1988 schreibt P. G. Pout­hier über die »Clai­re-Ly­rik«, zu der er auch die spä­ten Ge­dich­te rech­net. Er kri­ti­siert Hauck, des­sen Dar­le­gun­gen kei­nen über­grei­fen­den Zu­sam­men­hang zei­gen wür­den, eben­so wie Ex­ners »ro­man­ti­sches Kon­zept.« Wich­ti­ge Hin­wei­se gibt der Autor zur Spra­che des Dich­ters. Bei YG er­wei­se sich die Wort­zu­sam­men­set­zung als ra­di­ka­les Stil­mit­tel bei der Kon­struk­ti­on sei­ner poe­ti­schen Ge­gen­welt. Der im Früh­werk vor­herr­schen­de Wie-Ver­gleich würde vom dich­te­ren Ge­stal­tungs­mit­tel der Ge­ni­tiv­m­e­ta­pher und diese von der noch ra­di­ka­le­ren Kon­trak­ti­ons­m­e­ta­pher ab­ge­löst. Au­ßer­dem gebe es einen »wach­sen­den me­ta­poe­ti­schen Cha­rak­ter die­ser Dich­tung, der im Sym­bol der Dicht­er­hand und der aus dem Kör­per des Dich­ters her­vor­bre­chen­den Pflan­ze sei­nen sym­bo­li­schen Aus­druck er­fährt«. Der Autor be­tont wei­ter­hin, dass YGs Werk nicht nur jen­seit der Gren­zen, son­dern auch jen­seits der Sprach­gren­ze steht. Aus der Samm­lung der 52 Ge­dich­te ord­net er 29 als Lie­bes­ge­dich­te ein. Er be­tont die Pro­zess­haf­tig­keit von YGs Schrei­ben und weist auf die vie­len Vor­stu­di­en zu Ge­dich­ten hin. Er hält YG für einen letz­ten Ro­man­ti­ker, al­ler­dings spricht er von »ent­ro­man­ti­sie­ren­der Ro­man­tik«. Ro­man­tisch sei das, was die Dich­tung aus­spre­che, ent­ro­man­ti­siert, wie sie es aus­spre­che.« Sei­ner mo­der­nen Spra­che zum Trotz blüht das Traum­kraut in nächs­ter Nähe zur Blau­en Blume des No­va­lis.« Die letz­ten Ge­dich­te seien per­so­nen­be­zo­gen, die »Liebe, die zur Land­schaft ver­wan­del­te Ge­lieb­te und die diese Ver­wand­lung be­wir­ken­de Dich­tung« sehe er als »das ein­zig mög­li­che Re­fu­gi­um in einer ahas­ve­ri­schen Exis­tenz.« Das the­ma­ti­sche Spek­trum ent­hal­te außer Tod und Liebe auch die Mög­lich­keit des Dich­tens über das den Tod über­win­den­de Dich­ten. Pout­hier sieht bei YG die Fra­gen des Dich­ters nach Sinn und Sinn­stif­tung. Liebe und Poe­sie wür­den sich dabei als »Ga­ran­ten« er­wei­sen in einer an­sons­ten sinn­lo­sen Exis­tenz.« Das kann man so sehen, so­lan­ge bei »Liebe« nicht hin­zu­ge­fügt wird »d.h. deren we­sen­haf­te Ver­kör­pe­rung in der ge­lieb­ten Le­bens­ge­fähr­tin Clai­re«. Zu­sam­men­fas­send hält Pout­hier die Traum­kraut-Ge­dich­te ei­ner­seits für Texte über die Liebe, – wobei es Texte für und über Clai­re seien – , an­de­rer­seits auch für Texte über die Mög­lich­keit des Dich­tens. »Traum« sub­su­miert dabei für ihn Liebe und Poe­sie.

Die 1999 er­schie­ne­ne Ar­beit von Ch. Plei­ner be­schäf­tigt sich nicht ex­pres­sis ver­bis mit den Traum­kraut-Ge­dich­ten, son­dern un­ter­sucht Eros und In­ter­textua­li­tät bei Clai­re und Yvan Goll. Den­noch muss sie hier er­wähnt wer­den, weil sie am Ende auch von »spä­ten Lie­bes­ge­dich­ten« spricht und z.B. den »Re­gen­pa­last« als Lie­bes­ge­dicht im Dia­log mit CGs Ge­dich­ten auf­fasst: »Der Bezug zu den spä­ten Ge­dich­ten von Clai­re Goll liegt hier auf der Hand.« Auch wenn ge­ra­de dies an­ge­zwei­felt wer­den kann, ist Plei­ners Fra­ge­stel­lung wich­tig, ob sich die »Lie­bes­ge­dich­te« der Golls tat­säch­lich auf in­ti­me Be­kennt­nis­se re­du­zie­ren las­sen oder ob es sich nicht um eine In­sze­nie­rung von Liebe han­delt, hin­ter der sich eine poe­to­lo­gi­sche Di­men­si­on ver­birgt. Bei der Dis­kus­si­on die­ser Frage geht Plei­ner unter an­de­rem aus von einem Text­be­griff Kris­t­e­vas, die jedes Zei­chen­sys­tem als Text be­greift. Da­hin­ter stehe der Ge­dan­ke, dass Rea­li­tät an sich nicht er­fahr­bar sei, son­dern nur über sprach­li­che Ver­ar­bei­tung der Dinge wahr­ge­nom­men wer­den kann; gleich­zei­tig be­tont der Autor die Ver­la­ge­rung der Krea­ti­vi­tät auch auf den Leser, der in »Ana­lo­gie zum (post)mo­der­nen poeta doc­tus als lec­tor doc­tus po­ten­ti­ell über die ge­sam­te Tra­di­ti­on ver­fügt und auf­ge­for­dert ist, den in­ter­tex­tu­el­len Faden wei­ter­zu­spin­nen.« Er meint, dass sich in vie­len Tex­ten YGs poe­to­lo­gi­sche Ele­men­te fin­den und poe­to­lo­gi­sche In­hal­te trans­por­tiert wer­den. Das Be­wah­ren der Liebe im Text sei ein wich­ti­ger ver­bin­den­der As­pekt der ge­mein­sa­men Lyrik der Golls, Un­ver­gäng­lich­keit der Liebe sei ohne li­te­ra­ri­sche Fi­xie­rung nicht mög­lich. Dass in den Ge­dich­ten die Fik­tio­na­li­tät der selbst­ge­schaf­fe­nen Welt re­flek­tiert werde, das sei ein wich­ti­ger As­pekt der In­ter­textua­li­tät. Im Üb­ri­gen ist Plei­ner grund­sätz­lich der Mei­nung, dass die späte Lyrik in gro­ßen Tei­len eine Wei­ter­füh­rung des Lie­bes­dis­kur­ses ist, wie die zahl­rei­chen Über­schnei­dun­gen die­ser Samm­lun­gen mit den ge­mein­sa­men Ge­dich­te­di­tio­nen aus dem Nach­lass deut­lich ma­chen wür­den.

Die Traum­kraut-Ge­dich­te

Nach sei­nen hand­schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen sand­te YG am 9.2.50, 18 Tage vor sei­nem Tod, fol­gen­de Ge­dich­te mit einem Be­gleit­brief an A. Bos­quet: Son­nen-Kan­ta­teDer Re­gen­pa­lastToch­ter der TiefeDas Wüs­ten­hauptDer Staub­baumIn den Äckern des KampfersDer Salz­seeDie Aschen­hüt­teDie Angst­tän­ze­rinSchnee-Mas­kenSüdOde an den Zü­rich­seeLoth­rin­gi­sche OdeRa­ziel’s Ge­sangGips­kopfTo­deshund. Aus die­ser Zu­sam­men­stel­lung wurde fol­gen­de Aus­wahl vor­ge­nom­men:

Gips­kopf und To­deshund wer­den nicht ein­be­zo­gen, da sie nicht zu den ur­sprüng­lich deut­schen Ge­dich­ten ge­hö­ren. Sie wur­den auf Fran­zö­sisch ge­schrie­ben und von CG über­setzt. Auch wenn das Glei­che auf Ra­ziel’s Ge­sang zu­trifft, wurde die­ses Ge­dicht wegen sei­ner Wich­tig­keit für YGs Ge­samt­werk mit in die Aus­wahl auf­ge­nom­men. Es wurde eine ei­ge­ne »wört­li­che« Über­set­zung vor­ge­nom­men, da die vor­lie­gen­de Über­set­zung von CG von we­sent­li­chen Ver­än­de­run­gen ge­prägt ist. Nicht ein­be­zo­gen wur­den fer­ner Schnee-Mas­ken und Die Angst­tän­ze­rin. Von bei­den Ge­dich­ten liegt kein Ma­nu­skript von YG selbst vor. Auf eine ge­son­der­te In­ter­pre­ta­ti­on von Toch­ter der Tiefe wurde eben­falls ver­zich­tet, ver­wie­sen wird auf die Deu­tun­gen von Exner 1957 und 1960. Auch wenn die­ser letzt­lich der Mei­nung ist, dass es sich bei Das Traum­kraut um Lie­bes­ge­dich­te han­delt und dass diese ein Ver­such waren, »in einer ver­ein­sam­ten Welt eine Insel des Glücks und der Ge­bor­gen­heit zu schaf­fen«, in­ter­pre­tiert er das an­ge­führ­te Ge­dicht doch im Sinne des Ver­suchs, Über­rea­li­tät in Verse zu ban­nen.

Die aus­ge­wähl­ten Ge­dich­te be­fin­den sich in fol­gen­den Kon­vo­lu­ten des Nach­las­ses im DLA: 2.e par­tie en­voyee a Alain Bos­quet. – Fer­ner: Bloc d’Al­sace, Straß­burg 1948 – 49 ( In den Äckern des Kampfers). – Bloc­co per note, März 1949 (Ode an den Zü­rich­seeDer Staub­baumDie Son­nen­kan­ta­teDas Wüs­ten­haupt). - Lie­bes­son­ne (Der Salz­seeDer Re­gen­pa­lastDie Aschen­hüt­te) - Ve­ni­se 1949 (Loth­rin­gi­sche Ode). Le chant de Ra­ziel war be­reits 1949 in Paris er­schie­nen (Ele­gie d’Ih­pe­ton­ga suivi des Mas­ques de Cend­re).

Alle Ge­dich­te ent­stan­den zwi­schen 1948 und 1949. Eine chro­no­lo­gi­sche An­ord­nung er­schien nicht sinn­voll, da ge­naue Ent­ste­hungs­da­ten oft nicht be­kannt sind und weil YG oft ver­schie­de­ne Ge­dich­te gleich­zei­tig schrieb und immer wie­der be­ar­bei­te­te. Viel­mehr wird eine Ein­tei­lung in vier Grup­pen nach the­ma­ti­schen Ge­sichts­punk­ten vor­ge­nom­men. Für alle Daten wird ver­wie­sen auf Glau­erts Be­mer­kun­gen »Zur Edi­ti­on« (Glau­ert 1996). Wo nicht aus­drück­lich an­ders ver­merkt, be­zie­hen sich die be­nutz­ten Fas­sun­gen auf die Aus­ga­be von Glau­ert.

Text­ana­ly­se

Der Titel ist (Bur­dorf 1997) der wich­tigs­te Pa­ra­text des Ge­dichts. Bis in die Neu­zeit hin­ein waren bei Ge­dich­ten nur Samm­lun­gen mit Ti­teln ver­se­hen, diese be­stan­den meist nur aus der Gat­tungs­be­zeich­nung. Hatte aber ein Ge­dicht einen Titel, so konn­te man schon seit dem Ba­rock zwei Grund­for­men un­ter­schei­den: er be­zeich­ne­te ent­we­der das Thema und den Ge­gen­stand des Ge­dichts oder er bezog sich re­fle­xiv auf das Ge­dicht selbst.

Das Traum­kraut ist zu­nächst eine Wort­schöp­fung, die in ihrer Kon­zen­tra­ti­on ein brei­tes Kon­no­ta­ti­ons­feld er­öff­net. »Traum« ver­weist auf Schlaf, die Un­wirk­lich­keit, den von Göt­tern ge­sand­ten, nu­mi­no­sen Traum eben­so wie den nach­nu­mi­no­sen; den Wunsch­traum, den Traum, der in Er­fül­lung gehen kann, den Wachtraum, das Ge­gen­teil von Kon­zen­tra­ti­on, etwas Flie­ßen­des. »Kraut« stammt aus dem ve­ge­ta­ti­ven Be­reich, be­zeich­net eine Pflan­ze, eher keine kul­ti­vier­te, son­dern eine wild­wach­sen­de, auch mit dem Hang zum Über­wu­chern. Man denkt hier an die wu­chern­de Fan­ta­sie, an etwas Üp­pi­ges, »ins Kraut Schie­ßen­des.« Dabei kann ein Kraut ma­gi­sche Ei­gen­schaf­ten haben; Hexen und Zau­be­rer in den Mär­chen ver­wand­ten ein »Kräut­lein«, ein ver­wan­deln­des oder auch hei­len­des. Die Kon­no­ta­ti­on zu Dro­gen liegt eben­falls auf der Hand, be­son­ders in der Kom­bi­na­ti­on mit Traum. Ein Kraut also, wel­ches zu Träu­men, zu vir­tu­el­len Er­leb­nis­sen führt? Oder eins, das aus Träu­men ent­steht, aus Vi­sio­nen? Eins, wel­ches als Arz­nei­mit­tel ver­wen­det wird und Wun­den heilt? Es wird zu zei­gen sein, dass die­ses weite Feld durch­aus im Gan­zen an­ge­spro­chen ist.

Grup­pe 1: Süd und In den Äckern des Kampfers

Von dem Ge­dicht Süd lie­gen ein Ma­nu­skript und ein Ty­po­skript von YG vor, Ers­te­res schwer le­ser­lich, das Zwei­te mit Text­va­ri­an­ten. Das Ge­dicht ist nach Golls Ta­ge­buch auf den 18.12.48. da­tiert. »Süd­wind rüt­telt an mei­nen Wir­beln,« wo­durch »eine Tür in mei­ner Brust« auf­springt, sagt ein Ich, wel­ches dann den »Süd« di­rekt an­spricht. Es scheint meh­re­re Türen zu geben, und das Ich fragt sich, wel­che die sei, »durch die ich mir ent­flieh.« Sein Wunsch ist einer: die »Eis­zeit mei­nes Her­zens« soll er­löst wer­den. Das kann der »Süd­atem som­mer­li­chen Meers« er­rei­chen. Der Süd­wind wird per­so­ni­fi­ziert, als »brü­der­lich« an­ge­spro­chen. Er soll den »In­tel­lekt« weg­wi­schen von der Stirn und »die Glet­scher der Ver­nunft von mei­nem Schmerz­ge­bir­ge schmel­zen« las­sen.

Das Ge­dicht ist ein­fach struk­tu­riert und zeigt kaum sprach­li­che Ex­pe­ri­men­te, die Syn­tax ist klar, die Sätze sind voll­stän­dig. Viel­leicht ist dies der Grund, dass es auch in­halt­lich so klar zu sein scheint. Die Wort­schöp­fung »Schmerz­ge­bir­ge«, die einen sehr gro­ßen, las­ten­den, schwer zu über­win­den­den Schmerz in ein Wort bannt, wird so leicht – zu leicht – mit der Krank­heit des Au­tors und per­sön­li­chem Er­le­ben von Schmerz im Kran­ken­haus zu­sam­men­ge­bracht. Ab­ge­se­hen davon, dass man nicht die Per­son des Au­tors mit dem im Text spre­chen­den Ich iden­ti­fi­zie­ren darf: han­delt es sich hier nicht über­haupt um etwas ganz An­de­res? Ist es nicht viel­mehr der alte Kon­flikt zwi­schen Ratio und Ge­fühl, der hier auf­scheint? Die Kluft zwi­schen der win­ter­li­chen Kälte der Ver­nunft und der som­mer­li­chen Wärme der Emp­fin­dung? Der Gra­ben zwi­schen der po­si­ti­vis­ti­schen tech­nisch do­mi­nier­ten Welt und dem »Blau«, dem »Süd­wort« Gott­fried Benns, woran der »Süd­atem« so­fort den­ken lässt? Dafür spricht das Meis­te. Die Glet­scher der Ver­nunft ste­hen gegen das Herz, sie haben das Ge­bir­ge in ein Schmerz­ge­bir­ge ver­wan­delt und dem Her­zen die Eis­zeit auf­er­legt. Viele Türen sind in der Brust des Men­schen, durch eine kann er sich selbst ent­flie­hen, sei­nem auf ihm las­ten­den In­tel­lekt. Die Lö­sung kann Droge hei­ßen, aber auch locus amo­e­nus, Pa­ra­dies­gärt­lein, Ar­ka­di­en. Hier heißt sie »Süd­atem som­mer­li­chen Meers«. Bei Benn be­stand am An­fang noch die Mög­lich­keit der Re­gres­si­on, bei Goll scheint hier be­reits das Über­schrei­ten der All­tags­wirk­lich­keit auf. Sprach­lich ein­drucks­voll sind in die­sem Ge­dicht die hohe Zahl von As­so­nan­zen, wobei zu­sätz­lich eine mu­si­ka­li­sche Qua­li­tät durch die Wahl be­stimm­ter Laute (s und sch) er­reicht wird, die auf den Wind ver­wei­sen. Das Ge­dicht ist in frei­en Rhyth­men ab­ge­fasst, ver­wen­det kei­nen End­reim und be­nutzt keine über­lie­fer­te Form. Den­noch er­in­nert es von fern an ein So­nett, wobei die ab­ge­setz­ten zwei Zei­len nach den ers­ten zwei Quar­tet­ten die Aus­sa­ge zu­sam­men­fas­sen: es geht um Er­lö­sung, und zwar von einer Zeit, der Eis­zeit des Her­zens. Genau diese zwei Zei­len feh­len in der Fas­sung des Sam­mel­ban­des »Dich­tun­gen«, die 1960 von CG her­aus­ge­ge­ben wurde.

Zu In den Äckern des Kampfers exis­tiert ein Ma­nu­skript von YG. Auch hier scheint der Bezug auf die Wirk­lich­keit von Krank­heit ober­fläch­lich klar zu sein. Das Ich spricht ein Du an, wel­ches sich im Lauf den Tex­tes als das Selbst er­weist. Es wird aber be­reits eine Ge­gen­welt evo­ziert durch Fest­stel­lun­gen, die im Zu­sam­men­hang mit einer – wenn auch dich­te­risch um­schrie­be­nen, so doch als »rea­lis­tisch« wahr­nehm­ba­ren – Be­schrei­bung (Äckern des Kampfers, Sümp­fe des Jods) nur als pa­ra­dox zu be­zeich­nen sind: Das Ich trinkt sich »end­lich jung« und wird »bes­ser ge­nährt«, aber es han­delt sich um das »Fest der Ver­we­sung«? Eine Auf­lö­sung ist zu fin­den in der drit­ten Stro­phe: nur alle tau­send Jahre ein­mal blüht die »gelbe ad­li­ge Blume«, die sich »lang­sam aus dei­nem Brust­korb« win­det, und »im süd­öst­li­chen Schä­del zit­tert ein neuer Stern«. So geht es hier wie im vo­ri­gen Text um etwas ganz An­de­res als Selbst­be­zug im All­ge­mei­nen oder Bezug auf die per­sön­li­che Krank­heit im Be­son­de­ren, wie zum Bei­spiel von Per­kins ge­le­sen, die, von einem »use of ve­ge­ta­ti­ve images to de­scri­be the sym­ptoms of Goll’s ill­ness« spricht. Es geht wie im ers­ten Ge­dicht wie­der um das »Süd« als Chif­fre einer an­de­ren Welt, gleich­zei­tig wird aber hier be­reits auf das Feld des Krea­ti­ven, der Dich­tung ver­wie­sen. Aus dem Ver­we­sen­den, Über­wun­de­nen ent­wi­ckelt sich lang­sam die Blume, die adlig ist, ein neuer Stern, die Blume der Ro­man­tik, der Über­welt, der Dich­tung.

In den Ge­dich­ten der ers­ten Grup­pe wird also ein Ich in der Rea­li­tät evo­ziert im alten Kon­flikt zwi­schen Ratio und Ge­fühl, Geis­ti­gem und Kör­per­li­chem, be­la­den mit Ge­schich­te und ei­ge­ner Ver­gan­gen­heit sowie schmerz­haf­ter Ge­gen­wart, ge­fan­gen in der Zeit, wel­ches eine Lö­sung zum Her­aus­tre­ten aus die­ser Wirk­lich­keit sucht, wobei diese in der Kunst, der schöp­fe­ri­schen Dich­tung, auf­scheint.

Grup­pe 2: Ode an den Zü­rich­see und Loth­rin­gi­sche Ode

In bei­den Fäl­len liegt die Grund­form der al­käi­schen Ode vor. Das Oden­maß hatte schon Horaz er­ha­be­nen Ge­gen­stän­den vor­be­hal­ten, Höl­der­lin be­nutz­te es weit­ge­hend; mit sei­nen Oden wurde er­reicht, »dass im Sil­ben­maß an und für sich schon ein be­stimm­ter Aus­druck vor­ge­ge­ben ist« (Beiß­ner 1965).

Auf Klopstock geht die heute im Deut­schen noch gel­ten­de Auf­fas­sung von der Er­ha­ben­heit der Ode zu­rück. Wäh­rend sie im Eng­li­schen nicht for­mal de­fi­niert war und eine Form eher ad hoc ge­wählt wurde, führ­te Ron­sard die form­ge­bun­de­ne ho­ra­zi­sche und pin­da­ri­sche Ode in die fran­zö­si­sche Dich­tung ein. In Deutsch­land trat sie in der be­kann­ten klas­si­schen Form zu­erst im Hu­ma­nis­mus in la­tei­ni­scher Spra­che auf, (Libri odar­um qua­tu­or 1513), spä­ter mit Weck­her­lins Oden und Ge­sän­gen 1618 in deut­scher. Vom Lied un­ter­schied sie sich (Braak 1969) durch Stil­hö­he und stren­ge­re Form, Größe und Würde der er­grif­fe­ne­nen The­men. Die Ode be­deu­tet den Über­gang zum frei­ryth­mi­schen Ge­bil­de (Schödlbau­er 1982). In die­sem über­dau­er­te sie am ehes­ten in Form der Klage.

Die Ode an den Zü­rich­see ruft mit ihrem Titel zu­nächst die Er­in­ne­rung an Klopstocks Ode Der Zür­cher See her­vor, die al­ler­dings in der as­kle­pia­di­schen Form ge­schrie­ben wurde. Dort fol­gen nach den ers­ten Stro­phen der Evo­zie­rung von Er­in­ne­rung an eine Boots­fahrt die The­ma­ti­sie­rung der Un­sterb­lich­keit und ihr Rück­be­zug auf Liebe und Poe­sie. Da YG be­wusst die­sen Titel wählt, wird man seine Ode als ein Pa­lim­psest be­trach­ten müs­sen. Der Be­griff wird be­nutzt nach Ge­net­te, wo »Trans­for­ma­ti­on« als eine Er­schei­nungs­form der Hy­per­textua­li­tät auf­ge­fasst wird: Be­hand­lung des glei­chen The­mas auf an­de­re Weise. (Ge­net­te 1993).

Klopstock be­ginnt mit einem Freu­den­ge­sang an die Natur; alles steht im Zei­chen der Glück­ser­fah­rung, wobei in die­sen Freu­den­stun­den die Zeit still­steht und ein Leben jen­seits der Ver­gäng­lich­keit exis­tiert. Diese vor­über­ge­hen­de Ah­nung von Un­sterb­lich­keit kann nun in der Poe­sie auf eine hö­he­re Ebene ge­ho­ben wer­den; das Ge­dicht ver­sucht, die flüch­ti­ge Er­fah­rung des Glücks dau­er­haft zu ma­chen. Dem­ge­gen­über kann man aus YGs Ode keine mit Freu­de zu ver­bin­den­den Teile de­stil­lie­ren. »WEH« wird dem Men­schen zu­ge­ru­fen in der pas­sen­den Oden­form der Klage, dem Men­schen, der alles er­lei­det und nichts über­blickt von al­le­dem, was of­fen­sicht­lich schon lange be­kannt, ja, be­schlos­sen ist, durch an­de­re Mäch­te. »Be­schwo­ren im Schrift­satz der Glet­scher« steht längst alles, das »ur­al­te Ur­teil«, wel­ches ge­fällt ist von An­fang an. Wis­send sind nicht die Men­schen, eher die alten My­then, wie ver­kün­det auf an­ti­ken Har­fen. Nicht nur be­schlos­sen ist es, son­dern auch ein­ge­schrie­ben, durch die Magie, durch ok­kul­tes und her­me­ti­sches Wis­sen, («Gelb strahlt ein aber­gläu­bi­sches Omega«), in der »Vo­gel­schrift«, aber die Men­schen kön­nen die Hie­ro­gly­phen nicht ent­zif­fern. Es sieht so aus, als ob die Ge­schich­te der Mensch­heit nur vor­bei­huscht; be­son­ders da, wo es um die Spra­che geht, gibt es aber ein Fra­ge­zei­chen. Nichts scheint zu blei­ben, auch die Schwä­ne selbst, die of­fen­sicht­lich ihren »Schwa­nen­ge­sang« an­ge­stimmt haben, ster­ben. Hier wird man auch den be­kann­ten Topos »Schwan = Dich­ter« er­ken­nen. Am Ende hört man nur die »irr­ge­w­ord­ne Stadt« hei­ser schrei­en. Das gelb strah­len­de aber­gläu­bi­sche Omega ist nichts von außen Auf­ge­pfropf­tes, im Men­schen selbst be­fin­det es sich, in sei­ner »über­mü­de­ten Men­schen­stirn«. Ir­gend­wo aber gibt es einen Quell, der klagt; er wird zu einer blau­en Quel­le, blau, das Wort der ro­man­ti­schen Sehn­sucht. Es gibt eine Zu­kunft, aber of­fen­sicht­lich sind be­son­de­re Qua­li­tä­ten dazu nötig, sie zu ahnen: Kin­der be­sit­zen diese. Sie hören nicht die Quel­le rau­schen, sie »hören« syn­äs­the­tisch die »blaue Quel­le.« Das ist eine se­man­ti­sche Grenz­über­schrei­tung. Der Text geht also im Ge­gen­satz zu Klopstocks Evo­zie­rung von Freu­de und Ein­heit mit der Natur aus von der Zer­ris­sen­heit und dem Lei­den an der Wirk­lich­keit der Mo­der­ne und er­scheint so an­fäng­lich wie eine Kon­traf­ak­tur, letzt­lich geht es aber doch um das Glei­che wie bei Klopstock: um Zu­kunft und damit das Ver­schie­ben vom Flüch­ti­gen zum Dau­er­haf­ten.

Von die­ser Ode gibt es eine an­de­re Ver­si­on, zu­erst er­schie­nen in »Hor­tu­lus« 1958, die in frei­en Rhyth­men ab­ge­fasst ist, und die auch in der »Ma­gi­ca«- Edi­ti­on über­nom­men wurde, mit einer Än­de­rung in der vor­letz­ten Stro­phe. Nach den An­ga­ben in »Hor­tu­lus« ent­stand diese Fas­sung am 21.10.1949, die zwei­te hier zu­grun­de­ge­leg­te am 23.10. Der Kom­men­tar zur Ver­öf­fent­li­chung sagt wenig über das Ge­dicht und viel über edi­to­ri­sche Prak­ti­ken aus: »Die Ode ent­stand im Herbst 1949[...]in Zü­rich. Von den zwei er­hal­te­nen Fas­sun­gen vom 21. und 23. Ok­to­ber 1949 wähl­ten wir die erste fri­sche­re ( die zwei­te stellt den Ver­such einer An­nä­he­rung an an­ti­ke Oden­stro­phen dar), über­nah­men aber eine Zeile aus der zwei­ten Fas­sung.« Das »fri­sche­re« soll hier nicht kom­men­tiert wer­den, steht es doch ein­fach für die per­sön­li­che An­sicht der für ihre Zeit­schrift ver­ant­wort­li­chen Her­aus­ge­ber. Dass aber ohne An­ga­be von Grün­den Zei­len aus an­de­ren Fas­sun­gen über­nom­men wer­den, ist ein Bei­spiel dafür, dass of­fen­sicht­lich selbst bei Her­aus­ge­bern von Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten die Mei­nung herrscht, Text­ge­nau­ig­keit sei nicht so we­sent­lich und an Ge­dich­ten dürf­ten »Ver­bes­se­run­gen« je nach An­sicht des je­wei­li­gen Mit­ar­bei­ters vor­ge­nom­men wer­den. Das er­in­nert an die Prak­ti­ken CGs, die als Kri­te­ri­um das Be­fra­gen der Büste ihres toten Man­nes angab und der Mei­nung war, das For­dern von Text­ge­nau­ig­keit sei Aus­druck einer klein­li­chen Kri­tik von deut­scher Seite. (» Nie­mand wird in Paris beck­mes­sern, wenn durch ab­sicht­li­che Än­de­run­gen oder sogar Weg­las­sun­gen die Texte des Dich­ters an Schön­heit ge­win­nen«. CG in Wie­de­mann.) Fest­zu­hal­ten ist, dass YG of­fen­sicht­lich die erste Fas­sung als Ent­wurf be­trach­tet hat, den er dann ver­warf, um die zwei­te in der stren­ge­ren Form zu schaf­fen, wobei er das ge­naue Maß der al­käi­schen Ode nur an we­ni­gen Stel­len ver­lässt, be­son­ders auf­fäl­lig im letz­ten Vers: »Quel­le hin­term Haus«, wel­cher in die Zu­kunft ver­weist. Dass die Men­schen­spra­che an Joy­ces Grab zu ver­we­hen scheint, ist ein Teil der End­zeit, der End­zeit der Spra­che, wobei sich aber auch wie­der der Kreis zur An­ti­ke schlie­ßt, hielt YG Joyce doch für den »Homer un­se­rer Zeit«, den »grö­ß­ten Dich­ter.«

Die Loth­rin­gi­sche Ode be­nutzt die glei­che Form. Sie hat be­son­de­re Be­deu­tung, da sie viel­leicht eins der letz­ten Ge­dich­te YGs über­haupt ist, be­en­det nach Ta­ge­buch­ein­tra­gung YGs am 7.2.1950. Man denkt zu­nächst an sein frü­he­res Ge­dicht, das Loth­rin­gi­sche Kreuz von 1940, mit dem di­rek­ten Bezug auf den Krieg, der das »Herz Frank­reichs, Frank­reich mei­nes Her­zens« ver­wan­del­te, indem er zum Bei­spiel »Äh­ren­fel­der« zu »Fel­der{n} der Ehre« ver­kehr­te. Die Loth­rin­gi­sche Ode ist viel kom­pli­zier­ter, auch wenn sie sich sprach­lich wie­der in ge­wohn­ter Syn­tax mit gan­zen Sät­zen dar­stellt. In den ers­ten drei Stro­phen wird der lo­ka­le Bezug des Ti­tels ver­stärkt und ein his­to­ri­scher her­ge­stellt: der »wor­te­träch­ti­ge« -in die­ser Kon­trak­ti­on wird in kür­zest mög­li­cher Form des Dich­ters An­ge­füllt­sein von Wor­ten be­nannt- Auson ritt früh durch die­sen ei­chen­bors­ti­gen Sta­chel­wald. Er trank den grau­en ei­ser­nen Wein von Scy, der loth­rin­gi­schen fran­zö­si­schen Ge­mein­de, die bis ins 18. Jahr­hun­dert zun Deut­schen Reich ge­hör­te, und be­sang alles, »der Abend­wun­den zähes To­ma­ten­rot, der Römer durch­sich­ti­gen Kirsch­schnaps oder die schwef­li­ge Zwet­schen­la­va«. In der vier­ten Stro­phe fin­det der in­halt­li­che Um­schlag statt. »So fand ich sein ver­schol­le­nes In­stru­ment«. Der Dich­ter stellt sich in die Reihe der Sän­ger seit der An­ti­ke. Auch die Me­lo­di­en sind ewig, »zei­ten­ver­ges­sen«, ein Jahr­tau­send wird zu Tagen. Was aber ist mit den In­hal­ten? »Des Au­er­och­sen ma­gi­sches Drei­eck äugt nach mei­nes Schick­sals heu­ti­gem Hun­ger­ruf«. Die In­hal­te sind wie­der ma­gisch, her­me­tisch, letzt­lich nicht dar­stell­bar und nicht auf­lös­bar. Wie­der wird eine End­zei­tat­mo­sphä­re evo­ziert, eine Phase des Aus­ge­lie­fert­seins, des Nicht­ver­ste­hens und der Nicht­er­klär­bar­keit. Ein Koh­le­trüf­fel schwillt un­term blas­sen Gras, Gift­pil­ze schwan­ger mit Ar­se­nik mäs­ten den Schier­ling und bren­nen Bläu­ling; jedes Wort trägt Angst und Ent­set­zen. Es geht nur noch um Ver­nich­tung, in die ge­frä­ßi­gen Öfen stürzt alles, nicht mehr nur Ver­ein­zel­tes, (wie einst des Ebers Herz), son­dern des Ber­ges Herz, so lange bis die end­gül­ti­ge Zer­stö­rung ein­tritt, in Pom­pey, das mit Pom­pe­ji auch durch das sprach­li­che As­so­zi­ie­ren zu­sam­men­fällt. To­tal­zer­stö­rung wird hier ge­malt in Wor­ten, man sieht re­flex­ar­tig die Bil­der bom­bar­dier­ter Städ­te, und »ge­frä­ßi­ge Öfen« kann zu­min­dest in Deutsch­land wohl nie­mals mehr ohne den Ge­dan­ken »Ausch­witz« re­zi­piert wer­den. Es geht also um Aus­lö­schung, Ver­nich­tung, Nie­der­gang, End­zeit, die Hölle des Krie­ges und der Ka­ta­stro­phen, das Un­sag­ba­re der Ver­nich­tungs­la­ger. Wie am An­fang des Ge­dichts für den gro­ßen ge­schicht­li­chen Rah­men braucht der Dich­ter auch hier­für wie­der drei Stro­phen. Dann be­ginnt das Auf­at­men: es gibt noch eine an­de­re Welt. Auch wenn der Sän­ger nur ein ma­ge­res Schilf gegen alles zu set­zen hat, die­ses An­de­re lässt der Früh­lin­ge [...] Fah­nen wehn. Zwar kön­nen diese ver­geb­lich sein, aber die Ode reift in jähr­li­chen Gren­zen wei­ter, auch wenn der Dich­ter längst tot ist, sein Kno­chen dorrt. Mag die Mosel eine To­ten­brü­cke haben, dar­un­ter zeigt sie den Dau­er­wan­del.

Sprach­lich sind bei bei­den Oden außer der al­käi­schen Form mit der ihr ent­spre­chen­den Wahl einer »hohen« Spra­che vor allem die vie­len Kon­trak­tio­nen zu er­wäh­nen, wobei be­kann­te Wort­bil­dun­gen (z.B. Gift­pil­ze) neben vie­len Neu­bil­dun­gen ste­hen (wie Sta­chel­wald, To­des­la­chen, Abend­wun­den, Mo­sel­haar, Hun­ger­ruf, Hör­ge­dächt­nis, Spie­gel­grund, To­ten­brü­cke in der Loth­rin­gi­schen Ode, Staub­hand, Re­ben­rotrun­de, Vo­gel­schrift, Mö­ven­hand­schuh, in der Ode an den Zü­rich­see. In der Loth­rin­gi­schen Ode fal­len dar­über hin­aus auch Ad­jek­tiv­kon­trak­tio­nen auf: wor­te­träch­tig, bit­ter­stark, ei­chen­bors­tig, glut­be­rauscht, grün­ge­floch­ten. All diese Wort­bil­dun­gen ver­stär­ken noch den Ein­druck der »hohen« Spra­che, vor allem aber wird eine un­ge­heu­re Dich­te des Aus­drucks er­reicht. As­so­nan­zen und Al­li­te­ra­tio­nen wer­den häu­fig be­nutzt, was die mu­si­ka­li­sche Qua­li­tät ver­stärkt, wobei auch Syn­äs­the­si­en ein­ge­setzt oder her­vor­ge­ru­fen wer­den (zähes To­ma­ten­rot, bit­ter­star­ke Wolfs­milch.)

Zwei Oden also lie­gen hier vor, die hoch­kon­zen­triert und auf die kür­zest mög­li­che Weise Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart, Leben und Welt um­rei­ßen, das Ge­wor­fen­sein des Men­schen und sein Aus­ge­setzt­sein in der Zeit, sein Aus­ge­lie­fert­sein ge­gen­über ma­gi­schen hö­he­ren Mäch­ten the­ma­ti­sie­ren, sein Un­ver­mö­gen allen Ge­wal­ten ge­gen­über zei­gen, sich dabei aber ein­ord­nen in min­des­tens drei we­sent­li­che Rei­hen: ein­mal die der An­ti­ke durch das al­käi­sche Oden­maß, zum An­de­ren die der Emp­find­sam­keit durch die un­mit­tel­ba­re An­leh­nung an Klopstock, schlie­ß­lich in die Reihe der poe­ti­schen Schöp­fun­gen, wobei durch das Ar­beits­pro­dukt des Dich­ters, das Ge­dicht, Zu­kunft mög­lich wird. So wird der Bogen ge­schla­gen von dem an­ti­ken Sän­ger, des­sen In­stru­ment der neu­zeit­li­che Dich­ter fin­det, wie­der bis zu Klopstock und dar­über hin­aus, denn genau wie bei Klopstock geht es um das Fest­hal­ten von Flüch­tig­keit im Dau­er­wan­del, die Quel­le wird von Kin­dern ge­hört, die Ode reift wei­ter. Exegi mo­nu­men­tum aere pe­ren­ni­us, schreibt Horaz. YG stellt sich in die­sen Ge­dich­ten in die di­rek­te Nach­fol­ge aller Dich­ter. Diese wol­len eine blei­ben­de Welt schaf­fen, auch wenn rund­her­um alles be­droht ist und ver­nich­tet wird, und sie tun es durch eine Spra­che, in der »Fülle durch Re­duk­ti­on« (Schödlbau­er 1994) er­reicht ist. Ge­ra­de Klopstock hatte das in sei­nen dich­tungs­theo­re­ti­schen Schrif­ten for­mu­liert: »Die Spra­che hat also, für den Poe­ten, we­ni­ger Wör­ter: der erste Un­ter­schied der Poe­sie und Prosa«.

Grup­pe 3: Salz­seeWüs­ten­hauptRe­gen­pa­lastAschen­hüt­teStaub­baumSon­nen­kan­ta­te

Diese sechs Ge­dich­te be­nut­zen be­reits im Titel die Me­tho­de der Kon­trak­ti­on von Sub­stan­ti­ven als Me­tho­de des kür­zes­ten Zu­sam­men­brin­gens von in der Rea­li­tät nicht zu­sam­men­ge­hö­ren­den Tei­len, wo­durch schon in den Ti­teln durch die Neu­kon­struk­ti­on von Be­grif­fen eine an­de­re Welt auf­scheint.

Das Wüs­ten­haupt

Das Ge­dicht stammt aus dem Kon­vo­lut »Bloc­co per note« vom März 1949. Es liegt ein Ma­nu­skript von YG vor mit hand­schrift­li­chen Kor­rek­tu­ren. »Wüste« evo­ziert zu­nächst Leere, Aus­ge­lie­fert­sein, die Gren­ze des­sen, was Men­schen er­tra­gen kön­nen. Gläu­bi­ge setz­ten sich dort aus, Ere­mi­ten, unter die­sen Be­din­gun­gen sind Hal­lu­zi­na­tio­nen leicht. Man denkt viel­leicht an die »Wüs­ten­not« und das »Go­bi­graun« Benns. Das Ge­dicht spricht ein DU an. Es ist aus der hier zu­grun­de­ge­leg­ten Fas­sung nicht er­sicht­lich, dass es sich um ein weib­li­ches DU han­delt. In einer an­de­ren Fas­sung, die im Li­mes­ver­lag 1982 ver­öf­fent­licht wurde, sind Än­de­run­gen vor­ge­nom­men, die sinn­ver­schie­bend sind, ist hier doch plötz­lich die Rede von dem Se­he­rIN­NEN­au­ge: die Zeile »Die Augen se­he­risch über die Zeit hin­weg« ist er­setzt durch »Dein Se­he­rin­nen­au­ge die Zeit über­strah­lend«; fer­ner ist in der Zeile »Ich glaub­te dei­nen Namen für immer ge­bor­gen« »Name« durch »Herz« er­setzt. Man muss also davon aus­ge­hen, dass CG auch hier diese Än­de­run­gen vor­nahm, um das Ge­dicht im Sinne ihrer Vor-In­ter­pre­ta­ti­on zu ge­stal­ten. Das ganze Bänd­chen ist wie­der ein Bei­spiel für die Pro­ble­ma­tik der Aus­ga­ben des Werks von YG. Es ist 1982 ge­druckt und ver­wen­det ein Vor­wort von Clai­re Goll ohne wei­te­re Da­ten­an­ga­ben. CG ist aber 1977 ge­stor­ben. – Diese Fas­sung des Wüs­ten­haupts wurde als eins der Traum­kraut-Ge­dich­te auch ver­öf­fent­licht in der Ge­dicht­aus­ga­be des Ma­gi­ca-Ver­la­ges von 1968 zu­sam­men mit zwei frü­he­ren Fas­sun­gen, die dort als zu Abendgesang.​Neila zu­ge­hö­rig be­zeich­net wer­den.

Das Ich be­fin­det sich in der »Wüste des täg­li­chen Todes« und hat sich ein »Haupt« dar­über ge­baut. »Haupt« lässt un­mit­tel­bar an etwas Herr­schen­des, Hö­he­res, oder auch An­zu­be­ten­des den­ken. Die­ser Ein­druck wird noch ver­stärkt in den fol­gen­den Zei­len: beim Bau waren »zahl­lo­se Skla­ven« be­schäf­tigt, aber auch die »be­rühm­tes­ten Ju­we­lie­re«, die Ma­te­ria­li­en waren die kost­bars­ten denk­ba­ren wie Kris­tall. Dass sie ge­nom­men wur­den aus »dem Blut des Son­nen­auf­gangs« und dem »Gold­staub der Ster­ne«, ver­stärkt den Ein­druck des Hö­he­ren, Jen­sei­ti­gen, öff­net aber auch Be­zü­ge zur al­che­mis­ti­schen Schöp­fung, dass die Mau­rer »auf Re­gen­lei­tern« in die Augen stie­gen, zum Trans­rea­len. Aus die­sem Haupt, ge­nau­er aus dem »Gra­nit dei­nes ge­schwell­ten Mun­des der wahr – und irr­sprach« stieg bald »die Zau­ber­leh­re von vie­len Völ­kern« auf, ein di­rek­ter Bezug zum Seher und Scha­ma­nen. In die­sem ers­ten Teil des Ge­dichts wird also, um der Wüste des täg­li­chen Todes zu ent­ge­hen, die of­fen­sicht­lich die Rea­li­tät des Ich dar­stellt, eine vi­sio­nä­re Land­schaft evo­ziert, in die die Ge­stir­ne ein­be­zo­gen sind und in der sich das Ich ein Haupt baut, bei wel­chem man viel­leicht an die ägyp­ti­sche Sphinx denkt, aber auch an die kost­ba­ren Kö­nigs­sta­tu­en und To­ten­mas­ken, wofür auch der Kohol spricht, wel­cher in Ägyp­ten dazu be­nutzt wurde, die Au­gen­li­der zu fär­ben. Das Ich baut also eine mo­nu­men­ta­le Skulp­tur, aus­ge­stat­tet mit allen Mit­teln der Über­lie­fe­rung, der Vi­si­on und des Traums, wel­ches die Funk­ti­on des Se­hers über­nimmt, aber auch des Scha­ma­nen, des­sen Irr­spre­chen erst über­setzt wer­den müss­te, damit die Zau­ber­leh­re ver­ständ­lich würde.

Das Ich sieht das voll­ende­te Haupt und glaubt an die Ver­ewi­gung des Na­mens des an­ge­spro­che­nen Du: »für immer ge­bor­gen in der tiefs­ten Woh­nung der Wüste – Die Augen se­he­risch über die Zeit hin­weg.« Doch es muss die Er­blin­dung des Haup­tes er­le­ben. Blind­heit wird seit der An­ti­ke kom­plex be­han­delt. Bei So­pho­kles ist der se­hen­de Ödi­pus z.B. blind für die Wahr­heit, der blin­de Tei­re­si­as se­hend. Nahe liegt hier auch die As­so­zia­ti­on Dich­ter – Seher. Hier fin­det die Zer­stö­rung statt nicht ein­mal durch große Ge­wal­ten, son­dern »von den leich­ten Ne­beln der Geis­ter.« Die ganze Figur fällt der Ver­wit­te­rung an­heim, ein­fach durch den Wind, das Haupt ent­schwebt und der »ster­ben­den Lip­pen Ge­sang Ver­schallt in blau­em Ge­we­be des Mon­des«. Dass dies so ist, wird nicht di­rekt als ei­ge­ne Wahr­neh­mung des Ichs be­schrie­ben, son­dern in­di­rekt da­durch, dass die Ka­ra­wa­nen, die »mit ihren Staub­ka­me­len« kamen, von al­le­dem nichts be­merk­ten. Aus die­sem Text geht nicht her­vor, wie Car­mo­dy meint, dass »Yvan tells how he built ano­ther dura­ble con­struc­tion in the form of a sta­tue of Clai­re.« Auch kann man aus ihm nicht her­aus­le­sen, wie Per­kins es tut, dass »Clai­re« als eine rie­si­ge Sta­tue ver­ewigt werde.. Viel­mehr geht es um das Schaf­fen­wol­len von etwas Dau­er­haf­tem, wel­ches aber noch nicht ge­lingt. Das For­men der Ma­te­rie selbst, das Be­hau­en des Steins, das Schaf­fen einer Skulp­tur reicht nicht, Ma­te­ri­el­les kann je­der­zeit ver­ge­hen. Kaum Ge­wal­ten sind dazu nötig, der nor­ma­le Ver­wit­te­rungs­pro­zess ist aus­rei­chend. Ein Name kann so nicht für immer ge­bor­gen wer­den. Be­son­ders diese Stel­le zeigt, dass mit dem Du gar nicht eine mensch­li­che Per­son an­ge­spro­chen ist. Der »Name« ver­weist viel­mehr auf das Be­nen­nen, wel­ches die Dinge erst er­schafft, auf den Seher – Dich­ter, der be­nennt und das Su­chen nach dem Namen Got­tes, von dem YG im Ma­ni­fest des Reis­mus sagt, wer Ihn be­nen­ne, der kenne Ihn. Auf die an­de­re Welt wei­sen auch wie­der die »Staub­ka­me­le« hin, sie ge­hö­ren in die Staub­welt wie die Staub­hand aus der Ode an den Zü­rich­see.

Die Son­nen-Kan­ta­te

Auch die­ses Ge­dicht stammt aus »Bloc­co per note«, vom 27.-28.3.1949. Es exis­tiert ein Ty­po­script YGs mit hand­schrift­li­chen Hin­wei­sen. Wie­der spricht ein Ich, wel­ches sich aber nicht un­mit­tel­bar an ein an­de­res Du wen­det, es wird keine an­de­re Per­son evo­ziert. Die An­spra­che rich­tet sich viel­mehr an ein­zel­ne im Ge­dicht vor­kom­men­de Be­grif­fe, die da­durch per­so­ni­fi­ziert wer­den: die Frucht, die Sonne, der Eis­vo­gel. Be­son­ders un­auf­lös­bar er­scheint die vier­te Stro­phe, wo ei­ner­seits »das runde ge­ba­cke­ne Brot­laib« di­rekt an­ge­spro­chen wird, an­de­rer­seits ein »Du« eben die­ses zum Mahle schnei­det. Diese vier­te Stro­phe, eben­so wie auch die achte, ist in »Dich­tun­gen« (Hrsg. CG 1960) weg­ge­las­sen wor­den.

Der Titel er­in­nert an den Son­nen­ge­sang des Fran­zis­kus von As­si­si, auch den Aton – Hym­nus des Ech­na­ton, die YG wahr­schein­lich beide ge­kannt hat. Eine un­mit­tel­ba­re Be­zie­hung ist wohl nicht zu kon­stru­ie­ren, wird doch in den bei­den er­wähn­ten Ge­sän­gen Gott di­rekt an­ge­spro­chen. Näher liegt der Pro­log im Him­mel aus Goe­thes »Faust«, wo im Ge­sang der drei Erz­engel der ewige Sphä­ren­lauf, die Pa­ra­die­ses­hel­le eben­so wie die tiefe schau­er­vol­le Nacht im Wett­ge­sang der tö­nen­den Sonne auf­schei­nen. Das wirk­li­che Thema der un­wirk­li­chen Szene, in der ein Gott wohl asia­ti­scher Her­kunft (sie­ben­ar­mig) tanzt »für uns« (und nicht die Men­schen für ihn), ist wie­der die Zeit: eine Zeit, die hier jeder Vor­stel­lung in­ner­halb un­se­rer Wirk­lich­keit ent­zo­gen wird: die Son­nen sind noch un­ge­bo­ren und schon ver­braucht, eine Zeit, die »sich ver­denkt und ver­gisst,« die der »Eis­vo­gel« ist »im Son­nen­ge­dächt­nis«, die, so per­so­ni­fi­ziert, an­ge­ru­fen wer­den kann von dem am An­fang ganz un­wis­sen­den Ich, dem mit den un­wis­sen­den Hän­den. Die­ses Ge­dicht ist eins der ver­schlüs­selts­ten, her­me­tischs­ten im Sinne einer stär­ke­ren Chif­frie­rung der dich­te­ri­schen Aus­sa­ge. Es be­nutzt die Ge­ni­tiv­m­e­ta­pher (Blume des Irr­sinns, Zahn­rad der Un­ge­duld, Zeit des Sturz­bachs und des fau­len Tei­ches) und zu­sam­men­ge­setz­te Sub­stan­ti­ve (Licht­pau­ke, Mee­reshar­fe, Früh­ge­stirn, Schä­delspal­te, Sa­men­gift, Son­nen­kopf, Son­nen­ge­dächt­nis, Sturz­bach) im Ver­such, in der Rea­li­tät nicht Sicht­ba­res sicht­bar zu ma­chen, Sag­ba­res zu for­men, wie­der auf kür­zest­mög­li­che Weise und oft mit syn­äs­the­ti­scher Qua­li­tät (Licht­pau­ke!). In der letz­ten Stro­phe wird das »Herz« wie­der ge­nannt, wel­ches seit Jahr­tau­sen­den ver­schüt­tet sei. Der Eis­vo­gel Zeit soll es »sin­gen«. Der Bezug zum Sän­ger ist zu­min­dest an­ge­deu­tet; Den­ken an Nietz­sches Seele, die hätte sin­gen sol­len, drängt sich auf. Auch die zwei En­jam­be­ments (»Zeit« in Stro­phe neun und »Sing« in Stro­phe zehn) heben die bei­den grund­le­gen­den The­men, Zeit und Ge­sang, her­vor. Eine »Blume« soll blü­hen, »aus jeder Schä­delspal­te.« Wie­der eine Blume, die aus dem Kör­per her­aus­wächst, die­ses Mal »des Irr­sinns« – auch dies eine Er­wei­te­rung, Irr­sinn als Über­rea­li­sie­rung von »Sinn«. Es geht also wie­der um Zeit und um Dich­tung. Jen­seits die­ser Ein­ord­nung glau­be ich aber , dass sich be­son­ders bei die­sem Ge­dicht ver­bie­tet, be­stimm­ten poe­ti­schen Chif­fren je­weils be­stimm­te Be­deu­tun­gen zu­zu­wei­sen. Für Lyrik ist »un­sag­bar« Ge­nann­tes sag­bar. »Wer es als Sag­ba­res will, muss es in der Lyrik und nicht im Spre­chen über sie auf­su­chen«, wie Schödlbau­er 1994 for­mu­lier­te. Her­me­ti­sche Kunst kann sich auch gegen Ver­ein­nah­mung sper­ren (Ador­no). Das Ge­dicht wirkt »ge­ra­de in der Ver­hül­lung auf eine Weise, die jen­seits phi­lo­lo­gi­scher Be­trach­tung liegt,« wie Killy ein­mal in Bezug auf ein Trakl-Ge­dicht schrieb.

Der Salz­see

Von die­sem un­da­tier­ten Ge­dicht lie­gen zwei Ma­nu­skrip­te YGs mit Text­kor­rek­tu­ren vor, eins davon im Kon­vo­lut »Die Lie­bes­son­ne.« Ein Ich spricht zu einem Du, und die­ses Mal wer­den beide von vorn­her­ein als ganz ver­schie­den cha­rak­te­ri­siert: »Du gehst im Glit­zer­schnee der Ver­hei­ßung, Mir sind ge­legt die Schie­nen der dunk­len Ver­nunft.« In einer Nacht im Win­ter wird die »ge­such­te Traum­stadt« ge­se­hen, die für beide er­baut ist, in der sie aber den­noch nicht blei­ben kön­nen. Die Un­wirk­lich­keit der Stadt ist cha­rak­te­ri­siert durch die Ma­te­ria­li­en, aus der sie er­baut ist: ob­schon die Häu­ser nur mit Krei­de ge­zeich­net sind, haben sie blei­ge­gos­se­ne Türen. Am Salz­see an­ge­kom­men, muss das Ich die ganze Nacht mit nack­ten Hän­den kämp­fen, gegen die »lan­ge­schnä­bel­ten Eis­vö­gel.« Am Ende die­nen deren warme Dau­nen dem ar­ti­ku­lier­ten Ich und Du als Lager.

Auch in die­sem Text gibt es Kon­trak­ti­ons­m­e­ta­phern neben den an­de­ren zu­sam­men­ge­set­zen Sub­stan­ti­ven: Win­ter­tier, Traum­stadt, Glit­zer­schnee, aber auch Salz­see, Eis­vö­gel, Flie­der­busch. Der Eis­vo­gel taucht wie­der auf, so wie in der »Son­nen­kan­ta­te«. Bei je­mand, der die Worte so wägt wie YG, ist es nicht mög­lich, an einen Zu­fall zu den­ken. Bei die­ses Dich­ters pro­zess­haf­tem und zu­sam­men­hän­gen­dem Schrei­ben wäre dar­aus zu schlie­ßen, dass der Eis­vo­gel die Zeit ver­kör­pert. Auch in die­sem Text gibt es kei­nen Hin­weis dar­auf, dass das »Du« weib­lich ist. Viel­mehr sind die zwei den Men­schen cha­rak­te­ri­sie­ren­den Ei­gen­schaf­ten (Ver­stand und Ge­fühl), aber auch die we­sent­li­chen ge­gen­sätz­li­chen Mög­lich­kei­ten, die Welt zu sehen, genau wie bei »Süd« be­reits an­ge­spro­chen, jetzt in Ich und Du per­so­ni­fi­ziert: das Ich ver­tritt die Ratio, den Po­si­ti­vis­mus, das Du be­wegt sich im an­de­ren Be­reich des Ge­fühls und des Glau­bens. Dabei kann »Ich« und »Du« durch­aus auch für das Ge­spal­ten­sein des Selbst ste­hen, die »zwei See­len, ach« in un­se­rer Brust. Ein wei­te­rer As­pekt ist hier auch die Po­la­ri­tät der Ge­schlech­ter als ein Uras­pekt schon seit den alten My­then: das Ich und Du im an­dro­gy­nen Selbst. Die­ses Kon­zept spiel­te in ok­kul­ten Tra­di­tio­nen eine große Rolle. Dass YG diese The­ma­tik be­son­ders be­schäf­tig­te, ist spä­tes­tens im Brief­wech­sel mit Paula Lud­wig deut­lich ge­wor­den.

Für beide gibt es keine fer­ti­ge Traum­stadt. Auch wenn diese di­rekt für sie er­baut scheint, müs­sen sie wei­ter­ge­hen durch die Zeit; diese al­lein ist ihr Pro­blem, und gegen diese müs­sen sie kämp­fen, so lange, bis die Eis­vö­gel tot sind, bis die Zeit also endet; erst dann kön­nen sie sich end­lich nie­der­le­gen, aber auf dem To­ten­la­ger. Die An­sicht Mül­lers, dass die­ses Ge­dicht ein »be­son­ders schö­nes Lie­bese­ge­dicht ist«, kann nicht ge­teilt wer­den, vor allem nicht seine di­rek­te Zu­ord­nung von Me­ta­phern.(»Die Grund­m­e­ta­pher ist das Salz. Zu Be­ginn meint es die Zau­ber­kraft der Ge­lieb­ten«. Nicht ge­teilt wer­den kann eben­so Per­kins Sicht, die auch die­ses Ge­dicht auf die per­sön­li­che Bio­gra­fie des Au­tors be­zieht und als ge­ge­ben an­sieht, dass »Clai­re and Yvan« hier dar­ge­stellt wer­den »as ar­ri­ving at their de­sti­na­ti­on.« Sprach­lich sind wie­der­um her­vor­zu­he­ben die star­ke ly­ri­sche Ver­kür­zung durch die be­reits er­wähn­ten Kon­trak­ti­ons­m­e­ta­phern und zu­sam­men­ge­setz­ten Sub­stan­ti­ve sowie Ad­jek­ti­ve (blei­ge­gos­sen, lang­ge­schnä­belt,) und die As­so­nan­zen: Nägel, Särge, lang­ge­schnä­belt, Hände). Im Üb­ri­gen ist auch hier die gram­ma­ti­sche Struk­tur nicht an­ge­tas­tet, Satz­zei­chen wer­den al­ler­dings nicht ver­wen­det. Dass Ge­ni­tiv­m­e­ta­phern, – cha­rak­te­ris­ti­sches Ele­ment des Stils YGs schon seit den 20er Jah­ren, wobei ein kon­kre­ter Bild­be­reich mit abs­trak­ten Be­griffs­fel­dern gleich­ge­setzt und ver­schränkt wird (Schae­fer 1965) – aus­schlie­ß­lich bei der Cha­rak­te­ri­sie­rung der bei­den ent­ge­gen­ge­setz­ten Ein­stel­lun­gen zur Welt be­nutzt wer­den, (Glit­zer­schnee der Ver­hei­ßung – Schie­nen der dunk­len Ver­nunft«) ist kein Zu­fall, son­dern als ein Fin­ger­zeig auf das We­sent­li­che der Aus­sa­ge zu wer­ten: der Mensch ist dop­pelt an­ge­legt und sein Grund­pro­blem ist die Zeit, durch die er geht bis ans Ende, bis dahin, wo der To­des­vo­gel, das »er­fah­re­ne« Käuz­chen ruft, und gegen die er immer kämpft. Ist die­ser Kampf vor­bei, stirbt in der er­leb­ten Rea­li­tät der Mensch.

Der Re­gen­pa­last

Ob YG einen der bud­dhis­ti­schen Grund­tex­te über die Auf­nah­me Yasos ge­kannt hat? Yaso, wird be­rich­tet, hatte drei Pa­läs­te, dar­un­ter einen Re­gen­pa­last, in wel­chem er, wenn er sich dort auf­hielt, die Zeit ver­gaß. Das Ge­dicht liegt vor in einem Ma­nu­skript von YG, stammt aus dem Kon­vo­lut »Die Lie­bes­son­ne« und ist un­da­tiert. Das spre­chen­de Ich hat dem Du, wel­ches nur da­durch cha­rak­te­ri­siert ist, dass es sich »immer er­neu­ert für mich wan­deln kann«, einen Pa­last ge­baut in einer an­de­ren Welt, der Re­gen­welt. Wur­den auch schon im Wüs­ten­haupt »Re­gen­lei­tern« be­nutzt, ist in die­sem Text am deut­lichs­ten von allen die Schaf­fung von Din­gen der neuen Welt durch Na­men­ge­bung be­schrie­ben: Re­gen­pa­last, Re­gen­wein, Re­gen­pal­me, Re­gen­ur­wald, Re­gen­bie­nen, Re­gen­blut, Re­gen­dia­man­ten, Re­gen­reich, Re­gen­jah­re, Re­gen­fens­ter, Re­gen­fah­nen, Re­gen­tuch. Un­ver­än­dert ist le­dig­lich der »Per­len­saal«, der die Aus­nah­me ist, kein »Re­gen­per­len­saal« in die­ser Re­gen­welt. Es gibt also Be­zie­hun­gen zur be­kann­ten, zur »alten« Rea­li­tät. Al­ler­dings ist die­ser un­ver­än­der­te Saal »heim­lich« ge­blie­ben. In die­sem Saal strickt das Du ein Re­gen­tuch, wel­ches das Leich­nams­tuch ist. In »Dich­tun­gen« ist der Satz ver­än­dert: »Du aber strickst mir heim­lich im Per­len­saal« statt » Du aber strickst im heim­li­chen Per­len­saal«, was sinn­ver­schie­bend ist Wie im Salz­see geht es wie­der um die Zeit. Sie weht »mit Re­gen­fah­nen über das Meer« und endet »elend in alten Mo­räs­ten.« »Bis in die Ewig­keit warm und halt­bar« ist wie­der nur das Lei­chen­tuch. Die Spra­che be­nutzt das Was­ser, das Ver­rin­nen als Me­ta­pher für das Ver­ge­hen der Zeit. Um in den be­gehr­ten Zu­stand der Zeit­lo­sig­keit zu kom­men, muss man erst ster­ben. Diese Aus­sa­ge ist die Glei­che wie im Salz­see. Es geht aus dem Text nicht her­vor, dass es sich hier um ein Lie­bes­paar han­delt, und schon gar nicht per­sön­lich um »Yvan und Clai­re«, wie Car­mo­dy (1956) un­ter­stellt. Es ist folg­lich auch nicht zu schlie­ßen, dass der Pa­last (so wie nach Car­mo­dy auch die Türme, Hüt­ten und Schlös­ser) »Goll’s do­mi­nant ob­ses­si­on with se­cu­ri­ty for love against ex­stinc­tion through loss of con­scious­ness and death« zeigt. Par­mee (1981)sieht im Re­gen­pa­last zwar die Schöp­fung »of a new world of the ima­gi­na­ti­on«, kommt aber auch zu dem nicht ak­zep­ta­blen Schluss, diese Schöp­fung habe der Dich­ter vor­ge­nom­men, damit das reale Paar Yvan und Clai­re »eter­nal­ly in com­fort and be­au­ty« leben könne. Auch für Per­kins (1968) Mei­nung, dass hier »the ma­te­ri­als used in its con­struc­tion have been cho­sen by Goll to re­flect Clai­re’s be­au­ty and pu­ri­ty« lässt sich im Text kein An­halt fin­den. Viel­mehr schau­en Ich und Du – be­zie­hungs­wei­se das aus Bei­den be­ste­hen­de Selbst – aus ihrer kon­stru­ier­ten Welt auf die Zeit in dem Wis­sen, dass mit deren Ende auch ihr ei­ge­nes vor­ge­zeich­net ist. Im »heim­li­chen« Per­len­saal, dem üb­rig­ge­blie­be­nen Rea­li­täts­teil, wird be­reits das Leich­nams­tuch ge­strickt.

Der Staub­baum

Von die­sem Ge­dicht lie­gen meh­re­re Ma­nu­skrip­te von YG vor, so­wohl im Kon­vo­lut »Die Lie­bes­son­ne« wie auch in »Bloc­co per note«, mit Text­va­ria­tio­nen und un­da­tiert. Die glei­che Tech­nik wie im »Re­gen­pa­last« wird be­nutzt: eine neue Welt wird evo­ziert durch Na­mens­ge­bung: Staub­baum, Staub­hand, Staub­wald, Staub­vo­gel, Stau­bro­se. Die­ses Mal wird die Zeit nicht di­rekt an­ge­spro­chen, son­dern in­di­rekt als Er­in­ne­rung (»über­all wo wir ge­gan­gen)« und Ver­ges­sen; in­so­fern ist Mül­lers Be­ob­ach­tung rich­tig, der vom Staub als Sym­bol der Ver­gäng­lich­keit spricht. Auch drängt sich die Kon­no­ta­ti­on der bib­li­schen Aus­sa­ge, der Mensch sei Staub und werde wie­der zu Staub, ge­ra­de­zu auf. Das Ver­ges­sen ist in Form von Tür­men dar­ge­stellt, wel­che im Er­le­ben erst auf­stei­gen, dann aber nach innen fal­len. Die Er­in­ne­rung sagt, dass das Ich ge­mein­sam mit dem Du dort ge­we­sen ist, aber wohl zu einer Zeit, als die Staub­welt dort nicht exis­tier­te. Noch strahlt das oran­gen­far­be­ne Licht des Du, aber es wird schon immer dunk­ler; die Struk­tu­ren sind so emp­find­lich, dass man sie nicht an­rüh­ren darf, auch wenn man es möch­te; das An­rüh­ren al­lein könn­te zer­stö­ren. Das Ich er­füllt sein ein­zi­ges Vor­ha­ben: »Die Sage un­se­rer Liebe lass ich in Quarz ver­pa­cken, Das Gold un­se­rer Träu­me in einer Wüste ver­gra­ben.« Das Stre­ben nach Dau­er­haf­tig­keit in der sich ver­än­dern­den Welt und schwin­den­den Zeit ist auch hier das Haupt­the­ma. Dauer und Zu­kunft sol­len noch im Staub zu fin­den sein. Das hier evo­zier­te Bild er­in­nert an eine Re­li­e­far­beit mit Sand­über­zug Pi­cas­sos von 1930: Sand, Hand­schuh, Kar­ton, Pflan­zen auf der Rück­sei­te eines mit Lein­wand be­spann­ten Keil­rah­mens.(Musee Pi­cas­so Paris) »Eine vage Idee von Ge­sicht, Kör­per, mensch­li­cher Prä­senz wird ver­mit­telt und gleich­zei­tig in große Dis­tanz ge­rückt, indem die Dar­stel­lung mit einer Schicht aus grau­em Sand über­zo­gen wurde«, wie Klings­öhr schreibt.. Pi­cas­so hatte ge­sagt: Ich male die Dinge, wie ich sie denke, nicht wie ich sie sehe. Und »Wenn es nur eine ein­zi­ge Wahr­heit gäbe, könn­te man nicht hun­dert Bil­der über das­sel­be Thema malen. Auf die glei­che Weise schreibt YG die Dinge, wie sie nach sei­ner Auf­fas­sung dich­te­risch zu den­ken sind, nicht als Ab­bil­dung der Rea­li­tät. Die Staub­welt ist die Welt nach der ir­di­schen Zeit, wie bei Nelly Sachs, die den Schmet­ter­ling an­spricht »Welch schö­nes Jen­seits ist in Dei­nen Staub ge­malt«.

Auch aus die­sem Text geht nicht her­vor, dass »Yvan, al­re­a­dy iso­la­ted from rea­li­ty«, Clai­re durch einen Ro­sen­gar­ten ge­lei­tet (Car­mo­dy 1956) oder dass das oran­ge­ne Licht Clai­re »ist«.(Par­mee 1981)..​Der Schluss, dass »even at the end Goll de­si­res to im­mor­ta­li­ze his love for Clai­re«(Per­kins 1968) kann nicht ge­zo­gen wer­den. Der Text spricht le­dig­lich davon, dass ver­sucht wird, etwas zu be­wah­ren, selbst in einer an­de­ren, of­fen­sicht­lich nicht rea­len Welt, der Staub­welt. Tat­säch­lich er­scheint in die­sem Ge­dicht das Wort »Liebe«, für was oder wen wird aber nicht näher de­fi­niert. Es kann sich also durch­aus auch gar nicht um eine Per­son han­deln. Das ist sogar wahr­schein­lich, denn nicht von der Liebe selbst ist die Rede, son­dern von ihrer »Sage«. Wie im »Wüs­ten­haupt« der »Name«, so soll hier diese be­wahrt wer­den. Das Be­wah­ren be­zieht sich nicht auf Per­so­nen oder Ge­füh­le aus der rea­len Welt, es geht um das Be­nen­nen, die »Sage«, um einen Me­ta-Pro­zess.

Die Aschen­hüt­te

Die­ses Ge­dicht liegt in drei Ma­nu­skrip­ten vor, eins davon im Kon­vo­lut »Die Lie­bes­son­ne,« alle un­da­tiert. Der Titel wech­selt zwi­schen »Die Hütte aus Asche« und »Die Aschen­hüt­te.« Letz­te­rer wird hier be­nutzt, weil der Autor im Brief an Bos­quet die­sen Titel ver­wand­te. Wie­der spricht das Ich vom Wir, wobei es auch das Du an­re­det. Wie im »Re­gen­pa­last«, so hatte das Ich auch hier an ein Haus in einer an­de­ren Welt ge­dacht, ein »Haus aus klin­gen­dem Glas,« da »wir« [ ...] »kein Haus wie die an­dern an si­che­rer Stra­ße« hat­ten und des­halb immer wei­ter­wan­dern muss­ten. Das Wan­dern ist ein ro­man­ti­scher Topos, aber schon am An­fang un­se­rer li­te­ra­ri­schen Tra­di­ti­on steht die­ses Motiv: Welt­er­fah­rung und Heim­kehr, von Ho­mers Odys­seus über Goe­thes Grund­fi­gur der Le­bens­fahrt, von Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts bis zum Ulys­ses von Joyce. Die­ses Mal ge­schieht die Wan­de­rung »im Schnee, der weder Salz noch Zu­cker war An run­den Ke­geln des Mon­des ent­lang«, also in einer nicht un­se­rer Wirk­lich­keit ent­spre­chen­den Land­schaft aus nicht rea­len Ma­te­ria­li­en, einer, die an die Land­schaf­ten Tan­guys er­in­nert, den heu­ti­gen Leser wohl auch an Auf­nah­men aus dem Welt­raum, z.B. einer Pla­ne­ten­ober­flä­che. Wie­der taucht das »Ver­ges­sen« auf und wie­der fin­det man ein Haus, die­ses Mal eine Hütte, und zwar aus Asche; auch dies ein un­wirk­li­cher Stoff, un­wahr­schein­lich, da nicht tra­gend, um einen Bau in der uns be­kann­ten Welt zu er­rich­ten. Asche ent­steht bei Ver­bren­nung von Ma­te­rie. Man kon­no­tiert hier auch das vor­her­ge­hen­de Feuer und den Akt der pu­ri­fi­ca­tio in der Mys­tik. (H.​Friedrich 1962). Wie­der muss ge­kämpft wer­den, die­ses Mal gegen Wölfe, die fern­zu­hal­ten sind. Das Un­wirk­li­che wird fort­ge­setzt: »fing im Nes­sel­bach einen Öl­fisch, der uns lange wärm­te« und: »Breit war das Bett aus ge­schnitz­tem Schnee«. Hier steht aber am Ende kein Weh, kein Lei­chen­tuch und kein Ent­schwin­den, es ge­schieht ein Wun­der: der »gol­de­ne« Leib des an­ge­spro­che­ne­nen Du »er­strahl­te als nächt­li­che Sonne.« Das ist mehr als nur das Lager im »Salz­see«, das Oxy­mo­ron »nächt­li­che Sonne« be­deu­tet nicht »Sonne in der Nacht«, eine Sonne also, die das Dun­kel er­hel­len könn­te. Nächt­li­che Sonne ist in sich nicht mög­lich in un­se­rem Be­griffs­sys­tem, sie kann nur pos­tu­liert wer­den in einer Welt, in der die uns als real gel­ten­den Be­din­gun­gen nicht gel­ten, einer an­de­ren Welt mit ganz an­de­ren Ge­set­zen, auf die ja auch das »Wun­der« hin­weist. Dass ein »Leib« so zur strah­len­den Licht­quel­le wer­den kann ent­spricht einer Trans­mu­ta­ti­on im al­che­mis­ti­schen oder auch einer Trans­sub­stan­tia­ti­on im re­li­giö­sen Sinne. So wird in die­sem Ge­dicht in einer letz­ten Stei­ge­rung nach dem Ver­such, sich in die »Über­welt« zu be­ge­ben, der Aus­blick auf Tran­szen­denz als Mög­lich­keit ge­nannt, das »Wun­der« pos­tu­liert, ein Ein­bruch des Gött­li­chen an der Gren­ze des mensch­li­chen Ver­mö­gens, eine Er­lö­sungs­vor­stel­lung.

Es ist nach­voll­zieh­bar, dass bei die­sem Ge­dicht ganz am Ende auch ver­mu­tet wer­den konn­te, es han­de­le sich um zwei Lie­ben­de, die hier als Ich und Du auf­tre­ten; Vie­les spricht aber da­ge­gen. Sieht man das Ge­dicht im Zu­sam­men­hang mit allen hier von YG für Bos­quet aus­ge­such­ten Tex­ten, so kor­re­spon­diert das »Du«, wel­ches nach den Schutz­vö­geln rief, eher mit der Hälf­te des Selbst, die nicht durch Ratio kon­trol­liert, son­dern durch Glau­ben und Hin­wen­dung zu Magie cha­rak­te­ri­siert ist. In die­sem Falle wan­dert ein Selbst also al­lein in der Wirk­lich­keit, kämpft gegen die Zeit, er­schafft sich eine neue Welt und wird am Ende Emp­fän­ger des Wun­ders der Tran­szen­denz. In jedem Falle aber ist es nicht mög­lich zu schlie­ßen, dass es sich um die Per­son des Autor han­delt, wie z.B. von Per­kins (1968) un­ter­stellt (»He and Clai­re are wan­de­ring, exi­l­ed and home­l­ess«).

Schon Exner (1960) be­ton­te die viel­schich­ti­ge Me­ta­pho­rik die­ses Tex­tes. Er wies eben­falls auf die Ähn­lich­keit mit den Land­schaf­ten Tan­guys hin und schrieb, dass »mit ein paar schnel­len Schnit­ten die Rea­li­tät aller Wirk­lich­keit ent­schält« wird, was »meis­ter­haf­ter Sur­rea­lis­mus im Deut­schen« sei. Dass al­ler­dings auch nach sei­ner Mei­nung »hin­ter allen Ver­sen der Name der Ge­lieb­ten, Golls große Chif­fre: Clai­re« ver­bor­gen sei, wird man nicht ste­hen las­sen kön­nen, ge­nau­so wenig wie die Aus­sa­ge Per­kins (1968): »Clai­re pro­vi­des light and warmth [...] for the poet in the midst of a de­per­so­na­li­zed and de­so­la­te world.« Par­mee (1981) in­ter­pre­tiert die »Aschen­hüt­te« als Traum­se­quenz und be­schreibt den Hö­he­punkt als »pre­sen­ted al­most after the fa­shion of a re­li­gious mi­ra­cle«, ord­net die Szene des »Wun­ders« aber wie­der bio­gra­fisch ein, indem sie unter an­de­rem das Oxy­mo­ron über­sieht (»the bel­oved’s body il­lu­mi­nes the night LIKE a gol­den sun«). Die Ein­fü­gung des »like« ver­än­dert hier den Sinn des Ver­ses, ab­ge­se­hen davon, dass, folgt man Benn, (in »Pro­ble­men der Lyrik«) das »WIE« immer ein »Bruch in der Vi­si­on« ist. Hin­ge­wie­sen wer­den muss wie­der­um auf die per­fek­ten ly­ri­schen Ver­kür­zungs­for­men wie das Bett aus ge­schnitz­tem Schnee. Die be­son­ders neu­ar­ti­ge mu­ti­ge For­mu­lie­rung »man hörte die la­chen­den Ge­bis­se der Wölfe« ist in der von Clai­re Goll her­aus­ge­ge­be­nen Fas­sung ge­än­dert wor­den. Dort, in »Dich­tun­gen«, liest man: »das la­chen­de Bel­len der Wölfe« » Vera Pro­fit, die die­ses Ge­dicht für eine der »most be­au­ti­ful« hält, im Üb­ri­gen aber immer von »the Golls« spricht, also au­to­ma­tisch un­ter­stellt, dass es sich um Yvan und Clai­re han­de­le, gibt auch einen guten Hin­weis, dass näm­lich »the gold of the al­che­mists had also been de­fi­ned as the sun in the earth«, in­ter­pre­tiert aber den­noch da­hin­ge­hend, dass »Ivan und Clai­re ce­le­bra­ted their bond in one final de­ni­al of death«.

Alle Ge­dich­te der Grup­pe 3 evo­zie­ren neue Wel­ten, alle the­ma­ti­sie­ren zum Einen die Zeit als den gro­ßen be­schrän­ken­den Fak­tor des Ichs in der Wirk­lich­keit und – damit zu­sam­men­hän­gend – Er­in­ne­rung und Ver­ges­sen, Ver­ge­hen und Wan­del, zum An­de­ren die Aus­sicht auf Er­hal­ten und Dau­er­haf­tes, letzt­lich in der Dich­tung. Im Wüs­ten­haupt reich­te es nicht, eine Skulp­tur zu for­men, da Ma­te­rie ver­wit­tert und ver­geht in der Zeit, die Sie­ger bleibt. Im »Salz­see« wird aktiv gegen die Zeit ge­kämpft, dann erst kann der Mensch sich nie­der­le­gen und ruhen, was in un­se­rer Rea­li­tät aber Ster­ben be­deu­tet. In Re­gen­pa­last und Staub­baum schlie­ß­lich wer­den an­de­re Wel­ten be­reits be­nannt, in der Aschen­hüt­te wird ein Fens­ter zur Tran­szen­denz er­öff­net. Sprach­lich ar­bei­ten alle Ge­dich­te mit der »Schnel­lig­keit der As­so­zia­ti­on«, die nach Goll die Qua­li­tät des Bil­des be­stimmt; der »ge­schnitz­te Schnee« ent­spricht den »Augen aus Him­mel«, dem von ihm an­ge­führ­ten Bei­spiel im »Ma­ni­fest des Sur­rea­lis­mus, die Ver­kür­zun­gen der von ihm pos­tu­lier­ten »Ra­dio­gramm«-Ly­rik.

Grup­pe 4. Le chant de Ra­ziel

Das Ge­dicht ent­stand 1948 in Metz zu­nächst in fran­zö­si­scher Spra­che und wurde nach Glau­ert 1949 in der Samm­lung Elé­gie d’Ih­pé­ton­ga suivi de Mas­ques de Cend­re in Paris in den Edi­ti­ons Hé­mi­sphères erst­ver­öf­fent­licht. Die deut­sche Ver­öf­fent­li­chung fand 1960 im Band »Dich­tun­gen« statt, die Über­set­zung des Ge­dichts stamm­te von CG, die den Band auch her­aus­gab. So­weit ich es nach­prü­fen konn­te, exis­tiert bis heute keine an­de­re Über­set­zung. Da die Über­set­zung CGs durch we­sent­li­che Ver­än­de­run­gen ge­kenn­zeich­net ist – das Ori­gi­nal hat 14 Stro­phen, die Über­set­zung CGs acht; sie­ben Stro­phen sind weg­ge­las­sen, eine neu hin­zu­ge­fügt – gehe ich hier von einer ei­ge­nen wört­li­chen Über­set­zung der fran­zö­si­schen Ori­gi­nal­ver­si­on aus.

Der Titel nennt den schon mehr­fach er­wähn­ten Abula­fia-Ra­ziel und führt daher, im Ge­gen­satz zu den Ge­dich­ten der Grup­pe 1 und 3, zu­nächst wie­der einen rea­len Bezug ein. Das Ge­dicht hat vier­zehn Stro­phen, drei­zehn be­ste­hen aus zwei Zei­len, die letz­te aus nur einer Zeile. »Verbe« kommt in jeder Stro­phe vor. Das Über­set­zungs­pro­blem be­ginnt schon hier. YG hat »verbe« ge­schrie­ben, nicht »mot« und auch nicht »pa­ro­le«, ei­gent­lich müss­te also mit »Verb«, nicht mit »Wort« über­setzt wer­den. Nun stellt sich die­ses Ge­dicht aber so klar in die bib­li­sche Kon­no­ta­ti­on des Dorn­bu­sches und des Wor­tes, dass hier des Au­tors Ab­sicht an­ge­nom­men wer­den muss, den glei­chen Be­griff wie in jenem alten Text zu ver­wen­den. Im glei­chen Sinne ist zu ver­ste­hen, dass der Dich­ter »Verbe« immer mit gro­ßem An­fangs­buch­sta­ben ver­wen­det. Das steht im Ge­gen­satz zu Car­mo­dys Deu­tung, der »Le Verbe« als » a word or an idea« auf­fasst und der Mei­nung ist, »not­hing ju­s­ti­fies a re­li­gious or a me­ta­phy­si­cal ex­pla­na­ti­on.« Im Fran­zö­si­schen wer­den pa­ro­le, mot und verbe in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen auch syn­onym be­nutzt, in an­de­ren ab­ge­grenzt. Im Deut­schen heißt die Über­set­zung des Jo­han­nes­evan­ge­li­ums aber: Am An­fang war das Wort. Es han­delt sich also um DAS WORT, jenes, wel­ches am An­fang der Schöp­fung Got­tes stand und wel­ches den Dich­ter und seine Schöp­fung be­trifft. Gleich am Ein­gang des Ge­dichts ver­weist die erste Zeile der 1. Stro­phe auf den Busch (Moses) und die Schöp­fungs­ge­schich­te, die zwei­te durch die Kon­no­ta­ti­on »Un­ga­ret­ti – M’il­lu­mi­no d’im­men­so« (»m’al­lu­me«) di­rekt auf den Dich­ter. So wie der eine Busch mit der Schöp­fung Got­tes zu tun hat, so der an­de­re mit der Schöp­fung des Dich­ters. Der Dich­ter muss ein auf­nah­me­be­rei­ter Mensch sein, in sei­nem Her­zen muss »mous­se« sein, ein Schaum­ge­flecht wie die Pla­zen­ta, damit das Wort sich dort ein­nis­ten kann. Das Wort selbst ist Mar­mor, Ma­te­ri­al, wel­ches be­ar­bei­tet wer­den muss, aber darin schla­gen die Blut­ge­fä­ße. Der an sich blin­de Dich­ter er­war­tet das Ge­schenk des Wor­tes wie Regen, und wenn er es dann fest­hält und be­sitzt, dann ver­wan­delt sich selbst der schwar­ze Vogel in eine Lyra (»dans la cage de mon Verbe de­vi­ent ménu­re«). Das Wort ist le­ben­dig, (»he­nis­se­ment«) wird per­so­ni­fi­ziert, es kommt und ent­zieht sich, muss ge­jagt wer­den, wird aber auch sehn­süch­tig er­war­tet. Es kann blu­tig (»sang­lant« – auch: be­lei­di­gend) sein, sich ver­än­dern, letzt­lich aber auch hel­fen und ver­tei­di­gen (»ar­mu­re de flam­mes«), der Dich­ter er­hofft von ihm, dass es die Bas­ti­on Got­tes er­obern und ihn bei den En­geln an­kün­di­gen wird.

Wozu aber sind all diese Dinge, die »Lis­ten« (Schlau­hei­ten) des Wor­tes nötig? »Pour ou­vr­ir l’huître de nuit,« sagt die 13. Stro­phe und er­öff­net damit ein gan­zes Feld. Dich­tung als Mög­lich­keit, in ein ge­schlos­se­nes her­me­ti­sches Ge­biet (Aus­ter) ein­zu­drin­gen, Licht in ein Dun­kel zu brin­gen, Rät­sel zu lösen. In der letz­ten Stro­phe, die nur aus einer ein­zi­gen Zeile be­steht, was ihre Wich­tig­keit noch un­ter­streicht, folgt dann der alles um­fas­sen­de Satz: »A la fin était le Verbe.« Am An­fang war also das Wort und am »Ende wird wie­der das Wort sein (und nicht die Pro­pa­gan­da),« wie Benn sagt? Nein, hier nimmt der Spre­chen­de einen Stand­punkt in der Zu­kunft ein. Am Ende WAR das Wort, eben­so wie am An­fang. Das setzt un­se­re li­nea­re Zeit­vor­stel­lung außer Kraft, der sicht­bar über­rea­lis­ti­sche Text ord­net sich au­ßer­halb un­se­rer tra­dier­ten ra­tio­na­len Vor­stel­lun­gen ein. Ein Kreis schlie­ßt sich, die ein­zi­ge Un­end­lich­keits­fi­gur, Oro­bo­ros, die her­me­ti­sche Schlan­ge. Das Wort ist und war am An­fang und am Ende. Der Dich­ter nimmt für sich in An­spruch, in­ner­halb die­ses Krei­ses Schöp­fer zu sein. »Am Ende war das Wort« schreibt YG auch im MdR, und zwar nach der »lan­gen ge­dul­di­gen Me­ta­mor­pho­se, die, im Dich­ter, den Ge­gen­stand in Wort ver­wan­del­te«.

Es gibt im ly­ri­schen Werk YGs wei­te­re sie­ben Ge­dich­te, die »Ra­ziel« im Titel an­füh­ren. In der Samm­lung Fruit from Sa­turn fügt Goll Er­klä­run­gen an (»Notes«): »The Kab­ba­list (Abra­ham, Abula­fia, born 1940 in Sa­ra­gos­sa, who cal­led him­s­elf Ra­ziel) sougth to achie­ve the hig­hest de­gree of per­cep­ti­on by the close study of the names of God, through the sym­bo­li­cal em­ploy­ment of let­ters and nu­me­rals. [...] The BOOK OF SIGNS is one of Abula­fia’s works.« Die Ge­dich­te kön­nen hier nicht alle ana­ly­siert wer­den; ei­ni­ge Be­mer­kun­gen sol­len aber fol­gen, da sie als Vor­läu­fer des hier zur De­bat­te ste­hen­den Ge­dichts Le chant de Ra­ziel be­trach­tet wer­den kön­nen. In Fruit from Sa­turn wird nicht »Verb« son­dern »Word« ver­wen­det. Die erste Zeile bei Ra­ziel I lau­tet: »Grace of the Word im­ma­cu­la­te«, das Wort wird als »pri­mal as snow«, in Ra­ziel II als »cloth of the in­fi­ni­te« be­zeich­net. Es taucht ein »in­sa­ne king of the ab­stract in the de­sert of rea­li­ty« auf, »through the al­che­my of sounds re­crea­ting the crea­ti­on.« Ra­ziel selbst wird be­schrie­ben, wie er die sin­gen­de Stadt baut, »cas­ting al­pha­bets and magic keys To find the 70 names of God«. Im Char Triom­pha­le fin­det sich das Ge­dicht Ra­ziel in Ge­stalt eines So­netts; hier wer­den noch deut­li­cher kab­ba­lis­ti­sche und ma­gi­sche Ele­men­te ver­ar­bei­tet und es ist die Rede von »soix­an­te-dou­ze noms de l’in­nom­ma­ble dieu.« Schlie­ß­lich ist in den zwei Ra­ziel-Ge­dich­ten aus den Cer­cles Ma­gi­ques das zwei­te iden­tisch mit dem er­wähn­ten aus Le Char. Das erste spricht Ra­ziel zu­nächst di­rekt an, evo­ziert dann den Kab­ba­lis­ten: er »ap­pel­le Dieu de ses soix­an­te-dou­ze noms«, und »édi­fia en vingt ans le château du Verbe Où Dieu etait cap­tif dans ses soix­an­te-dou­ze noms«. Es geht also in allen Ra­ziel-Ge­dich­ten um das Hö­he­re, die Na­mens­fin­dung und Na­mens­ge­bung des Hö­he­ren in­ner­halb einer ma­gi­schen und her­me­tisch ver­schlos­se­nen Welt, aber erst in Ra­ziels Ge­sang aus Traum­kraut wird der di­rek­te Bogen ge­schla­gen zum Dich­ter, der das Glei­che tut: be­nen­nen, damit Schöp­fer sein. Di­rekt aus­ge­spro­chen wird dies dann in der Ars poe­ti­ca, dem un­ver­öf­fent­lich­ten Ge­dicht, in dem YG die Auf­ga­be des Dich­ters the­ma­ti­siert.

Die Traum­kraut-Ge­dich­te als Ver­mächt­nis

Es ist deut­lich ge­wor­den, dass in den Traum­kraut-Ge­dich­ten das zen­tra­le Thema nicht rea­les Lei­den und Tod des Au­tors sind, auch nicht der Auf­bau eines Re­fu­gi­ums vor die­sem Tod in der Per­son einer rea­len Ge­fähr­tin, wie Car­mo­dy mein­te. Εs ist auch nicht so, dass diese Ge­dich­te Lie­bes­ge­dich­te sind oder gar, dass sie »al­most sur­rea­lis­tic ad­ap­ta­ti­ons of Goll’s por­tra­y­al of Clai­re in the Po­e­mes d’Amour« dar­stel­len, wie man bei Per­kins lesen kann. Viel­mehr geht es um das, was schon im Titel steht, um das Kraut, wel­ches aus dem Traum er­wächst, der Vi­si­on, dem Blick auf über­zeit­li­che Wirk­lich­kei­ten. Aus der Rea­li­tät, dem Ve­ge­ta­ti­vum, er­wächst das un­schein­ba­re Kraut, wel­ches zu der Dich­ter­blu­me der Ro­man­tik wird, al­ler­dings wächst es in mo­der­ner Zeit, in der die Ver­nunft des Dich­ters erst mit der Ar­beit be­gin­nen muss: im La­bo­ra­to­ri­um der Worte. In die­sem Pro­zess wer­den Worte neu ge­schaf­fen, so dass sie am »Ende« ste­hen und wie in der Kab­ba­la wird aus Buch­sta­ben Neues ge­formt, das »Ding an sich«, oder sogar Gott, wenn man so Sei­nen Namen fin­det, Ihn be­nennt. Das mo­der­ne Ich fin­det eine neue Welt nicht vor, es muss sie erst her­stel­len, und Gott selbst auch. An der Schwel­le zur Es­cha­to­lo­gie sieht YG aber eine Gren­ze für den Men­schen und lässt auch das »Wun­der« zu.

Die Traum­kraut-Ge­dich­te sind also völ­lig un­ab­hän­gig von den frü­he­ren Lie­bes­ge­dich­ten zu sehen. Sie sind über­rea­lis­ti­sche Ge­dich­te, Ge­dich­te des Über­zeit­li­chen in der Zeit­lich­keit; sie er­fül­len YGs in sei­nen theo­re­ti­schen Schrif­ten nie­der­ge­leg­tes Ziel der Poe­tik und kön­nen damit als sein Ver­mächt­nis gel­ten, wie es ja, geht man von dem Brief an Bos­quet aus, auch die er­klär­te Ab­sicht des Dich­ters ge­we­sen ist. Dabei wird in­halt­lich und sprach­lich jedes Mit­tel ausg­schöpft, um diese Über­rea­li­tät her­zu­stel­len: in­halt­li­che Bögen vom His­to­ri­schen zum Her­me­ti­schen in einer pa­ra­do­xen Ver­ei­ni­gung, von der Suche der ro­man­ti­schen Dich­ter­blu­me zu ihrer Neu­schöp­fung, vom ma­te­ri­al Vor­ge­ge­be­nen zum Zei­chen und zur neuen Syn­the­se, letzt­lich vom Vor­han­den­sein von Wör­tern und Din­gen über die vom Dich­ter vor­zu­neh­men­de Me­ta­mor­pho­se hin zum End­pro­dukt der poe­ti­schen Wirk­lich­keit. Rim­bauds »Al­che­mie des Wor­tes« ist hier um­ge­setzt, sprach­lich vor allem durch die Kon­trak­ti­on von Sub­stan­ti­ven, (auch dies ein Kon­den­sa­ti­ons­vor­gang, che­misch-al­che­mis­ti­scher Be­griff), durch Wort­neu­schöp­fun­gen, oft in Form von Kat­ach­re­sen, wo­durch ganz neue Be­deu­tungs­di­men­sio­nen ent­ste­hen, durch die Wort­dich­te des »bis zum Plat­zen ge­la­de­nen« Ver­ses, durch die hohe Bild­lich­keit als »Prüf­stein guter Dich­tung.« Das auf kür­zes­te Weise Aus­ge­drück­te er­öff­net die wei­tes­ten As­so­zia­ti­ons­fel­der. Die neuen Bil­der, die durch den As­so­zia­ti­ons­pro­zess ent­ste­hen, kom­men dem »Image« von Re­ver­dy am nächs­ten, kein – im Ge­gen­satz zur Me­ta­pher – Trans­port­mit­tel von Sinn und Be­deu­tung, son­dern etwas Be­deu­tung Stif­ten­des. »Ge­stal­tung ist immer Schmel­zen, Gie­ßen, Häm­mern und Sie­ben«, schreibt YG an Paula Lud­wig. »Das Meist­mög­li­che mit den we­nigs­ten Wor­ten aus­sa­gen. Oder viel­mehr: nicht sagen, son­dern dich­ten, ver­dich­ten. Auf den letz­ten Nen­ner brin­gen. Jeden Re­la­tiv­satz ver­mei­den, jeden Ne­ben­satz über­haupt. Jedes Wort soll gold­hal­tig sein.«

Ei­ni­ge kurze Be­mer­kun­gen zum »DU«, »ICH« und »WIR« der Ge­dich­te sol­len an­ge­schlos­sen wer­den. Es be­steht ein ka­te­go­ria­ler Un­ter­schied zwi­schen dem Autor und dem im Ge­dicht sprach­lich kon­sti­tu­tier­ten Ich. Schon im Ba­rock war das »Ich« oft re­prä­sen­ta­tiv, stand z.B. für alle Men­schen einer Grup­pe. Das »ly­ri­sche Ich« Sus­mans ist über­in­di­vi­du­ell und nicht iden­tisch mit dem em­pi­ri­schen. Die Be­nut­zung eines »Du« kann Selbst­dar­stel­lung des »Ich« be­deu­ten, es kann ein Schein­dia­log statt­fin­den oder eine echte Auf­spal­tung des »Ich« dar­ge­stellt wer­den. Aus der christ­li­chen Tra­di­ti­on ist das An­spre­chen Got­tes mit »Du« be­kannt, in der Ro­man­tik wurde die Natur so an­ge­re­det. Bei Bau­de­lai­re wird be­reits das Spek­trum der per­so­ni­fi­zie­rend an­ge­spro­che­nen In­stan­zen er­wei­tert, vor allem die Poe­sie selbst wird ein­be­zo­gen. Bei Apol­li­n­ai­re schlie­ß­lich spricht sich das ar­ti­ku­lier­te »Ich« mit »Du« an und tritt hy­post­asier­ten in­ne­ren Vor­stel­lun­gen ge­gen­über. Nach Blü­her wird das ly­ri­sche Ich durch das Mit­tel der Selbst­an­re­de in eine »über­per­sön­li­che trans­sub­jek­ti­ve In­stanz« ver­wan­delt. Nach Hugo Fried­rich hat mit Rim­baud die Tren­nung des dich­te­ri­schen Sub­jekts vom em­pi­ri­schen Ich ein­ge­setzt, »die al­lein schon ver­bie­ten würde, mo­der­ne Lyrik als bio­gra­fi­sche Aus­sa­ge zu ver­ste­hen.« Wird das »Wir« be­nutzt, so ent­hält es stets auch das Ich, dar­über hin­aus kann es An­de­re ein­schlie­ßen. Es schafft, so Bur­dorf, Öf­fent­lich­keit, indem es keine In­ti­mi­tät be­deu­tet.

War Über­rea­li­tät bei Bau­de­lai­re ein Aus­blick in die Ir­rea­li­tät, um den Be­en­gun­gen des Rea­len zu ent­ge­hen, so geht es beim Über­rea­lis­mus YGs durch­aus nicht nur um die Ent­de­ckung der Welt jen­seits der Rea­li­tät, son­dern um ihre Neu­er­schaf­fung. Genau das ist in den Traum­kraut-Ge­dich­ten ver­wirk­licht. Die Wirk­lich­keit der Dich­tung steht jen­seits von Zeit und Raum und er­schafft Blei­ben­des, aere pe­ren­ni­us. Wie bei der Al­che­mie ist dabei der Pro­zess wich­tig. Das ist aber nicht Alles. Zwar sol­len Trans­for­ma­ti­on, Trans­mu­ta­ti­on, Trans­fi­gu­ra­ti­on, Me­ta­mor­pho­se auch zu Hö­he­rem füh­ren; zwar geht es um Magie, Her­me­tik, z.B. bei der Plat­zie­rung von Buch­sta­ben, die al­lein­ste­hend keine Funk­ti­on haben, im Zu­sam­men­hang aber mehr be­deu­ten als das Ein­zel­ne, da man mit ihnen jeden Text er­stel­len kann. Vor allem aber wer­den hier nicht Dinge in Worte ver­wan­delt, son­dern das er­klär­te Ziel ist, Worte in Dinge zu ver­wan­deln und einen Zu­gang zum Höchs­ten zu er­mög­li­chen. YG legt zu­grun­de die Ähn­lich­keit zwi­schen den Me­tho­den und Zie­len des Dich­tens und der Kab­ba­la. Der, der Gott be­nennt, kennt Ihn. Das Wort er­schafft Gott selbst, aber auch den Zu­gang zu ihm. Dabei geht es nicht um das ein­fa­che Wort, son­dern die­ses muss erst ge­rei­nigt wer­den wie in einer al­che­mis­ti­schen De­stil­la­ti­on, bis die trans­mu­ta­tio statt­fin­det. In dem neu er­schaf­fe­nen poe­ti­schen Uni­ver­sum be­steht vor allem nicht mehr die Zeit in un­se­rem Sinne als stärks­te Be­gren­zung des mensch­li­chen Seins. Sie ist auf­ge­ho­ben wie auch der Raum. Nur die »Traum­zeit« käme ihr nahe. In allen Traum­kraut-Ge­dich­ten geht es um die­ses vi­sio­nä­re Über­schrei­ten der Zeit. Dar­über hin­aus wird die Kon­struk­ti­on von etwas Dau­er­haf­tem the­ma­ti­siert, al­ler­dings nicht als vor­der­grün­di­ges Re­fu­gi­um für zwei Lie­ben­de oder gar ein be­stimm­tes Paar; das Dau­er­haf­te ist viel­mehr die Dich­tung, die nicht nur die »Sagen« be­wah­ren kann, son­dern auch die ge­fun­de­nen »Namen«.

Be­tont wer­den soll schlie­ß­lich YGs Stre­ben nach Syn­the­se. Schon die »gro­ßar­ti­ge Mi­schung von Abs­trak­tem und Kon­kre­tem in der Spra­che« (Exner 1954) ist eine Syn­the­se von Ge­gen­sät­zen. Zur Syn­the­se ge­hört auch die Ver­bin­dung von Altem und Neuem. Es gibt keine crea­tio ex ni­hi­lo. Poe­sie ist Schöp­fung, aber nicht aus dem Nichts. Nicht um das um jeden Preis Neue geht es, son­dern um den Pro­zess von De- und Re­com­po­si­ti­on, der schon seit Bau­de­lai­re be­kannt ist, oder auch um das bei Hui­do­bro ver­wen­de­te Ver­we­ben von Ver­trau­tem mit Frem­dem. In die­sem Pro­zess kann dann jedes Wort neue Be­deu­tun­gen er­lan­gen. So bleibt bei YG trotz Chif­frie­rung immer ein kon­kre­ter Wirk­lich­keits­be­zug da, seine Dich­tung ist nicht ganz »her­me­tisch«, sie zeigt nur her­me­ti­sche Teile. Er hebt sich ab so­wohl vom Ab­bil­dungs­pro­zess des Rea­lis­mus – Na­tu­ra­lis­mus wie auch des Sym­bo­lis­mus und Äs­the­zi­tis­mus. Die Grund­la­ge ist, Wort­kom­bi­na­tio­nen zu ent­wer­fen, die sich der »All­tags­lo­gik quer­stel­len«, wie Goll selbst for­mu­liert. Syn­the­se ist auch, dass diese Poe­sie so­wohl »Rhyth­mus« wie »me­ta­phy­si­sche Sen­dung« be­sitzt, Form und Me­ta­phy­sik, – auch in die­sem Sinne steht YG Benn näher als z.B. Bre­ton; Syn­the­se ist die Ver­bin­dung von In­tel­lek­tua­li­tät und ar­chai­schem Ge­heim­nis­zau­ber, (H. Fried­rich), von Ratio und Ge­fühl, Syn­the­se ist am Ende das Ein­brin­gen der zahl­lo­sen Ein­flüs­se aller geis­ti­gen Strö­mun­gen der Zeit, die der poeta doc­tus YG in sich auf­nahm und dar­aus seine Poe­sie und Poe­tik form­te. Dazu ge­hört das »Po­si­ti­vis­ti­sche« ge­nau­so wie das »Mys­ti­sche«. Man kann das als Is­men­syn­kre­tis­mus be­zeich­nen, wenn man damit nicht die Vor­stel­lung einer aus­ge­ar­bei­te­ten Theo­rie ver­bin­det, son­dern das Er­geb­nis der prak­ti­schen Ein­ar­bei­tung aller Ein­flüs­se. YG sah den­noch die Ein­bil­dungs­kraft als den Kern, die ei­gent­li­che schöp­fe­ri­sche Kom­po­nen­te an. Auch das er­in­nert an Benn, sei­nen »dump­fen schöp­fe­ri­schen Keim, die psy­chi­sche Ma­te­rie«, die erst da sein müs­sen, bevor die Ar­beit der Ver­nunft be­ginnt, der Dich­ter im La­bo­ra­to­ri­um der Worte ar­bei­tet. In die­sem Wort­la­bo­ra­to­ri­um ar­bei­tet Benn be­ton­ter me­di­zi­nisch na­tur­wis­sen­schaft­lich, YG che­misch-al­che­mis­tisch. Syn­the­se bei YG ist das »Ja UND Nein«, was Goll ein­mal als Wid­mung in ein Buch schrieb.

So um­fas­sen die Ge­dich­te der Samm­lung »Traum­kraut« the­ma­tisch die Ge­schich­te des Men­schen, seine Krea­tür­lich­keit, seine Rea­li­tät und seine Traum­welt, seine Ver­su­che, mit allen Mit­teln, auf po­si­ti­vis­tisch – wis­sen­schaft­li­che und ma­gisch – her­me­ti­sche Weise zu einer Ent­schlüs­se­lung die­ser Welt und des Uni­ver­sums zu kom­men und sei­nen Kampf mit den Ge­ge­ben­hei­ten der Wirk­lich­keit, vor allem der Zeit. Sie be­fas­sen sich vor allem mit des Men­schen ein­zi­ger Mög­lich­keit einer Schöp­fung von etwas Dau­er­haf­tem, die nach Mei­nung YGs letzt­lich nur in der Dich­tung be­steht. ΠΟΙΗΣΗ, seit Aris­to­te­les das Er­schaf­fen. Das Ge­dicht ist nicht Nach­ah­mung, aber auch nicht nur Dar­stel­lung einer Wirk­lich­keit, son­dern geis­ti­ge Schöp­fung einer neuen Welt. Ele­men­te, Ma­te­ria­li­en der rea­len Welt wer­den be­nutzt, um eine ganz neue zu schaf­fen. Dazu kommt der Aus­blick auf Tran­szen­denz, ob re­li­gi­ös oder sä­ku­la­ri­siert. Die The­men sind nicht »nur die Liebe«, auch nicht Krank­heit und Tod an sich, son­dern Zeit und Wan­del, Ver­ge­hen und Dau­er­haf­tig­keit und vor allem Poe­sie. Das BE­NEN­NEN, aus dem Wirk­li­ches ent­springt, zeigt die All­macht des Wor­tes. Es ist nicht wich­tig, ob Goll sich selbst mit Ra­ziel, sei­ner In­kar­na­ti­on des mo­der­nen Dich­ters, iden­ti­fi­zier­te, wie Schwandt mein­te. We­sent­lich ist, dass schlie­ß­lich eine Gleich­set­zung von Gott und Wort statt­fin­det. »Gott war das Wort« steht in der Bibel. Hier er­schafft das Wort Gott. Wenn YG ge­sagt hat, jetzt vor dem Tode sei er zum ers­ten Mal dem Ge­heim­nis des Wor­tes na­he­ge­kom­men, so ist wie­der­um »Wort« in die­ser gan­zen Kom­ple­xi­tät zu sehen.

YGs dich­te­ri­sches und theo­re­ti­sches Werk muss in die Ge­samt­heit der eu­ro­päi­schen Avant­gar­de ein­ge­ord­net wer­den; es un­ter­lag ver­schie­dens­ten Ein­flüs­sen, denen der Epo­che, der Kunst­rich­tun­gen und aller geis­ti­gen Strö­mun­gen, die den poeta doc­tus YG ge­prägt haben. Von gro­ßer Wich­tig­keit war dabei die wech­sel­sei­ti­ge Er­hel­lung der Küns­te. Spe­zi­el­le Ein­flüs­se von Apol­li­n­ai­re, Ar­taud und Hui­do­bro sind her­vor­zu­he­ben, eben­so YGs Be­schäf­ti­gung mit Traum, Her­me­ti­schem und Ok­kul­tem und die Wur­zeln, die seine Poe­tik in der Kab­ba­la hat: Be­nen­nen und Er­schaf­fen. Es konn­te nach­ge­zeich­net wer­den, dass Goll kon­se­quent »Über­rea­list« ge­we­sen ist, – was im Rah­men sei­nes le­bens­lan­gen In­ter­es­ses an den Fra­gen des Zu­sam­men­hangs zwi­schen Spra­che und Rea­li­tät, poe­ti­scher Spra­che und Her­stel­lung von Rea­li­tät zu sehen ist, – dass er sich aber ra­di­kal von dem »Sur­rea­lis­mus« Bre­tons un­ter­schei­det. An­hand einer Ana­ly­se aus­ge­wähl­ter Ge­dich­te aus Traum­kraut wurde ge­zeigt, dass auch diese Samm­lung YGs über­grei­fen­dem Thema Über­rea­lis­mus zu­zu­ord­nen ist und dass man sie nicht, wie bis­her meist er­folgt, in die Ru­brik »Lie­bes­ly­rik« ein­ord­nen soll­te. Wie Schwandt schon 1968 an­hand an­de­rer spä­ter Ge­dich­te nach­ge­wie­sen hat, ist YGs Poe­tik durch das Stre­ben nach »Be­wäl­ti­gung und Über­win­dung des Le­bens durch die Kunst« ge­kenn­zeich­net, wo­durch er Benn und Nietz­sche näher steht als den Sur­rea­lis­ten um A. Bre­ton. Es ist er­staun­lich, wie stark trotz die­ser schon frü­hen Fest­stel­lung in vie­len Ar­bei­ten bis heute Golls späte Ge­dich­te nur bio­gra­fisch-per­sön­lich ge­se­hen wer­den, wenn auch die Her­an­ge­hens­wei­se, die nicht vom Autor ab­stra­hiert, vor­zugs­wei­se in den Ar­bei­ten vor den acht­zi­ger Jah­ren an­zu­tref­fen ist. Das Pro­blem dürf­te darin lie­gen, dass sich das Aus­gangs­ma­te­ri­al der Dich­tung, die Spra­che, von allen Ma­te­ria­li­en, die von an­de­ren Küns­ten be­nutzt wer­den, ra­di­kal un­ter­schei­det. »Far­ben und Klän­ge gibt es in der Natur, Worte nicht«, schreibt G. Benn in »Pro­ble­me der Lyrik«. Spra­che ist im Ge­gen­satz zu Far­ben, For­men und Tönen nicht se­man­tisch neu­tral. Sie be­deu­tet immer schon. Von die­ser Vor-Be­deu­tung der ein­zel­nen Worte und ihrer Vor-Ein­ord­nung in be­kann­te Ge­ge­ben­hei­ten, z.B. bio­gra­fi­scher Art, habe ich ver­sucht zu ab­stra­hie­ren.

Die Traum­kraut-Ge­dich­te sind das poe­ti­sche Ver­mächt­nis des Dich­ters YG. Sie kom­men dem Ideal sei­ner Poe­tik am nächs­ten, sind »Sprach­ma­gie mit krea­ti­ver Po­tenz«. (H. Fried­rich). Die Syn­the­se, von der Goll schon 1920 als höchs­ter For­de­rung der Kunst ge­schrie­ben hatte, ist hier eben­so er­reicht wie die dich­te­ri­sche Um­set­zung sei­ner Theo­rie vom Dich­ter als Schöp­fer.

Der Aus­blick in die Zu­kunft soll ein vier­fa­cher sein:

  1. Es ist wohl zu­min­dest im deut­schen Sprach­raum auch heute noch ein­zu­lö­sen, was H. Bie­nek schon 1976 ver­lang­te: »Die Neu- oder auch Wie­der­ent­de­ckung des dich­te­ri­schen Werks von YG wird von sei­ner Sur­rea­lis­mus – In­no­va­ti­on aus­ge­hen. Diese seine Wir­kungs­ge­schich­te be­ginnt erst.« Goll wäre dann nicht mehr als der hier­zu­lan­de haupt­säch­lich wahr­ge­nom­me­ne Autor von Lie­bes­ge­dich­ten zu re­zi­pie­ren, son­dern als je­mand, des­sen Ge­dich­te »als An­fang einer neuen Ge­dicht­form im deut­schen Sprach­be­reich an­ge­se­hen wer­den müs­sen«, wie Bol­lin­ger schon 1948 schreibt, als der »an­de­re Sur­rea­list«, wohl sogar als DER li­te­ra­ri­sche Sur­rea­list, denn aus dem Kreis der als Sur­rea­lis­ten be­zeich­ne­ten An­hän­ger Bre­tons ist »keine Dich­tung von Rang« her­vor­ge­gan­gen. (H.​Friedrich). So könn­te diese neue Ver­or­tung YGs auch dazu bei­tra­gen, den Be­griff »Sur­rea­lis­mus« in Bezug auf Li­te­ra­tur in Zu­kunft dif­fe­ren­zier­ter zu ver­wen­den.
  2. Die Mo­der­ni­tät YGs ist an sei­nem Werk noch neu zu ent­de­cken. Seine Worte im Ki­no­dram von 1920 muten bei­na­he wie eine Zeit­dia­gno­se an: »Die sta­ti­schen Ge­set­ze sind um­ge­sto­ßen. Der Raum, die Zeit ist über­rum­pelt. Die höchs­ten For­de­run­gen der Kunst: die Syn­the­se und das Spiel der Ge­gen­sät­ze wer­den durch die Tech­nik erst er­mög­licht«; und wei­ter: »Der neue te­le­gra­phie­ren­de Mensch liest nur noch Titel, an­deu­ten­de Haupt­wor­te: die Ent­wick­lung ist banal.«
  3. YGs Ver­such von »Syn­the­se« ist heute wie­der in­ter­es­sant, fragt man doch in der jet­zi­gen Zeit des lo­gi­schen Po­si­ti­vis­mus neu, wieso ei­gent­lich die »Na­tur­wis­sen­schaft ein Ra­tio­na­li­täts­mo­no­pol be­an­spru­chen darf oder wieso Elek­tron-Quarks für uns von grö­ße­rer Re­le­vanz sein sol­len als z.B. li­te­ra­ri­sche Tra­di­tio­nen.« Das sagte Ri­chard Rorty 2003 beim Phi­lo­so­phie­kon­gress in Jena.
  4. Ein an­de­res, aber nicht davon zu tren­nen­den Thema, da ge­ra­de heute im Vor­der­grund der Pro­ble­ma­tik un­se­rer glo­ba­li­sier­ten Welt ste­hend, ist das Phä­no­men der Grenz­über­schrei­tung, die sich in YG ver­kör­pert; jene, die von der Spra­chi­den­ti­tät zur Iden­ti­tät geht, wel­che immer wie­der mit Zu­ge­hö­rig­keit und Ab­gren­zung zu tun hat, des­halb eher eine dy­na­mi­sche als eine sta­ti­sche ist, und wo nur Spra­che wirk­lich »Haus des Seins« (Hei­deg­ger) wird.

Wie ak­tu­ell diese Be­zü­ge sind, soll ab­schlie­ßend un­ter­stri­chen wer­den durch den Text eines ganz an­de­ren zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­lers, in dem die »zwei­te Welt« eben­so an­ge­spro­chen wird wie das Ver­mö­gen und Un­ver­mö­gen von Spra­che, das Pro­blem von Zeit und Hei­mat eben­so wie die Iden­ti­fi­ka­ti­on von Dich­tung und Schöp­fung. In sei­ner Rede zur Ver­lei­hung des Kleist­prei­ses 2009 sagte der Preis­trä­ger Ar­nold Stad­ler:

»Die Li­te­ra­tur ist jene zwei­te Welt, die sich der Mensch nach sei­ner ers­ten ge­schaf­fen hat, ihrem und sei­nem Bilde. Die hoch­deut­sche Spra­che ist für einen deut­schen Sprach­aus­län­der wie mich […] das nicht Selbst­ver­ständ­li­che,[...] das Un­er­hör­te und Be­son­de­re. [...] Also nicht Mit­tei­lungs­fluss und In­for­ma­ti­on, weder In­halt noch Ver­kehrs­mit­tel ist die Spra­che, [...] son­dern etwas im Sonn­tags­ge­wand, [...] mit dem wir es sagen kön­nen, dass wir es doch nicht sagen kön­nen. [...] Aber was Spra­che ist, weiß ich immer noch nicht. […] Jeder, der schreibt, muss mit der Gabe der Bi­lo­ka­li­tät ver­se­hen sein, das heißt er muss hier und dort sein, in einem Einst und Jetzt. [...] Wir sind da, wo wir sind, auf Zeit, und auch so nie­mals ganz. Wenn wir schrei­ben [...], sind wir immer auch ir­gend­wo an­ders. [...] Der Schrift­stel­ler ist in allen Zeit­zo­nen un­ter­wegs. Und zwar gleich­zei­tig. Und immer sind wir [...] beim Schrei­ben und beim Lesen auf einem Nach­hau­se­weg.«

 

Li­te­ra­tur

1. Pri­mär­li­te­ra­tur

BOL­LIN­GER, HANS, Brief an Yvan Goll vom 22.9.1948. DLA Mar­bach
BOS­QUET, ALAIN, Brief an Yvan Goll vom 27.9.1949. DLA Mar­bach
GOLL, IWAN, Vom Geis­ti­gen. In: Die Ak­ti­on, 7. Jg. 1917, Nr. 51-52, Sp. 677-679
GOLL, IWAN, Ap­pell an die Kunst. In : Die Ak­ti­on, 7. Jg. 1917, Nr. 45-45, Sp. 599-60
GOLL, IWAN, Men­schen­le­ben. In: Zeit-Echo, Hg. Otto Haas Heye, 3. Jg. 1917, Heft 4, S.20-21
GOLL, IWAN, Das neue Frank­reich. In: Die neue Rund­schau, 1919, 1. Halb­jahr, S.100-112
GOLL, IWAN, Paris, Stern der Dich­ter. In: Neue deut­sche Rund­schau, Bd. I, S. 634-646
GOLL, IWAN, Von neuer fran­zö­si­scher Dich­tung. In: Die neue Rund­schau, 1920, Bd. 1, S. 103-110
GOLL, YVAN, Brief an Gott­fried Benn vom 1.5.20. DLA Mar­bach
GOLL, IWAN, Das Lä­cheln Vol­taires. In: Die neue Rund­schau 30.​Jg. 1920 2. Halb­jahr S.  1311-1314
GOLL, YVAN, Brief an den ver­stor­be­nen Dich­ter G.​Apolli­n­ai­re. In: Die weis­sen Blät­ter 6.​Jg., S. 78-81
GOLL, IWAN, Der Ex­pres­sio­nis­mus stirbt. In: Zenit 1, 1921, Nr. 8 Ok­to­ber, S. 8-9
GOLL, IWAN, Das Wort an sich. Ver­such einer neuen Poe­tik. In: Die Neue Rund­schau, 32.​Jg. 1921, S.  1082-1085
GOLL, IWAN, Fer­nand Leger. In: Das Kunst­blatt, VI.​Jg., 1922, S. 73-77
GOLL, IWAN, Bitte um­stei­gen. In: Das Kunst­blatt 7, 1923, S, 330-331
GOLL, IWAN, Zwi­schen Paris und Ber­lin. In: Der neue Mer­kur, 7.​Jg., 1923-24., S. 426-429
GOLL, IWAN, Fer­nand Leger. In: Das Kunst­blatt, VI. Jg, 1922, S. 73-77
GOLL, IWAN, Zwi­schen Paris und Ber­lin. In: Der neue Mer­kur, 7.​Jg, 1923-24., S. 426-4
GOLL, IWAN, Sur­rea­lis­me. In: Œuvres I , 1924, S. 87-89
GOLL, IWAN, Die drei guten Geis­ter Frank­reichs. In: Tri­bü­ne der Kunst und Zeit, Ber­lin S. 72-76
GOLL, IWAN, Mo­der­ne Hai – Kais. In: Die Li­te­ra­ri­sche Welt 46, 1927, S. 3
GOLL, IWAN, Der Homer un­se­rer Zeit. In: Die li­te­ra­ri­sche Welt 24, 1927, S. 1-2
GOLL, YVAN, Brief an Hans Bol­lin­ger vom 19.5.1948. DLA Mar­bach
GOLL, YVAN, Brief an Al­fred Dö­blin vom 20.3.1948. DLA Mar­bach GOLL, YVAN, (als Tris­tan Thor): Brief an Al­fred Dö­blin vom 30.5.1948. DLA Mar­bach
GOLL, YVAN, French poe­try bet­ween the two wars. Ty­po­skript 16 Sei­ten. DLA Mar­bach
GOLL, YVAN, Hand­schrift­li­ches Bruch­stück eines Brie­fes an Al­fred Dö­blin. DLA Mar­bach*

* Nr. 7815432. Im hand­schrift­li­chen Text lese ich als Datum 20. März 1948. In einer in Mar­bach be­find­li­chen Schreib­ma­schi­nen­ver­si­on (be­nannt als »hand­schrift­li­ches Bruch­stück eines Briefs Yvan Golls an Dö­blin«, auf wel­chem hand­schrift­lich die glei­che Num­mer an­ge­fügt wurde) ist da­ge­gen die Rede vom »20. May 1948.« Ich halte dies für einen Feh­ler, dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, dass YG die alte deut­sche Schrift be­nutz­te, so dass das »z« als »y« ge­le­sen wurde. Es wäre auch nicht er­klär­bar, warum in einem deutsch­spra­chi­gen Brief in Paris aus einem Hotel mit fran­zö­sisch­spra­chi­gem Brief­kopf Goll hier den eng­li­schen Be­griff für den Monat be­nutzt haben soll­te. Wei­ter­hin ist das »Sur­rea­lism« des Ori­gi­nals mit »Sur­rea­lis­mus« wie­der­ge­ge­ben, das »ein­ge­stürzt« mit »um­ge­stürzt«.


GOLL, YVAN, Brief an Alain Bos­quet vom 8.2.1950
GOLL, CLAI­RE – GOLL, YVAN, Mei­ner Seele Töne. Mün­chen 1981
GOLL, YVAN, Die Lyrik in vier Bän­den, hrsg. von B. Glau­ert-Hes­se, Ber­lin 1996
GOLL, YVAN, Aus­ge­wähl­te Ge­dich­te. Stutt­gart 1962
GOLL, YVAN, Ge­dich­te. Mei­len (Schweiz) 1968
GOLL, IWAN, Unter kei­nem Stern ge­bo­ren, Ber­lin und Wei­mar 1973
GOLL, YVAN, Ge­dich­te 1924-1950. Aus­ge­wählt von Horst Bie­nek. Mün­chen 1976
GOLL, YVAN, Traum­kraut. Ge­dich­te aus dem Nach­lass. Wies­ba­den und Mün­chen 1982
GOLL, YVAN, Ma­lai­ische Lie­bes­lie­der. Eben­hau­sen 1967/1980
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GOLL, YVAN, Traum­kraut. Ge­dich­te aus dem Nach­lass. Limes, Wies­ba­den und Mün­chen 1982
GOLL, IWAN, Ge­fan­gen im Krei­se. Dich­tun­gen, Es­says und Brie­fe, hrsg. von K. Schu­mann. Leip­zig 1988
GOLL, YVAN, Sodom Ber­lin. Frank­furt, 1988
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2. Se­kun­där­li­te­ra­tur zu Yvan Goll

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3. Wei­te­re Li­te­ra­tur

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4. Wei­te­re be­nutz­te Quel­len

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