Was will der alte Mann in der Politik? Ich frage uns nicht, was er ›wirklich‹ dort will, denn das weiß er unter Umständen ebenso wenig wie Sie oder ich. Ich frage: Was kann er wollen, ob er will oder nicht, weil die Lage es ihm vorschreibt? Auch das ist keine ganz einfache Frage. Aber ohne sie kommt das Drama nun einmal nicht in Gang, jedenfalls nicht für die Klugen, und zu denen zählen wir uns doch auch. Sehen wir es psychologisch, so kann er nur wollen, was er sein Leben lang wollte und womit er bisher Erfolg hatte. Die Menschen treibt dieser unselige Hang, ihre erfolgreichen Nummern immer aufs Neue durchzuziehen, bis es zu spät ist.

Ich weiß, was Sie denken. Es stand ja auch damals in allen Zeitungen: Diese Bewerbung ist ein Geschäftstrick, ein Schwindel. Inzwischen weiß man es besser. Nehmen wir also der Redlichkeit halber an, der alte Mann sei kein Plünderer. Nehmen wir, bloß versuchsweise, an, er meine es ernst mit der biblischen Formel, dem Staat zu geben, was des Staates ist – Sie merken, der Gedanke ans Christentum lässt mich nicht los, es ist eine Obsession –, nehmen wir weiter an, er dächte dabei nicht nur an die Steuer. Was, bitte, bleibt denn dann? Er ist ein Unternehmer, er denkt wie ein Unternehmer. Da liegt es nahe, dass er sich den Staat als ein riesiges Wirtschaftsunternehmen denkt. Welchen Grund sollte er haben, sich am Ende eines Lebens, in dem er, wie er sagt, alles erreicht hat, an die Spitze eines solchen Unternehmens zu bewerben? Eitelkeit? Daffke? Weil ihn der Ehrgeiz reitet? Weil es ›ein schöner Job‹ wäre? Dann müssten sich die Spitzenkräfte der Wirtschaft um diesen Job reißen.

Wirklich plausibel ist ein anderer Grund. Der alte, ans Ende seiner Karriere gelangte Mann hält speziell dieses Unternehmen für schlecht geführt. Vorsichtig gesprochen, steht er damit nicht allein. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Der Staat, dieser Staat, Ihr Staat ist ein Sanierungsfall.

Also reizt ihn die Rolle des Sanierers?

Das sagt sich leicht dahin. Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Aber wenn einer der Auffassung ist, dass es sich beim Staat um das Unternehmen aller handelt, wenn den Bürger in ihm der Gedanke an eine am Rande des Staatsbankrotts dahinschlitternde Regierung stört, die sich vom primitivsten aller Steuerungsmittel, der Haushaltssperre, den Handlungsrahmen diktieren lässt, multinationale Verträge abschließt, die es dem großen Geld lukrativer erscheinen lassen, seine Investitionen außer Landes zu tätigen und in großem Stil Arbeitsplätze zu verschieben, während die Arbeitslosigkeit im Lande wächst, der Mittelstand verarmt und die Infrastruktur verfällt, endlose Kriege die Finanzen aushöhlen und die Sozialkosten ins Unbezahlbare steigen, dann … dann kann der Gedanke an diese Rolle – ich sage nur soviel: Er kann im Laufe der Zeit eine gewisse Explosivkraft entfalten.

Es braucht keinen persönlichen Ehrgeiz, um so zu denken. Es sind einfache Gedanken, sie passen in jedes funktionsfähige Gehirn. Und es sind unwillkürlich Sanierungsgedanken, die einem dabei durch den Kopf gehen. Der alte Mann fragt sich: Warum eigentlich werden all diese Leute wieder und wieder gewählt, wenn sie so offensichtlich Politik gegen die Interessen ihrer Wähler betreiben? Gibt es dafür Gründe? Wäre es nicht langsam an der Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen? Wäre es nicht an der Zeit, diese Dinge zu ändern, wie man sie eben ändert: Sparpotenziale zu nützen, ungleiche Verträge nachzuverhandeln und sich von Geschäftsfeldern zu trennen, die offenbar bloß Verluste einfahren?

Solche Gedanken müssen wir ihm abnehmen, ob wir es wollen oder nicht. Ein Mensch mit dieser Disposition kann gar nicht anders denken. Und, sagen wir es rundheraus, die Wirklichkeit selbst drängt ihn in diese womöglich nur unvollständig wahrgenommene Richtung. Sobald allerdings echte Interessen ins Spiel kommen, Ihre zum Beispiel – auch ich könnte ein paar beitragen, die zu vertreten ich Gelegenheit hatte –, dann ist diese wahrgenommene Wirklichkeit plötzlich die unwirklichste von allen – offenbar nichts weiter als die Phantasie einer Krämerseele, die keine Ahnung hat, worum es im höheren Staatsund Geschäftsleben geht. Da geht eine Sperre hoch, die kaum überwindbar erscheint. Politik denkt anders.

Doch der alte Mann ist alles andere als ein Krämer. Er weiß recht genau, was Interessen sind, er dichtet sogar dem Staat Interessen an, weil er ihn, seit sein Entschluss zu reifen begann, im Unterschied zu seinen illustren Konkurrenten für eine reelle Größe hält. Und siehe, dieser konstruierte Mensch, der da an die Öffentlichkeit tritt, steht mit seinen Ansichten nicht allein und es sind keineswegs nur die verführbaren Massen, bei denen er ein offenes Ohr für sie findet.

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