Die Ursachen des Deutschenhasses. Eine nationalpädagogische Erörterung von Max Scheler, Leipzig (Kurt Wolf) 1917

In diesem wenig bekannten Werk stehen enorme Sätze, z.B.: »Viel wichtiger war, daß sich diese gekennzeichnete Strukturform (des preußischen ›Geistes‹, Anm.) des aufs äußerste gespannten rationalen Willens andere inhaltliche Ziele als die altpreußischen gab, daß sie sich von vorwiegend politischen, staatlichen Macht- und militärischen und verwaltungsmäßigen Organisationszielen (deren Vorherrschaft im älteren Preußen mit einer überaus feinen, spröden, hellen Geistigkeit in Kunst – z. B. Baukunst: Schinkel, Schlüter usw. – Wissenschaft und Geselligkeit bis zum Jahre 1870 einen Daseinsstil gebildet hatte) stärker loslöste und sich vorwiegend mit dem neuen Inhalt wirtschaftlicher Berufs- und Facharbeit des arbeitenden Bürgertums erfüllte. Ich habe diesen wenig in seinem Wesen erkannten Wandel anderwärts einmal so ausgedrückt: Die Form jenes bei passenden adäquaten Zielen – herrlichen heroischen unbedingten Ordnungsgeistes, Staatssinnes, jenes Ethos unendlicher Hingabe an die Pflicht – nicht nur ohne Blinzeln nach Glück, sondern mit fast gesuchter heroischer Glücksverachtung – jenes Geistes, wie ihn der große Friedrich bis an sein Ende betätigt, wie ihn Kant im kategorischen Imperativ formulierte, wurde aus der politischen, militärischen und moralischen Sphäre in die ökonomische und technische übertragen: d. h. aber in eine Wertsphäre, die ohne fortwährende Rückbeziehung auf Erhaltung, Glück, Behaglichkeit, Genuß des sinnlichen Menschen im Grunde keinerlei ratio ihres Daseins hat.«

Nun ja. Von der unendlichen Hingabe an die Pflicht ist im besten Deutschland, das es je gab, nicht viel zu spüren.

Also weiter:

»Ist schon das Erste, die Pflichtidee der kantischen Philosophie – von der Kant sagt, daß sie weder ›im Himmel noch auf Erden irgendwo aufgehängt‹ gedacht werden dürfe – eine bei aller inneren Größe sehr bedenkliche Erscheinung der moralischen Welt: Das Zweite, ihre gefühlsmäßige Übertragung auf die Sphäre ökonomischer Arbeit als Hauptmotor für sie ist eine geradezu groteske Erscheinung.«

Was der Denker dem Leser damit wohl sagen will? Ah, er sagt es selbst:

»Der Märtyrer seines ökonomischen Arbeitsimpulses ist nicht erhaben/ er ist komisch. Vom Erhabenen zum Lächerlichen und Grotesken ist auch hier nur ein Schritt. Ich sagte anderseits: Mit demselben heroischen Pathos und mit derselben leidenschaftlichen Unbedingtheit, mit der stolz gelassenen Gleichgültigkeit gegen Leben, Wohl, Glück, mit der Kleists Prinz von Homburg in die Schlacht stürmt – bewundernswert, da er es tut für seinen Staat und seinen König – darf man einfach nicht Semmeln, Würste und Nähnadeln usw. produzieren, wenn man nicht entweder selber grotesk-komisch und als eine neue Form und Auflage des Ritters von La Mancha erscheinen will, dazu Gefahr laufen, ob der kapitalenorm-kolossalen Wurst- oder Nähnadelleistung, mit der kein anderer Fabrikant dieser Dinge mehr konkurrieren will (nicht ›kann‹), allen Wurst- und Nähnadelmachern der ganzen Erde tief hassenswert zu erscheinen – oder wenn man nicht radikal mißverstanden sein will als Welteroberer.«

Schelers Fazit:

Die Selbstauslieferung der Deutschen an den rational-ökonomischen Geist der Moderne, verbunden mit ihrem Unendlichkeitsdrang, vulgo: ihrem Nicht-mehr-aufhören-Können ist der wahre Grund für den globalen Deutschenhass, der sich im Weltkrieg entlädt. Wer Parallelen zu ziehen versteht, sieht vielleicht nicht mehr zwingend die Deutschen im Zentrum eines aufziehenden Welthasses. Dazu wirken sie denn doch zu unbedeutend. Der homo oeconomicus oeconomicus bevorzugt inzwischen andere Breiten.

***

Was ist dieser ›Weltkrieg‹? Auch da findet der Verfasser bemerkenswerte Worte:

»Der Krieg, der uns umtobt, stellt dar die konzentrierteste und innigste Einheit des Erlebens, welche die mannigfachen Teile der Menschheit (Rassen, Völker, Staaten, Nationen usw.) in aller uns bekannten Geschichte erreicht haben. Er ist das erste Ereignis der Menschengeschichte, das man ein Gesamterlebnis der ganzen Menschheit nennen darf. ›Weltgeschichte‹ - ein Wort, das bisher nur eine künstliche begriffliche Zusammenfassung einzelner Volksgeschichten und deren Wechselwirkungen bezeichnete, wurde in diesem Kriege zum ersten Mal zu einem realen Geschehnis. Selbst die Revolution von 1789 war diesem Ereignis gegenüber nur von einer partikularen Teilnahme der Menschheit getragen. Derselbe Krieg aber ist gleichzeitig der haßerfüllteste Vorgang aller uns bekannten Geschichte – der Vorgang, in dem sich die Menschheıt durch das Gift des Menschenhasses am tiefsten entwürdigte und beschmutzte. Das erste Gesamterlebnis der Menschheit war das Erlebnis eines Gesamthasses.«

Wie gesagt, es handelt sich um das erste Ereignis dieser Art. Mittlerweile stehen wir perplex vor einer Propagandawelle, die uns das dritte Menschheitserlebnis, diesmal auf der Basis finaler Weltvernichtungkapazitäten, schmackhaft machen möchte.

 

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