Thomas Körner

Mit zwölf beschloss ich Räuber zu werden.
Ganz Wildschütz, ganz Stülpnerkarl.
Der Forst von Coswig bis Moritzburg war mein Revier.
›Lustig ist es im grünen Wald...‹
Da lebte ich episodisch von Abenteuer zu Abenteuer:
bezwang meinen Hausfelsen Hohenstein, angelte nach 
dem verborgenen Schatz im Weißfischelteich, pirschte 
über die Rehwiesen.
Ernährte mich von Wasser und Brot, Speck und Heidelbeeren.
Die wuchsen in Massen, seit die fremden Soldaten dort ihr
Lager hatten. Vom Auer bis zu den Mittelteichen machte ich
die Gegend unsicher. Kein Wildschwein wagte es, meinen Weg
zu kreuzen. Nichts und niemand gab mir Befehle. Ich unterstand
einzig meinem ungebundenen Leben.
Das schuf mich mir zum Helden.
 
Es hielt mich nirgends. Ich stromerte, streunte, trieb mich herum.
Vagabundierte. Landstreicherte. 
Vor Gotha, morgens sechs Uhr, erwachte ich auf freiem Feld.
Ein Mähdrescher zog, fünf Meter entfernt, seine Erntespur.
Mich, der ich in einer Ackerfurche genächtigt hatte, muss er glatt
übersehen haben. Das war knapp.
Hinter Großenhain, mit dem Rad, auf dem Weg nach Berlin.
Nachts halb eins war ich losgefahren. Der unerträglichen Hitze wegen.
Das Gepäck hatte ich vorausgeschickt, postlagernd Heringsdorf.
Nach Abitur und Studienbewerbung – endlich fort, endlich raus!
Ich riss mir, laut singend, das Hemd vom Leib und schleuderte es
in den Straßengraben. Radelte halbnackt über Herzberg und Jüterbog.
Ruhte mich aus vor Potsdam. Auf dem Rücken liegend ausgestreckt.
Fühlend, wie die Erde glühte unter mir. Über mir kreisten Sternbilder.
Die Welt ging durch mich hindurch, den fahrenden Gesellen, den
vogelfreien Wanderer. Ich als der große Ausreißer, der nicht zu halten war.
 
Es zog mich ans Meer. Mein Zelt stand mit dem Eingang nach Osten.
Ich sah die Sonne nicht untergehen.
Ich las das Hohe Lied enthaltend die Lehre der Unsterblichkeit.
Und das heilige Feld Kurukschetra nahm die Gestalt des Meeres an 
und die Wolken die der Pandavas.
Ich war Ardschuna der Mensch, dessen Wappenschild der Affenkönig ist.
Ich träumte von einer Seele und nahm im Himmel meines Innern meine
Zuflucht. Einsiedler wollte ich sein, und befreit von äußeren Dingen
in mir selber leben.
Doch der Wind blätterte im Buch der Lehren.
›Veränderung ist das Los von allen Dingen.‹
Tun und Vermeiden und Untätigkeit. Ich suchte zu erforschen die 
Unterscheidung zwischen dieser dreien. Die alten Weisen, die
die Freiheit liebten, erkannten dies. Ich wollte lernen, wie jenes
Wirken ist, das Freiheit bringt.
›Und neue Daseinsformen treten auf!‹
Ich schwamm hinaus. Das Wasser war Symbol des Weltgedankens.
Ich belauschte das wunderbare Zwiegespräch des Herrn des Himmels
mit dem Sohn der Erde.
Und jedesmal, so oft ich daran denke, erfüllt ein heller Jubel meine Brust. 
 
In den Tagen nach dem Mauerbau in Berlin an eine Wohnung zu kommen, war, sofern man keine größeren Ansprüche stellte, verhältnismäßig einfach. Man streifte durch den erwählten Stadtbezirk – wo Fenster offen standen,  Gardinen heraushingen, tagelang Licht brannte, konnte man annnehmen, die Bewohner waren ›verzogen‹.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen im Prenzlauer Berg – wir waren offenbar  zu spät gekommen und die besseren Adressen innerhalb der Familien und der Nachbarschaft längst unter der Hand getauscht – verlegten wir uns im Stadtbezirk Mitte auf die Gegend hinter dem Oranienburger Tor, also Auguststraße, Linienstraße bis zum Rosenthaler Platz. Und hatten Glück!
In der Kleinen Hamburger, gegenüber von Clärchens Ballhaus, war eine Mansarde frei. Wir erledigten am nächsten Tag bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung  die Formalitäten, trieben auf  der Christburger Straße noch ein Recamierähnliches Polstermöbel auf und erhielten am Nachmittag die Schlüssel. Ab diesem Moment lebte ich wie in einem Film.
Wenn ich morgens, angetan mit Schlafanzug und Vietcongsandalen, den damals  unvermeidlichen Nylonmantel übergehängt, vom Einkauf bei der rotblonden Bäckerin in der Großen Hamburger zurückkam, ein baguetteförmiges Brot unter dem Arm, in der einen Manteltasche eine Flasche Gamza, in der anderen das Neue Deutschland, kam ich mir vor wie in Paris, ein Paris, wie ich es aus dem Kino kannte.
Der Kiez erwachte nach und nach. Am St. Hedwigskrankenhaus fuhren die ersten Rotkreuzwagen vor, die Inhaber des Beerdigungsinstituts und des Blumengeschäfts erörterten die Lage und die emsige Serviererin vom Cafe Schweiz ließ die gute Berliner Luft in die Gaststube. Die Söhne der Hausmeisterin von Nummer Fünfzehn machten sich auf den Weg zur Arbeit in die um die Ecke gelegene Kohlenhandlung und die blinde Diabetikerin aus dem Erdgeschoss war endlich eingeschlafen.
Über den Dächern von Berlin, auf dem Vorsprung meines Fensters sitzend, zelebrierte ich eine kleines Frühstück, hörte La Mer, gesungen von Trenet, las Der Mythos von Sisyphos und
vergaß
zur Arbeit zu gehen.
Es gab nichts Wichtigeres als ein Dichter zu zu sein.
   Nicht zu glauben, ich saß mitten im Osten fest und war doch frei! 
 
Endlich war das Spiel aus. Es gab mich nicht mehr. Ich hatte aufgehört, einer von  uns zu sein. Ohne mich für die anderen, war ich eigenständig für mich. Ich fehlte  nicht, niemand vermisste mich. Nach mir zu fragen fiel keinem ein. Vergessen hatten sie, wer ich war. Wussten nicht mehr, woher ich gekommen war, kannten meine Familie nicht. Herkunft und Abstammung- unergründlich. Woher sollten  sie wissen, was ich wusste. Ahnten nicht, wozu ich fähig war. Und ich verwarf ihre Art. Was wussten die, was ein Mensch ist.
Sie kannten nicht meinen bisherigen Werdegang, was ich las, in welche Theater  ich ging, welche  Konzerte ich hörte, Museen, die ich besuchte oder Bibliotheken, Kneipen, Kirchen, Kinos. Es interessierte sie nicht, wovon ich lebte, ob ich eine Adresse hatte, Freunde, eine Geliebte. Sie wussten nichts und wollten nichts wissen. Wir negierten einander, waren uns nur egal. 
Ich wurde in jener Zeit unauffällig und unauffindbar. Ich hatte mich aller besonderen Kennzeichen entledigt. Sie hatten nichts in der Hand von mir. Unmöglich mich zu beweisen. Kein glaubhaftes Zeugnis. Keine gesicherte Äußerung, nicht mal Andeutungen. Weder Gerücht noch Gestalt. Nur nicht
unverleumdet..
   Und so gab ich mich eines sonnigen Vormittags dem Meer zurück und ließ sie über alles weitere im Unklaren. 
Denn es ist ja nicht wahr – man muss nicht mitmachen!

 

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