Siegmar Faust

Der griechische Philosoph Plotin (203-269) verglich einst die Erde mit der Rinde eines Baumes, unter der ein treibender Saft verborgen sei, mit der Bestimmung, immer wieder neues, junges Leben hervorsprießen zulassen und altes auszumerzen. Wird das an sich harmlos klingende Gleichnis mit der Flutwellenkatastrophe in Südasien in Beziehung gebracht, kann ein solches Sprachbild als Zynismus ausgelegt werden. Es gibt derartige Vorlagen zu Tausenden. Doch Plotin war derjenige, der in seiner Abhandlung Über die Vorsehung die ausführlichste Rechtfertigung GOTTES im Bezug auf die Übel der Welt verfasste, die das Altertum hervorgebracht hat.

Die Mythen der Menschheit bergen viele Katastrophen. Der Mythos von Noah und der Sintflut ist der bekannteste unseres Kulturkreises; doch in allen anderen Religionen werden ähnliche »Erinnerungen« an eine solche Flutkatastrophe aufbewahrt.

Im Alten Testament lesen wir, wie der Schöpfer des Universums mit ansehen musste, dass »auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war«. Wir mutmaßen, wie es ausging. Nur der untadelige Noah (3837-2887 v. Chr.), der im Alter von 500 Jahren noch drei Söhne gezeugt hatte, durfte mit der Familie samt drei Schwiegertöchtern und je einem Tierpaar aus dem Angebot der Geschöpfe auf der Arche Noah überleben. Die Urflut dauerte 40 Tage und es verendeten »alle Wesen aus Fleisch, die sich auf der Erde geregt hatten«.

Willentlich wurden »alle Wesen auf dem Erdboden, Menschen, Vieh, Kriechtiere und die Vögel des Himmels«, also neben dem sündigen Menschen selbst unschuldige Geschöpfe vom Erdboden »vertilgt«. Nach 150 Tagen nahm das Wasser ab, und die Arche Noah setzte im Gebirge Ararat auf. Nachdem Noah dem Schöpfer des Himmels und der Erde einen Altar gebaut und Brandopfer dargebracht hatte, roch GOTT »den beruhigenden Duft« und sprach bei sich: »Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen, denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an«. Der Gütige schloss unterm Zeichen des Regenbogens mit seinen missratenen Geschöpfen einen Bund. Daraufhin durften sie sich wieder auf der Erde ausbreiten, was den alten HERRN jedoch noch oft zur Verzweiflung treiben sollte. Dessen ungeachtet versprach er hoch und heilig: »…nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben«.

Und nun? Es gab 2004 über 280 000 Opfer der Tsunami-Katastrophe. Ob gläubig oder nicht, wir sind alle betroffen und mitfühlend; wir spenden und manche beten. Die Medien füttern uns jedoch bald wieder und immer wieder mit neuen Katastrophen ab. Doch wer rechnet mit GOTT ab? Wer wagt es, ihn noch ein­ mal so couragiert wegen »einer fahrlässig ungerechten, korrupten Aufsichtsführung über das Leben seiner Getreuen« (Erhard S. Gerstenberger) anzuklagen wie einst Hiob? GOTT dürfte von ihm zum ersten Mal die Leviten gelesen bekommen haben, nachdem der Prototyp Adam viel zu feige und unerfahren war, seinen Schöpfer anzuklagen, der ihn und sein Weib wegen eines simplen Apfeldiebstahls und dem Streben nach Erkenntnis völlig unangemessen bestraft hatte, und nicht nur die beiden, sondern alle Nachkommen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Welcher psychisch gesunde Mensch könnte eigentlich beim Lesen im Alten Testament für GOTT Partei ergreifen? Warum verbot GOTT seinen Geschöpfen ausdrücklich, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Die Antwort, die Michael Bakunin (1814-1876) gibt, ist immerhin eine mögliche: »Er wollte also, dass der Mensch, allen Bewusstseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn Untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, dass der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen.«

Tragisch war ja wirklich der Fall des treuen Hiob, der sich in tiefster Verzweiflung wünschte, nie geboren worden zu sein, da er sich keines Unrechts bewusst war, das seine furchtbaren Strafen hätte rechtfertigen könnten.»Denn wir, die Leser, sehen, dass die Sache noch sehr viel schlimmer ist, als Hiob vermutet. Er bittet noch um Verständnis. Angenommen er hätte gewusst, dass der Tod seiner zehn Kinder Folge einer Wette war, die GOTT mit Satan abgeschlossen hatte, gleichsam als wären die beiden zwei flegelhafte Schüler, die um die Macht konkurrieren?«

Gestand GOTT seine unverschämte Schuld gegenüber Hiob je ein? Mitnichten! Er ging gar nicht auf dessen berechtigten Klagen ein, sondern fuhr ihn stattdessen mit protzigen Reden seiner kosmischen Leistungen über den Mund. Es mag von dieser Ausgangslage her kaum noch zu vermitteln sein, dass aus diesem unbegreifbaren und damit unangreifbaren GOTT, von dem man sich einerseits kein Bildnis machen darf, der sich aber andererseits selber in den von ihn angeblich inspirierten Heiligen Schriften in schlichter Mannesgestalt zeigt: eine ganze Nacht herumprügelnd mit Jakob, dem Betrüger, dem er zwar sein Hüftgelenk ausrenkte, ihn aber nicht einmal bezwingen konnte. JAHWE also in Gestalt eines Mannes, der seinen Namen nicht verraten wollte, sagte zu Jakob:

»Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Dieser entgegnete: Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich! Darauf der Unbekannte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit GOTT und Menschen hast du gestritten und dabei den Sieg erfochten.« Jakob hat also GOTT nicht nur von Angesicht zu Angesicht gesehen, sondern ihn sogar in den Schwitzkasten genommen. Bei aller Ehrfurcht vor Mythen, was sollen wir von einem solchen hier vorgesetzten Gottesbild halten? (Freilich, Theologen und sonstige Geisteswissenschaftler haben immer schon auf alles eine Antwort gefunden. Ihr Preis? Das Gelächter der Vorläufigkeit.)

GOTT sandte Äonen später ganz menschlich seinen Sohn Jesus unter die Menschen, um sie, die Sterblichen, aus dieser hoffnungslosen Lage zu erlösen. Sein Schicksal ist uns einigermaßen vertraut. Helmut Gollwitzer (1908-1993) urteilte: »Das Leiden Jesu ist das ungerechteste Leiden der Welt.« Da fragt man sich schon, wenn man die Bibel ernst nehmen will, wie denn die Leiden Hiobs einzustufen sind? Musste der Wanderprediger Jesus nur ein Tausendstel jener Qualen erleiden, die Hiob zugemutet wurden? Ach ja, Jesus, dessen Geburtstag in unserem Kulturkreis selbst noch die Atheisten mitfeiern, war immerhin so freundlich, seinem Jünger Judas zu sagen, es wäre für ihn besser gewesen, nicht geboren worden zu sein. Als der »Gesalbte« dann von den Römern als »König der Juden« aufs Kreuz gelegt wurde, rief er sterbend: »Eli, Eli, warum hast du mich verlassen?« Hiob, der einst selber den Tag seiner Geburt verwunschen hatte, war hingegen mit der Mehrung seines Besitzes um das Doppelte und einem gesegneten Lebensabend entschädigt worden. Er »lebte danach noch hundertvierzig Jahre; er sah seine Kinder und Kindeskinder, vier Geschlechter. Dann starb Hiob, hochbetagt und satt an Lebenstagen.«

Ende gut, alles gut? Nein, er ist tot, doch Jesus, der Wiederauferstandene, lebt. Er thront bekanntlich zur Rechten seines Vaters. Was macht er eigentlich dort so lange in seiner Unendlichkeit? Macht Unsterblichkeit träge? Erwarteten nicht die Evangelisten, die ihm zum Christus kürten, die baldige Wiederkehr ihres Meisters? Wir warten (viele, wenige, alle?) 2000 Jahre darauf noch immer auf ihn und die Einlösung seiner Versprechen:

»Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern ist vom Tode zum Leben hindurchgegangen.«

Nur wenige Sätze danach lässt der unbekannte Theologe unter dem Pseudonym »Johannes« seinen Jesus erklären, dass der von seinem göttlichen Vater die Vollmacht erhielt, Gericht über uns zu halten, bis die Stunde käme, »in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.«

Was nun? Sind wir nicht alle Sünder, ob gläubig oder nicht? Wenn Jesus der Einzige ohne Sünde auf Erden war, was landauf, landab behauptet wird, dann bewiese das lediglich, dass er unter Menschen dennoch kein Mensch gewesen sein konnte. Zu dem würde auch passen, dass wohl noch nie ein Mensch weltweit eine solche Wertschätzung und einen solch hohen Bekanntheitsgrad erreicht haben dürfte wie dieser Jude Jesus aus Nazareth, von dem man privat fast nichts Gewisses weiß, der eigentlich nur kurze Zeit öffentlich auftrat, fern von damaligen kulturellen und politischen Zentren. Er hinterließ nichts Schriftliches, sprach in Gleichnissen, von denen er wusste, dass sie zum Teil gar nicht verstanden werden konnten, so dass es schon erstaunlich ist, wie er, der gekreuzigte »Verbrecher«, die Nachfolge allein schon seiner Jünger erreichte und daraufhin zum Christus und Begründer des Christentums werden konnte. Ist das rational auflösbar?

Und was war mit der Gnade, von der Martin Luther (1483-1546) so viel zu hoffen wagte? Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) geißelte wohl zu Recht die von Luther unmöglich gemeinte »billige Gnade«, die nun in den Kirchen als »Schleuderware« verramscht werde, zu einer Zeit, in der ihr schon im Würgegriff der Nationalsozialisten die Luft ausging. Der Historiker und Katholik Michael Hesemann wies nach, dass Hitler die »verjudete Kirche« nicht nur hasste; er wusste auch, was ihr wirklich den Garaus machen konnte, deshalb verfolgte er eine systematische Deprogrammierung der Deutschen. Nie wurde vorher die Entchristlichung einer Nation fanatischer betrieben als in den beiden sozialistischen Diktaturen: »mit eigenen Sakramenten, Orden, Riten, einem komplexen Credo und immer neuen Gottesdiensten«. Hitlers erste Rede nach der Machtergreifung feierte schon das »neue deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen!« Was war schon eine Messe im Kölner Dom gegen Speers Lichtdome? Im Bund Deutscher Mädel lernte man ein neues Vaterunser auswendig: »Adolf Hitler, Dein Reich macht die Feinde erzittern, Dein Drittes Reich komme, Dein Wille sei allein Gesetz auf Erden...« Hitlers Projekt war eine absonderlich dämonische Gegenkirche. Der Kulturbruch der Nationalsozialisten, fortgeführt durch die Kommunisten, war eine rabenschwarze und eiskalt berechnete Satansmesse, dem in nur 12 Jahren Millionen von Juden und Christen zum Opfer fielen.

Die religiöse Entwurzelung unter der Herrschaft der Kommunisten war noch raffinierter, effizienter und kam nur in der »DDR fast ohne Leichen aus, brachte jedoch den Märtyrer Oskar Brüsewitz (1929-1976) hervor. Für die SED-Führung war das Flammen-Zeichen der Selbstverbrennung des Pfarrers die »schlimmste Provokation« seit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. Was die Jakobiner in der Neuzeit grausam begannen, was Karl Marx, der gar den »Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel« erklären lassen wollte und die »Bismarckschen Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der Religion überhaupt zu übertrumpfen« suchte, in seinem Hass gegen die Religion geistig untermauerte, versuchte Hitler mit vielen Helfershelfern praktisch umzusetzen: »Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. Die Tafeln vom Sinai haben ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung...«

Das, was jedoch am meisten verwundern müsste, ist die von der Soziologie vernachlässigte Tatsache, dass der Siegeszug dieser grauenvollen Überzeugung erst nach 1968 so richtig in Schwung kam, nachdem eine radikale Minderheit von Studenten mit den Transparenten ihrer Idole durch die Straßen liefen: Marx, Engels, Lenin, Trotzkij, Mao, Ho Chi Minh, Castro und »El Commandante Che Guevara«; aber selbst Stalin galt den Maoisten und manchen Kommunisten noch als ein Klassiker. Der auch im Westen geschätzte Dichter Stephan Hermlin (1915-1997) schrieb ein Geburtstags-Poem auf den neuen stählernen Messias, der damals von vielen Intellektuellen rund um den Erdball als solcher empfunden und gefeiert wurde. Als er zur Welt kam, »änderte sich unmerklich die Architektur der Nacht«. Der neue Heiland »organisierte die Berge / Und ordnete die Küsten«, konnte sogar als »Kommissar der Nationalitäten« geschehenes Leid zurücknehmen: »…die abgehauenen Köpfe von Kuala Lumpur / Die gepfählten Körperstrünke von Vietnam, / Aus den Kellern von Belgrad die Schreie… / Zurückgenommen auch die Wunde meines Landes«.

Erika Riemann, um nur ein Beispiel zu erwähnen, durfte gnadenlos acht Jahre ihrer Jugend hinter Gittern verbringen, nur weil sie als Vierzehnjährige ein Stalin-Bild mit ihrem Lippenstift verziert hatte. Die Linksintellektuellen brachten für diese Opfer, die es dann oft in den Westen spülte, genauso wenig Verständnis auf wie die jeweils Regierenden. Noch schwieriger war der innere Widerstand, den die Widerstandskämpfer der zweiten deutschen Diktatur im frei sich nennenden Westen zu verkraften hatten. Immerhin, am 17. Juni 1990 gedachten Volkskammer und Bundestag im Berliner Schauspielhaus erstmals in einer gemeinsamen Feierstunde der Ereignisse des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Es war zugleich ein Abschied, denn Wochen später wurde der Feiertag abgeschafft. Als Festredner trat der ehemalige Kirchenfunktionär und heutige Bundesverkehrsminister, der Stasi-Spitzel »IM Sekretär« alias Manfred Stolpe auf. Streikführer, die danach oft lange Haftzeiten verbüßen mussten, hatte dort nichts zu melden. Die Stasi-Spitzel und Funktionäre des totalitären SED-Regimes bekamen zum Teil Hunderttausende Euro Rentennachzahlungen, und das gegen den Willen der letzten und einzigen frei gewählten Volkskammerabgeordneten, während eine kleine Pension an die Opfer vom Bundestag mehrheitlich abgelehnt wurde.

Das alles ist symptomatisch für die ethisch-moralische und geistig-ideologische Verfassung, besser: Verkommenheit unseres Gemeinwesens, deren Zusammenhalt sich in den Jahren des Wohlstandes fast nur noch durch Konsum, Spaß, Sport, Steigerungen des Bruttosozialproduktes und großzügige Sozialleistungen definieren ließ, nachdem jegliches nationale oder traditionell christliche Bewusstsein und zunehmend sogar die familiäre Bande systematisch zerstört wurden. Immer mehr Politiker aller Parteien drängten zur Anerkennung der kommunistischen »DDR«-Führung. Die Werte der pluralistischen Freiheit verloren in dem Maße an Wert, indem man sie als Selbstverständlichkeit genoss und damit gefährdete. Die sich unaufhaltsam verschärfende Krise wird spannend. Sie kann sowohl zu einer erneuten Katastrophe führen, aber auch zu Neubesinnung und Umkehr, denn nicht zu Unrecht bedeutet das Wort Krise im Chinesischen gleichzeitig auch Chance.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und Zustand lässt sich, selbst wenn man politisch genau auf der anderen Seite stünde, mit dem jüdischen Publizisten Henryk M. Broder (geb. 1946) einig werden: »Das Problem mit der deutschen Wirklichkeit ist, dass sie inzwischen eine satirische Qualität erreicht hat, die man nicht toppen kann. Kein Mensch hat die Phantasie, sich die Geschichten auszudenken, die wirklich passieren.« Selbst Beamte, die ihr regelmäßiges Ein-kommen haben und kaum die Nöte der Freiberufler und Arbeitslosen nachvollziehen wollen, werden zugeben, dass dieser »komischen« Zeit ein furchtbares Jahrhundert voranging. Und ausgerechnet in diesem 20. Jahrhundert der geistigen Verwirrungen und bisher größten Massenmorde wünschten sich moderne Theologen sogar die Hölle leer, was Situationen hervorruft, die es Leuten wie mir gar nicht wünschenswert erscheinen lassen, in das Him-melreich zu kommen. Oder möchten Sie - um Himmels Willen! - in der Ewigkeit solchen Typen wie Hitler oder Stalin begegnen?

Von theologischer Klarheit, ganz zu schweigen von politischer, kann wohl keine Rede sein, zumal es schon nicht einfach ist, an den einen GOTT zu glauben, der sich nicht nur auf-splittert in Vater, Sohn und Heiligen Geist, sondern sich unter allen drei Aspekten in widersprüchlichsten Facetten darstellt oder darstellen lässt. So ist und bleibt uns wohl das anstrengende Problem, Glauben und Vernunft unter einem Schädeldach in Balance zu halten. Doch solche Herausforderungen, wenn man sie denn annimmt, können durchaus zu geistigem und geistlichem Wachstum beitragen, doch ebenso, so lebensgefährlich und ambivalent ist das Leben eben, zu noch größerer Verwirrung mit unvorhersehbaren Folgen.

Theologen, Philosophen und Wissenschaftler aller Sparten haben bisher noch nichts ausgelassen, die Wahrheit, das Richtige oder Evidente desgleichen von den Zugängen der Unwahrheit, Falschheit oder dem Latenten her zu erforschen, den Teufel also vom Schwanz her aufzuzäumen. Jedes vorläufige Interpretationsergebnis fand unzählige Umsetzer, die all das, was zugleich immer mehr geglaubt als verstanden wurde, ins praktische Leben, in abstruse Handlungen oder Haltungen transferierten. Die Bibel des Irdischen, das Guiness-Buch der Rekorde, zeigt davon nur einen winzigen Ausschnitt.

Kein Ansatz kann also falsch genug sein, um nicht zu einer Erkenntnis zu gelangen; keine Sünde zu groß, um nicht am Ende ein Paulus oder Augustinus werden zu können. Ohne Opfer, die auf der Strecke bleiben, ist kein Fortschritt möglich, selbst wenn man mit einem Tuch vor dem Mund und einem Besen jeden Schritt vor sich bereinigen möchte, um ja kein Geschöpf GOTTES unbeabsichtigt zu verschlucken oder zu zertreten. Selbst Vegetarier vernichten Leben, indem sie Pflanzen essen. Zu Ende gedachte Konsequenzen können zu dem nihilistischen Ergebnis führen, dass es das Beste sei, überhaupt nicht geboren worden zu sein, nur um an nichts schuldig werden zu müssen. Die Sehnsucht nach einem Wesen, das all diese Mängel nicht besitzt und in keiner dieser Fallen sitzt, kann sowohl zum Wahnsinn als auch zu einer gesunden Demut führen.

Dabei hatte sich über Jahrhunderte hinweg ein Gottesbegriff herauskristallisiert, der den »lieben GOTT«, der im Urtext unter dem Namen »El Schaddaj« geführt wurde, nun zum allmächtigen, gütigen und allwissenden Übervater stilisierte. El Schaddaj kann jedoch nach Meinung der Experten nur in Richtung Gewaltausüber oder Erhabener übersetzt werden. Die hellenistische Vorstellung einer Gottheit des reinen absoluten Seins ohne Entwicklung und Werdegang stimmt keinesfalls mit dem überein, was wir in der Bibel über GOTT selber nachlesen können. GOTT offenbart sich als ein GOTT, und hier kann ich nur dem jüdischen Philosophen Hans Jonas (1903-1993) zustimmen, der in und mit der Zeit seine Schöpfungen aus dem Nichts vollbrachte, »anstatt ein vollständiges Sein zu besitzen, das mit sich identisch bleibt durch die Ewigkeit«. GOTT kann nicht jenseits unserer Weltwirklichkeit und Zeitlichkeit existieren, wenn er sich um seine Geschöpfe sorgt und in höchster Sorge sogar seinen eingeborenen Sohn auf die Erde sandte. Dadurch ist er »verwickelt in das, worum er sich sorgt«. Es liegt also nahe, dass GOTT alles ist, nur nicht allmächtig, denn Güte und Allmacht schließen einander aus, zumal die Allmacht, wie Jonas in seiner Rede »Der Gottesbegriff nach Auschwitz«, die er im Juli 1984 beim Katholikentag in München hielt, sinnvoll schlussfolgerte, »ein sich selbst widersprechender, selbstaufhebender, ja sinnloser Begriff ist«. So unsinnig absolute Freiheit ist, die ohne notwendige Begrenzung ins Leere läuft, so hebt sich totale Macht ebenfalls auf, die nicht den geringsten Widerstand spürt oder duldet: »Absolute Macht hat dann in ihrer Einsamkeit keinen Gegenstand, auf den sie wirken könnte.« (Hans Jonas)

Würde man GOTTES Güte, also seine angeblich unendliche Liebe ähnlich anspruchsvoll betrachten, käme man zu einem verwandten Ergebnis, denn All-Liebe passt nur zur Wunschwelt eines Tyrannen. Liebe gibt es nicht pur; sie hat immer die Einfärbungen des Tragischen, um nur einen symbolischen und den Hass einschließenden Aspekt anzuführen, und erfährt von daher ihre Bestätigung. Die Allwissenheit gehört zwar zum Begehren jedes Despoten, doch das Misstrauen, das diese Alleinherrscher plagt, lässt den unüberbrückbaren Abstand zu diesem Ideal erahnen, obwohl sie Unsummen in ihre Geheimdienste investieren. Göttliches Allwissen hingegen darf neidlos vermutet werden. Das macht GOTT jedoch zu einer leidenden und tragischen »Figur«, denn alles zu wissen, alles zu sehen und zu hören, aber nicht alles abwenden oder bewirken zu können, lässt Ohnmacht ebenso zu wie die Möglichkeit, nicht alles beachten zu wollen. Nur die göttliche Selbstbeschränkung ermöglicht den Spiel-Raum der Autonomie, ja der Existenz unserer Welt inklusive ihrer Zufälligkeiten überhaupt.

Im Mai 1942 schrieb Dietrich Bonhoeffer an eine seiner Schwestern den mir sympathischen Satz: »Es ist gut, früh genug zu lernen, dass Leiden und Gott kein Gegensatz sind, sondern eher eine notwendige Einheit; für mich ist die Idee, dass Gott selber leidet, immer das weit überzeugendste Stück christlicher Lehre gewesen.« Eigentlich ist diese Schwäche die Stärke gegenüber Religionen, deren Glaubensstifter wie Mohammed kriegerisch veranlagt waren. Und noch etwas wird deutlich, was von Bonhoeffer zu lernen ist, nämlich der Unterschied zum Religiösen. Es kann ja durchaus sein, wie Hirnforscher gegenwärtig behaupten, dass wir in den Temporallappen hinter den Ohren ein religiöses Areal, gewissermaßen ein »Gottes-Modul« haben, dass es also eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen gibt und somit das religiöse Denken im Gehirn der Menschen genetisch gar vorprogrammiert ist. Ebenso denkbar ist es, dass diese nicht wegzuleugnenden religiösen Bedürfnisse selbst die funktionalistische Ansicht des Soziologen Luckmann bestätigen können, nach der manche auch beim Autowaschen oder beim Fußballspiel transzendental erregt werden, was ich jedoch für mich ausschließen kann. Bedeutsam bleibt doch die Frage: Was macht uns Menschen zu Christen? Ein bekennender Christ wie Bonhoeffer, für den Jesus als Transzendenzerfahrung in Betracht kam, erfährt im Gegensatz zum nur religiös empfindenden Menschen »die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden (…) er muss ›weltlich‹ leben und nimmt eben darin an dem Leiden Gottes teil. Er darf ›weltlich‹ leben, d.h. er ist befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen.«

Dass GOTT uns gewissermaßen, also einer Masse unterschiedlicher, untereinander zerstrittener und miteinander konkurrierender Individuen, als Stellvertreter in der Rolle seines Ebenbildes auf der winzigen Erde am Rande des Universums menschenmögliche Freiheiten und Spontaneität zukommen ließ, könnte beweisen, dass GOTT auf einen Teil seiner ›absoluten‹ Macht verzichtet haben muss. Unbeschränkte Freiheit scheint paradoxerweise berechenbarer zu sein als beschränkte, weil totalitäre Macht total korrumpiert. Deshalb ist totalitäre Macht auf Verschleierung, auf Mystifizierung angewiesen, da sie dem teuflischen Zweck dient, die furchtbaren und unbegrenzten Reiche des Utopischen gegen die Realitäten im Sinne einer dem Menschen vorgegebenen Faktizität auszutauschen. Das natürlich Vor-gegebene soll verschwinden zugunsten des Ausgedachten. Sehen sich Menschen einer solchen Scheinrealität aussichtslos ausgesetzt, in der es keinen Platz ihrer Entfaltung mehr gibt, weigern sich viele, noch ihren angeborenen Sinnen zu trauen und werden apathisch.

Menschliche Götter wollen stets Marionettentheater errichten. Derjenige, der da nicht mitspielen will, wird erst korrumpiert, dann erpresst oder in Lager gesperrt, wo er, ganz abgesehen von den finalen Vernichtungsorgien, schon so behandelt wird, als wäre er nicht mehr existent. In solcher Lage entdeckt man oft eine Alternative: GOTT. In der Not tröstet allein die Einsicht, dass GOTT ein so böser Diktator nicht sein kann, selbst wenn er um unserer Freiheit willen nicht unmittelbar in jedes böse Geschehen eingreift, nicht eingreifen kann, weil seine Allmacht zugunsten unserer Freiheit, denkt frei- und wehmütig der Gefangene, eingeschränkt sein muss. So sehr diese Erkenntnis desgleichen schmerzen mag, sie befreit von jedem Wunder-, also Aberglauben, zu mal »es leichter ist, das Leben als Strafe zu sehen, denn als ganz und gar sinnlos« (Susan Neiman).

Die grenzenlose Steigerung von Macht zur Allmacht scheint also nicht nur auf unserer Erde nicht zu funktionieren. Selbst in der einst einzigen und größten DDR der Welt, wo die Einheitspartei als »Hauptverwaltung ›Ewige Wahrheiten‹«, wie der Edelmarxist Robert Havemann spottete, zusammen mit ihrem »Schild und Schwert«, also der Stasi, über die Reinheit der »einzigen wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus« wachte, kam es zu einem unlösbaren Dilemma. Den neuen Menschen in der sozialistischen Menschengemeinschaft sollten drei Merkmale auszeichnen: Parteilichkeit, Ehrlichkeit und Intelligenz. Doch es passten immer nur zwei Eigenschaften zusammen. War man parteilich und ehrlich, fehlte es an Intelligenz; hatte man diese und war dazu parteilich, konnte man nicht ehrlich sein; war man jedoch ehrlich und intelligent, konnte man unmöglich für dieses System Partei ergreifen.

Die Vorlage dieser Argumentation ist uralt. Sie stammt von dem griechischen Philosophen Epikur (341-271 v. Chr.), dessen Argumente bis heute wirken und zu einem »Fels des Atheismus« (Georg Büchner) versteinert sind. Der Cicero-Anhänger Lactantius (ca. 250-320), der die christliche Heilslehre in die römische Gedankenwelt transferieren half, fasste Epikurs Argumentation treffend zusammen:

»GOTT will entweder das Übel und Leiden abschaffen, aber er kann es nicht – dann ist er ohnmächtig und nicht göttlich; oder: er kann es und will es aber nicht – dann ist er böse und im Grunde teuflisch; oder: er will es und kann es – woher kommt dann das Böse und warum macht er ihm kein Ende?«

Hier wollen ebenso drei Aussagen nicht zusammenpassen:

1. GOTT ist allmächtig.
2. GOTT ist der Liebende.
3. Das Übel existiert in der Welt.

Welche Aussage ließe sich verwerfen? Dieses Problem macht die Grundlage aller theologischen Fragen aus, auch wenn es die Theologen gern abstreiten und so tun, als gäbe es Wichtigeres. Oder ist Hiob die Frage und Jesus die Antwort? Mit keinem rhetorischen Trick lässt sich die Frage überzeugend beantworten: Wie kann ein liebender GOTT das katastrophale Leid und Elend in der Welt zulassen?

Erst durch den deutschen Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646.1716) bekam der zig-tausendste Versuch, GOTT gegenüber seiner Infragestellung in Schutz zu nehmen, einen bis heute gültigen Namen: Theodizee. Der Name wurde zum Begriff des Versuches, den Glauben an die Gerechtigkeit, Weisheit und Güte GOTTES mit dem real existierenden Bösen in Einklang zu bringen.

GOTT handelt, so Leibniz, nach dem »Prinzip des zureichenden Grundes«; er nahm sich die Freiheit, die bestmögliche aller Welten zu schaffen, so dass die physischen und moralischen Übel zur Mitfolge gehören. Wir kennen das nur allzu gut unter dem Apotheker-Stichwort »Nebenwirkungen«. Leibniz bestritt, dass eine vorstellbare Welt ohne Sünden und Leiden besser sein könne als diejenige, die der Schöpfer als beste ausgewählt habe. Immerhin, die gütige Denkmöglichkeit des lebenslustigen Barockmenschen löste endlose Kontroversen aus. Sein Theodizee-Essay wurde zum »Grundbuch der deutschen Aufklärung«, und das 18. Jahrhundert soll nach Carl-Friedrich Geyer (geb. 1949) das »Jahrhundert der Theodizee« gewesen sein.

Der skeptische Denker Pierre Bayle (1647-1706), der schon scharf den Glauben von der Vernunft abgrenzte, versuchte gar nicht erst, das Böse mit der Liebe GOTTES vereinen zu wollen, denn es sei besser, das Böse lieber Satan als GOTT zuzuweisen. Doch so gelangte er wieder zu einer Variante des altpersischen Manichäismus, einer Lehre, die aus dem babylonischen Gnostizismus kommend und später mit christlichen Elementen gespickt, den gleichstarken Kampf zweier Prinzipien predigte, eines guten und eines bösen, so dass Satan faktisch GOTT als ebenbürtig gegenüber gestellt wurde.

Der moderne Dualismus, der vor allem unser moralisches und politisches Denken prägt, hat von altersher viele Väter und scheint die Rahmenbedingungen unserer conditio humana auszumachen oder ausmachen zu wollen. Ebenfalls bei scheinbarer Offensichtlichkeit sollte ein Skeptiker nicht seine Skepsis aufgeben, denn die Kluft zwischen Sein und Sollen, zwischen Glauben und Vernunft und zwischen vielen anderen wesentlichen Gegensätzen lässt sich in jeder Epoche immer nur vorübergehend schließen, begründen oder mit Anstrengung auseinander halten. Wer solches begründet, hat desgleichen immer die wechselvolle Geschichte mit ihren unzählbaren Geschichten im Blick und eröffnet sich Spielräume zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen Freiheit und Befangenheit.

In Georg Büchners (1813-1837) Drama »Dantons Tod« heißt es: »Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt Ihr Gott demonstrieren ... Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz ... Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.« Selbst diesem Riss lässt sich mit dem großen Denker des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger (1889-1976), noch etwas abgewinnen, denn die Besinnung in der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität »steht auf der Seite der Zerrissenheit – nämlich des Bewusstseins. Dieses Zerrissene ist durch seinen Riss offen für den Einlass des Absoluten. Für das Denken gilt: Die Zerrissenheit hält den Weg offen in das Metaphysische.« Fast klingt es, als wolle der abgefallene Theologe Joachim Kahl (geb. 1941) hierzu etwas ergänzen: »Die hier vorausgesetzte Metaphysik ist eine Metaphysik ohne Goldgrund, eine nicht-religiöse, philosophische Theorie des Weltganzen. Erklärter- und unvermeidlicherweise verlässt sie den Bereich des empirisch Gegebenen, ohne freilich den Boden der Rationalität zu verlassen. Sie entschwindet nicht in eine ›höhere Welt‹, sondern denkt, was nicht sinnlich fassbar, aber denknotwendig ist: die Welt als Gesamtzusammenhang, als Verschränkung von Teil und Ganzem, von Relativem und Absolutem.«

Doch was nützt alle Metaphysik in und alle Kritik an ihr dem, der nicht den Verheißungen glauben kann, die uns der Evangelist Johannes aufzählt? GOTT soll uns angeblich jede Träne von den Augen wischen, »und es wird keinen Tod mehr geben, auch keine Trauer, keinen Klageschrei, keine Mühsal wird es mehr geben, denn das Frühere ist vorbei.« (Off 21,4). Vorbei, vergessen, vorüber? Feuchtfröhlich nach dem Motto: In fünfzig Jahren ist alles vorbei?

Selbst wenn es so käme, so fragt sich der frei Denkende, wer stillt die Tränen derer, die bei der Flutwelle mit ansehen musste, wie die eigenen Kinder in den Tod gerissen wurden? Der Schmerz, der mir jetzt das Leben unerträglich machen will, ist der je wieder ungeschehen zu machen? Bei kleineren Wehwehchen darf man freilich auf die nachfolgende Freude spekulieren, wenn der Schmerz nachlässt. Aber es gibt Schmerzen, die nicht nachlassen und zu einer grausamen Entfremdung von einem gesunden Leben oder gar zu seinem Ende führen. Erlebte und erlittene Zeit kann auch die Allmacht GOTTES nicht zurückspulen, das Geschehene also nicht mehr ungeschehen machen, oder? Entschädigung für erlittenes Unrecht oder Unglück kann nur lindernd sein, aber eine »echte« Wiedergutmachung, sozusagen eine Sys-temwiederherstellung wie am Computer durch das Zurückschalten auf einen früheren Zeit-punkt, kann es im richtigen Leben nicht geben. Wenn GOTT nach unserem Tod zaubern kann, indem er danach Gerechtigkeit und Leidlosigkeit und weiß der Teufel, was noch alles schaffen kann, dann drängt sich schon die Frage auf, warum er Erdbeben-, Kriegs-, Folter-, Mord-, Krankheits-, oder Verkehrs-Opfer nicht zuvor verhüten kann. Was nützt also die fadenscheinige in Aussicht gestellte Kompensation im Jenseits? Wäre das Leben noch grausamer ohne diese Wunschvorstellungen nach Erlösung? »Aber die Feiglinge und die Treulosen, die Gemeinen und die Mörder, die Unzüchtigen und die Zauberer, die Götzendiener und die Lügner, alle haben ihren Anteil in dem Pfuhl, der von Feuer und Schwefel brennt…« (Off 21,8) Wie oft muss man aber feige gewesen sein oder gelogen haben, um gnadenlos den feurigen Aussichten ausgesetzt zu sein? O GOTT, dem ist mit Logik ebenso wenig beizukommen wie dir!

Als 1755 mit Lissabon eine der reichsten Städte der Welt durch ein Erdbeben und eine damit ausgelöste Feuerbrunst zerstört wurde, wobei etwa 15.000 Tote zu beklagen waren, ent-brannten philosophische und theologische Debatten in ganz Europa, an die heute angesichts der Flutkatastrophe in Südasien wieder angeknüpft wurde. Freilich, die Stimmen, die solche Erdbeben als Zeichen GOTTES und der Endzeit sehen, bleiben heute auf Sekten beschränkt und bestimmen nicht mehr die öffentliche Debatte. Seit dem Beben in Lissabon versuchen tapfere Denker die Verantwortung einer entzauberten Welt auf sich zu nehmen.

Doch nach den von unserer Gattung selbstverschuldeten Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die von den Giftgaseinsätzen im 1. Weltkrieg bis zu den Atombombenabwürfen am Ende des 2. Weltkrieges reichen und sich über die systematischen Menschenmassenvernichtungen unter Lenin, Stalin, Hitler, Mao Tse-tung und Pol Pot erstreckten und sich, wenn auch in unscheinbarerem Maße, weiter ereignen, obwohl sich heute lediglich alles auf Auschwitz verkürzen will oder soll und damit nur wieder neue Konfliktherde schwelen lässt, hat das Leid als Ausfluss des Bösen, das zumeist unter der Maske des Guten daherkommt, Dimensionen erreicht, die eigentlich jede Hoffnung auf die Existenz eines liebenden, allwissenden und allmächtigen GOTTES oder daneben jeglichen Glauben an die umsetzbare Möglichkeit von Brüderlichkeit unter uns Menschen fahren lassen müsste.

Ein Bekenntnis zum Leben, zur Entwicklung unseres Wesenskerns, zum Glauben an die Erlösung und Errettung wenigstens unserer Seelen angesichts der angedeuteten Absurditäten und den Zumutungen durch ideologisch vernagelte Politiker und laue Heilsverkünder leer gewordener Kirchen verlangt regelrecht das Überschreiten von Vernunftsgrenzen ins Transzendente,schreit nach Religion, um unsere todbringende Rationalität über-bieten zu können, anstatt sie nur zu unterfüttern. Bonhoeffers »Nachfolge« wäre zu diskutieren, noch besser: einiges davon zu beherzigen. Im Gestapo-Gefängnis erkannte er 1944; »Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen, die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein… Unserem ganzen bisherigen ›Christentum‹ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch einige letzte ›Ritter‹ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir ›religiös‹ landen können… Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden? Gibt es religionslose Christen?«

Es dürfte spannend sein zu diskutieren, ob diese Fragen in jene Richtung zielen, die der Soziologe Thomas Luckmann (geb. 1927) in seinem Essay »Die unsichtbare Religion« aufwarf, wo er sich gegen die weit verbreitete Vorstellung wandte, dass die Religion im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung allmählich aus der Gesellschaft entferne. »Vielmehr handle es sich«, so Christoph Bochinger, »um einen Verlagerungsprozess. Religion verlagere sich aus ihrem traditionellen, kirchlich-institutionellen Rahmen in Bereiche der Gesellschaft, die traditionell nichts mit Religion zu tun haben. Sie werde in diesem soziologischen Sinne ›unsichtbar‹, dass sie nicht mehr in der überkommenen, institutionalisierten Form verortet werden kann. Die Kirchen bleiben sonntags leer, aber Religion findet trotzdem statt, vielleicht auf dem Fußballplatz oder im Theater, vielleicht beim samstäglichen Autowaschen oder bei der Bergtour im Sommerurlaub. Dem liegt ein sehr weiter, funktionalistischer Religionsbegriff zugrunde. Religion hat bei Luckmann die Funktion der Bewältigung von Transzendenzerlebnissen.«

Das alles könnte, so dürften Kritiker argumentieren, auch eine Entkernung des Religionsbegriffs verdecken wollen, die mit einer Verramschung des Prädikats »Religion« einhergeht. Eine solche Instrumentalisierung von Religion wird ja vor allem von Theologen selber betrieben, freilich durch Unterstützung namhafter Religionssoziologen, die mit einem funktionalen Religionsbegriff hantieren, der mittlerweile so unscharf geworden ist, dass man nun-mehr in allen Sparten der Unterhaltung, der Werbung und des Sports Religiöses anzutreffen vermeint. Solche funktionalen Religionsbestimmungen, deren inhaltlicher Bezug gegen Null tendiert, könnten am Ende praktische Religion lächerlich und somit unmöglich machen.

Aufgeklärte Religionsphilosophen sehen in der Religion nur noch eine Kinderneurose der Menschheit, also eine allgemein menschliche Zwangsneurose, die wie die Zwangsneurosen der Kinder aus der Vaterbeziehung, mithin aus Sigmund Freuds (1856-1938) berühmten »Ödipuskomplex« stammten. So wie man Kindern gegenüber die symbolische Verschleierung der Wahrheit unterlassen sollte und ihnen die Kenntnis der realen Verhältnisse in Anpassung an seine intellektuelle Stufe nicht versagen sollte, so wäre auch bei der religiösen Aufklärung zu verfahren. Die affektive Kulturgrundlage sei mittels irreligiöser Erziehung durch eine rationelle zu ersetzen.

Als gebranntes Kind einer kommunistischen Erziehungsdiktatur vermute ich nicht nur affektiv, dass die aufgeklärte Welt in der Gegenwart nicht besser wird, sondern gefahrvoller. Umso bereitwilliger bietet sie Fluchtwege in utopische Hoffnungen an, obwohl das Ende der rostigen Fahnenstange von Ernst Blochs Utopie längst erreicht wurde. Doch die Hoffnung auf ein Paradies auf Erden oder eine wohlgeordnete, übersichtliche Welt nach einem erneuten Führerprinzip macht noch keine Religion aus, taugt nicht einmal als Ersatzreligion. Eine solche Einsicht nötigte selbst die Ikonen linker Fortschrittsintellektueller, Theodor W. Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973), in ihrer »Dialektik der Aufklärung« zu dem apodiktischen Satz: »Aufklärung ist totalitär.« Einsichtsvoll erkannten sie, dass die »Paradoxie des Glaubens« zum Mythos des 20. Jahrhunderts entartet und »seine Irrationalität zur rationalen Veranstaltung in der Hand der restlos Aufgeklärten« verkommen sei, »welche die Gesellschaft ohnehin zur Barbarei hinsteuern«. Doch es wachsen immer wieder massenhaft Unbelehrbare heran, denen die zwei Versuche, Sozialismus national oder international zu etablieren, scheinbar noch nicht genug Opfer gefordert haben. Diese Gutmenschen, die bestimmen, was anständig ist, obwohl sie das Gegenteil vorleben, steuern tatsächlich auf eine neue totalitäre Barbarei zu, die sich schon in der zunehmenden Einschränkung von Meinungsfreiheit zeigt, denn sie tun so, als haben sie die Wahrheit zu verwalten. Diese Spießbürger, die schon Max Weber (1864-1920) aufs Korn genommen hatte, haben sich an die Herrschaft gemobbt: »ein Typ, dessen ganzer Ehrgeiz sich auf materielle Ziele konzentriert und auf das Interesse der eigenen Generation beschränkt ist, dem jedenfalls das Bewusstsein ›für das Maß der Verantwortung gegenüber unserer Nachkommenschaft fehlt‹.«

Dabei käme es tatsächlich darauf an, verantwortlich gegenüber dem Ganzen in der Wahrheit, also in der Nähe des undenkbaren GOTTES zu leben. Das immunisiert gegen die Anmaßung, an die Stelle GOTTES selber treten zu können, was nämlich bedeutete, ebenfalls seine »Funktion als Angeklagter der Theodizee« (Odo Marquard) zu übernehmen. Angesichts solcher Überforderung ist es wohl besser, sich des Preises seiner Freiheit bewusst zu werden: »Der Mensch wird gewiss nicht dadurch zum Menschen, dass er Böses tut, aber er ist nur so Mensch, dass er Böses tun kann. Wer einem Menschen diese Fähigkeit nimmt, zerstört dessen Personalität.«

Jeder Versuch, nach allzu menschlichem Maß eine friedliche, harmonische Welt unter Verzicht auf personale Freiheit errichten zu wollen und dabei den Jakobinern aller Zeiten gar noch das Hinrichten der Störenfriede zu überlassen, mündet unweigerlich im Totalitarismus, der bisher noch immer Steigerungsmöglichkeiten offenbarte. Dem Ausmaß, dem sich solche das angeblich Böse beseitigen wollenden Regime nicht nur an Menschenopfern, sondern ferner an Opfern von Natur, Kultur und Lebensqualitäten aussetzten, konnte bisher, abgesehen von der biblischen Sintflut, noch keine Naturkatastrophe im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser reichen.

Emmanuel Lévinas (1905-1995) erklärte in der Auseinandersetzung mit Leibniz zur ersten Frage der Metaphysik: »Warum gibt es das Böse und nicht vielmehr das Gute?« Der Unterschied zwischen Gut und Böse gehe »der ontologischen Differenz voraus. Ja, Differenz selbst ist dieser Unterschied; in ihm entspringt Bedeutung.«

Die eigene »biblische Geschichte« lässt sich nicht im Vorhinein deuten, so­ wenig sich von vornherein ein sinnvolles Leben erschließen oder gar beschließen lässt. Sinn und Bedeutung lassen sich erst ab einer gewissen Reife herausfinden, also erst gegen Ende eines Lebens. Dann lässt sich, sofern der Verstand noch wach ist, begründet hoffen, dass das Leben insgesamt, also über das Jemeinige hinaus, weiterführt. Wohin, zu welchem Ziel? Das allein weiß GOTT. Er muss es wissen, denn Er kennt unsere Leistungen und Sünden von A bis Z, weil Er außerhalb unserer Zeit als Zeichen seiner unbestrittenen Allwissenheit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich überblicken kann. Er weiß von allen und allem zu aller Zeit alles. Aber das nützt ihm wenig. Wir jammern und klagen, wir sündigen und sind anmaßend wie in den Zeiten des Alten Testaments; der Neue Bund oder der Opfertod seines eingeborenen Sohnes hat uns weder klüger und göttlicher noch dankbarer werden lassen. Wir bleiben uns selber genauso ein unlösbares Rätsel wie GOTT uns ein gefährliches Geheimnis bleibt. Demgegenüber steht das Banale, das zwar die Welt nicht erschüttert, aber sie erhält.

Denn gerade dadurch, dass wir vielleicht etwas Unnützes, das »situativ nicht Notwendige« tun, im Caféhaus sitzen, durch die Straßen bummeln oder ineffizient auf Bergen herumkraxeln, Zerstreuung suchen oder in sinnlosen Wettbewerben unsere Leistungsgrenzen testen, dass wir beten oder hymnische Gedichte verfassen, würden wir erst zu Menschen. Wir handeln dann aus einem »Überschuss an Sinnfrage und -erfahrung«, schreibt Karl-Heinz Ohlig (geb. 1938), und folgert: »Religion ist evolutiv überflüssig und zugleich eben dadurch zutiefst human.« Zur Würze unseres Daseins könnte es auch gehören, mit GOTT ins Gericht zu gehen, vor allem wenn es aus tiefster Leiderfahrung geschieht und sich mit Ernst, Ironie und gutem Stil äußert, so wie es sich erhellend in dem Gedicht »Finsternis« von Paul Celan (1920-1970) trotz Anklage, Zorn und Spottlust zu einer geradezu ungeheuerlichen Sehnsucht nach Erlösung verdichtet:

»Tenebrae. // Nah sind wir, Herr, / nahe und greifbar. //Gegriffen schon, Herr, / ineinander verkrallt, als wär / der Leib eines jeden von uns / dein Leib, Herr. // Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah. // Windschief gingen wir hin, / gingen wir hin, uns zu bücken / nach Mulde und Maar. // Zur Tränke gingen wir, Herr. // Es war Blut, es war, / was du vergossen, Herr. // Es glänzte. // Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. / Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr. // Wir haben getrunken, Herr. / Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr. // Bete, Herr. / Wir sind nah.«

 

Quellen:

Gen 6,3

Gen 7,21

Gen 7,23

Gen 8,21

Gen 9,11

Michael Bakunin in: Gott und der Staat.

Susan Neiman in: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 48

Gen 32, 27-29

Mt 26, 24

Hiob 42, 16-17

Joh 5, 24

Joh 5, 28-29

Michael Hesemann in: Hitlers Religion. Das Wahngebäude des Führers. Die fatale Heilslehre des Nationalismus, München 2004

Paul Badde in: Die Welt

MEW, Band 18, S. 532

Erika Riemann in: Die Schleife an Stalins Bart, Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach, 2. Auflage, Hamburg 2002

Das 11. Gebot und der Atem der Geschichte, 12.12.2004, Offizielle Homepage von Henryk M. Broder

Dietrich Bonhoeffer, in: Gesammelte Schriften, Band 6, Hg. E. Bethge, München 1974, S. 557

Ders., in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Hg. E. Bethge, 17. Auflage, Gütersloh 2002, S. 193

Christoph Bochinger in: Bayreuther Beiträge zur Religionsforschung, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion, Heft 5, Dezember 2001

Horkheimer/Adorno in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 2002, S. 12

Ebenda, S. 26

Konrad Adam in: Die Welt, 21.01.05

Wilfried Härle: Dogmatik, 2. überarbeitete Auflage, Berlin / New York 2000, S. 448

Religion in der Geschichte der Menschheit, Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2002, S.20