Eines schlechten Morgens, sagte Sonderberg, sei er bei Tagesanbruch mit einer unerklärlichen, noch nie empfundenen Traurigkeit aufgewacht, die ihn dann tagelang nicht verlassen habe, sagte Sonderberg. Wie Schwefelsäure habe sie alles durchdrungen und durchtränkt, auch seine Freuden. Jetzt, da er davon spreche, könne er sich gut an die ununterscheidbare Stimmung jener Tage erinnern, an den dunklen Schmerz, den er nicht imstande war – und auch heute nicht imstande wäre – zu beschreiben, um ihm durch die Beschreibung eine Form zu geben und sich dadurch von ihm zu befreien.
Imre Kertész

Mit dieser Stelle im Werk, so meine These, lassen sich Werk und gewesenes Dasein von Imre Kertész grundlegend und weitgehend verstehen. Bei aller Unverstehbarkeit des Daseins an sich.

Selbst über Jahrzehnte jede Vereinfachung ablehnend, möchte ich mich jetzt gerade ihrer bedienen: der Vereinfachung. Der Aussparung von x Differenzierungen, weil sie bereits geleistet wurden. Weil das Einfache, wenn es nach all dem Durchgang das Übriggebliebene ist, wohl «das« Richtige ist. Und zugleich das, was es bereits zu Anfang – vor allen Differenzierungen und Kontextualisierungen – war.

Die Traurigkeit im Werk von Imre Kertész basiert auf Grundverunsicherungen, die früh erfolgten. Die Stichwörter dafür lauten: (Ausbleibende) Familie, Adoleszenz und Auschwitz.

Von daher kam die Traurigkeit nicht «Eines schlechten Morgens«. Sondern durchzieht, mehr oder weniger spürbar, mehr oder weniger ausgeprägt, mehr oder weniger fokussiert, das ganze Werk.

Jede einzelne Passage im Gesamtwerk zerfällt nach wenigen Impulsen, die «Freude an Erkenntnis und Intellektualität« genannt werden können, in Klage und Traurigkeit. Mehr oder weniger verdeckt, mehr oder weniger offen. Dies sozusagen der Rhythmus: zum einen Freude an Intellektualität und Erkenntnis, zum anderen Verfallen in Traurigkeit und Klage.

Zunehmend auch in Gegnerschaft mit sich selbst. Die oft auf bestem Niveau geschieht, weil das Individuum – der jeweilige «Protagonist« – vielfach und grundlegend sich aller Verantwortung angenommen hat.

Dabei ist das Werk also geradezu durchtränkt von einem Grundgefühl, das sich zugleich dennoch durchweg einfach nicht ausdrücken lässt. Paradox ist das nicht. Die Gründe dafür sind längst allgemein bekannt. Es berührt die Thematik der Ausdrucksfähigkeit von Sprache beziehungsweise deren Grenze. So kann man schlicht oder unschlicht nach Willard Van Orman Quine einmal mehr sagen, Wort und Wirklichkeit sind, bei allen referenziellen Bezügen, zwei verschiedene Welten. Und hinzukommt, den Leser betreffend: Verstehen hängt davon ab, was ein Mensch jeweils zu verstehen in der Lage ist (Literaturwissenschaftlern bekannt als «Rezeptionswissenschaft«).

So ließe sich sagen: Kertész, und nicht nur er, schrieb um das, was sich nicht ausdrücken lässt, herum. Weil: es gar nicht anders geht. Zumal in seinem Fall. Und: Wir – um es nun nicht nur für gewisse Menschen zu verallgemeinern – meinen, beim schriftlichen Ausdruck bestimmte Dinge zu treffen, zuweilen, aber spätestens nach einem gewissen Zeitabstand, was verstehen wir selber noch davon? Und: Es gibt relativ regelmäßig diese Stellen in den Texten von Kertész, in denen der jeweilige Protagonist zugibt – frei gesagt –, gar nichts mehr zu verstehen. Stellen übrigens, an denen sich «Das Glück des Vergessens« nicht ausbreitet.

So kreist das Werk gar in hohem Maße um das Nicht-Beschreibbare. Und letztlich: um das Nicht-Erklärbare. Bei allen (stetigen) Bemühungen.

Genau genommen, so wäre also zurecht einzuwerfen, ist doch vieles «nicht beschreibbar«. Und erklärbar, bei gebotener Vorsicht, allenfalls Ursache-Wirkung-Phänomene. Das heißt, wie sich ein Mensch fühlt, wenn es über übliche Parameter hinausgeht, inwiefern ist es denn beschreibbar, vermittelbar? Und ausgehend davon ist das Werk von Imre Kertész, nicht gerade das Einzige, in einem höchsten Maße durchzogen von Traurigkeit, Isolation, Qual, Rückzug, der nicht mehr aufgehoben werden konnte bzw. nicht mehr aufgehoben werden wollte. Auch deswegen, weil der explizite Absprung in Regionen von Spiritualität und Religion – vielleicht nicht abgelehnt, aber auch nicht relevant einbezogen wurde. So gehören zu den markanten Merkmalen (und Erfolgen) von Werk und Verfasser Selbst-Behauptung, Unabhängigkeit, Auslebung «intellektueller Abenteuer«, Beschreibungsversuche von Atmosphären und (Grenz-) Zuständen, die vielen in dieser Art nicht einmal ahnungsweise bekannt sein dürften.

Und: wirklich schön und fließend und verbunden: ist dort nichts. Von daher kann, gehen wir nur von den Protagonisten im Werk aus, von wahrhaft Einsamen gesprochen werden, die ihr Allerbestes gaben, und in ihrem tristen Kosmos dennoch eine faszinierende Welt hinterließen. Jedenfalls in vielen Teilen.

Eine Welt, die sich so weit vorwagte und dabei dem Schmerz ins blinde Auge sah (um immer wieder mutigst von ihm abzusehen), dass sie auch in diesen Merkmalen landläufig und vielfach – aber dies ja nichts Neues – wohl gar nicht verstanden wird. Und eben mehr noch, gar nicht verstanden werden will.

 

 

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