Liebe,
vor mir liegt eine Karte, sie zeigt eine Statue der Niobe, armlos, mit abgeschlagenem Kopf, in einer stürmischen Drehbewegung; diese Karte datiert vom vierten November 1987. Die Karte ist für mich ein Zeugnis, ein erster Beleg für etwas, das unmittelbar vorhergegangen sein muss, denn sie antwortet – und zwar sofort, wenn ich mich recht entsinne – auf ein Signal, in welcher Form auch immer, von meiner Seite. Ich erinnere mich nicht daran, aber der Wortlaut der Karte deutet ein Gespräch – also wohl ein Telefongespräch – zwischen dem Absender und mir an. In diesem Gespräch scheint das Ionasmotiv von mir bereits erwähnt worden zu sein, jedenfalls bezieht sich der Verfasser darauf. Er schreibt: »... mir geht das Ungesprochene, das Unbesprechbare im Gesprochenen nach: Jonas / Oedipus / Niobe etc., Ausgespieene, um die ›schwarze Löcher‹ sind. Verstehen Sie: Ich fange eben erst an, Ihnen zuzuhören. Ob Sie Geduld haben mit mir (meiner Naivität, Ignoranz, Abwehr)? Wenn ja, ist Ninive vielleicht nur ein Name für die innere Stadt.«
An dieses »Ich fange eben erst an, Ihnen zuzuhören« erinnere ich mich gut, es gehört in die Phase nachlassender Intensität, so wie mir überhaupt das Dokument zu belegen scheint, dass der erste Ansturm vorbei ist und bereits vorbei war, als das Gespräch geführt wurde, das heißt, nach jenen drei Tagen und Nächten (waren es wirklich drei?), in denen das geschah, woran ich mich gegenwärtig stückweise zu erinnern versuche. Ich weiß noch, dass ich gute zwei Wochen damit zubrachte, irgendeine Art Fortsetzung zu erwarten oder zu erstürmen, und dass ich dann, enttäuscht und erschöpft, in einer Art Trotz meine Aufmerksamkeit wieder auf äußere Dinge zu richten begann – sehr zögernd und rückwärts‑ oder einwärtsgewandt.
Ich muss ein wenig erläutern, was vorausging, da es, wie mir scheint, in den Vorgang eingegangen ist und ihn vielleicht sogar ausgelöst hat. Ich war damals entschlossen, ein Buch zu schreiben, in dem ich – ein für alle Mal, wie mir schien – für mich festhalten wollte, was es mit der Lyrik auf sich habe. Nicht etwa mit dem Schreiben von Gedichten: Lyrik ist hohe Lyrik, wenigstens bestimmt sie sich von dort her. Um dieses Buch zu schreiben, hatte ich die Stelle in dieser Stadt angenommen, die ich entsetzlich fand, die aber den Vorteil bot, dass sie ein geistiges Vakuum um mich legte, das mir nur die Wahl ließ, aus eigenen Vorräten zu leben oder zu krepieren.
Wie nimmt man ein Vakuum wahr? Man verdoppelt es, man stellt es her in der Form persönlichen Unglücks, man durchlebt es. Das kostet, neben anderem, Zeit. Eines Tages begreift man und sagt sich: das ist es. Ich weiß noch, dass ich in in jenen Jahren fast völlig unproduktiv war, warum, vermag ich auch heute genausowenig zu sagen wie damals. Ich schrieb, aber nichts stellte sich her. Zu einem Buch, in dem ich mit der Lyrik abzurechnen gedachte, von der ich mir verraten und gefoppt vorkam, schrieb ich ein Exposé, ohne dass es von seiner Fremd- und Abstraktheit das mindeste einbüßte. Nichts stellte sich her, ich hätte weiter so vor mich hindämmern können, hätte nicht der von dem ungeschriebenen Buch ausgehende Druck die Situation langsam aber sicher auf eine Entscheidung zugetrieben. Dieses Buch hatte ich mich zu schreiben verpflichtet, mir selbst gegenüber war ich in der Pflicht, nichts zu schreiben, zu dem ich keine innere Nötigung empfand.
Leben im Vakuum – das scheint mir eine Formel zu sein, die eine Situation umreißt, in der etwas, das ansonsten vielleicht dem Gang der Dinge geopfert worden wäre, weil die Oberfläche, die es versiegelte, sich als undurchdringlich erwiesen hätte, ganz plötzlich zur Oberfläche durchstoßen, selbst eine Oberfläche ausbilden konnte, obwohl es doch, solange es unten gehalten wurde, völlig konturlos geblieben war. Vielleicht lag in der Herausforderung an das, was da ›in der Tiefe‹ lag, durch das Buchprojekt der entscheidende Faktor, denn als es zu sich, als es zu mir kam, da kam es mir vor wie ein Tier, das einen ihm zugefügten Schmerz in rasenden Zorn verwandelt und völlig eins wird mit seinem Gebrüll. Du wirst darüber lächeln, doch auch heute, nach all den seither vergangenen Jahren, sträuben sich mir die Haare, wenn ich daran zurückdenke. Ich fühlte mich ausgeliefert an diesen Zorn, der drei Nächte hindurch anhielt (jedenfalls habe ich es so in Erinnerung) und mich erschöpft, sehr erschöpft und reichlich verwirrt zurückließ. In den dazugehörigen Tagen habe ich natürlich (so ist die Regel) zu schreiben begonnen, aber am Ende standen nur einzelne Worte auf dem Papier, mir kostbare Brocken, die auf merkwürdige Weise in Ionas eingegangen sind.
Es mag lächerlich klingen, aber in diesen befremdlichen Tagen und Nächten entstand diese Figur. Sie war mit einem Mal da, an einer Stelle, an der vorher nichts gewesen war. In der Aufregung, um nicht zu sagen Panik, in der ich mich befand, kam es mir so vor, als seien das brüllende Untier und der Mann Ionas ein und dasselbe. Ionas, das war der Name, den ich inmitten des lautlosen Gebrülls buchstabierte. Warum? Ich weiß es nicht. Es war kein Diktat, es war das Erwachen einer Person, von der ich bis dahin nicht gewusst hatte, dass ich sie in mir trug. Ein Wiedererwachen, denn sie kam ganz fertig auf mich zu und nahm mich ›in Besitz‹. Die Inbesitznahme vollzog sich in der Art, dass ich nach und nach das Problem Ionas begriff – nicht als das Problem einer literarischen Figur, sondern als etwas völlig in der Luft Liegendes, das ich unter einem gewissen inneren Zwang artikulierte, als handle es sich um meines. Wenn ich sage ›artikulierte‹, dann meine ich ›nach und nach‹, denn für meinen wachen (und raschen) Verstand ging das, was da passierte, quälend langsam voran. Wenn überhaupt, dann habe ich durch Ionas das Problem der Übereilung kennengelernt.
Ich habe nicht alles behalten, was ich unter dem Druck des Ereignisses schrieb. Ein Kartenentwurf trägt das Datum des 20. November, er lautet: »Was erfüllt den Mann Jonas so mit Entsetzen, dass er ohne Zögern alles aufgibt, um zu fliehen, d.h. um nur dieses eine nicht aufzugeben, die leere, schon in Brand geratene Hülle des Ich, des Individuums J.? Offenkundig ist es die Stimme –« Hier reißt der Text ab und ich bin mit meiner Erinnerung wieder allein. Die Karte zeigt ein Medaillon iranischer Herkunft. In ihm ist ein geflügelter Hund zu sehen, aus dessen weit geöffneter Schnauze eine Zunge herausschnellt, die entfernt an einen Blitz oder an die in der Entfaltung begriffene Schriftrolle eines Propheten erinnert.
Es handelt sich um einen Entwurf; den vollständigen Text schickte ich an den bereits erwähnten Briefpartner und erhielt von ihm unter dem Datum des 24. November ein Antwortschreiben, in dem es hieß:
»Was den Mann Jona so mit Entsetzen erfüllt, dass er ›ohne Zögern alles aufgibt‹, ist das Entsetzen, das auf Van Goghs Feldern mit blauem Himmel lastet, die Sie mir schickten, das Entsetzen über den Abgrund zwischen Grün und Blau, zwischen Himmel und Erde. Und doch: das Todweiß der Wolken, der Blüten ist fast weiß.
Jona ›wohnt‹ in diesen Farben: Jona muss aufbrechen. Seine Stimme, sie trägt diese Farben, trägt sie nicht. Seine Stimme ist es ja, die ihn ins Meer wirft, ihn aufs Trockene speit, bis er sie hören lässt vor den Leuten in Ninive. Das Unerhörte geschieht: da, wo sie gehört wird, hört Jona sie nicht. Ninive wird zum Namen für das Gehör des Jona. Die Stimme, die seine Stimme ist, ›ist nicht seine Stimme, kann es nicht werden‹. Sie ist an seiner Statt erhört. Jona geht in die Wüste.
Was heißt es dann, ›unter dem Eindruck dieser Stimme neu sprechen lernen?‹ Es kann wohl nur heißen, in der ungeheuren, von außen anprallenden Fremdheit dieser Stimme den fast erstorbenen Ton in sich selbst zu erhören, der einstimmen will – und doch nur klagen, zürnen, Arabesken schlagen kann. Das ist Jonas Fall. Jonas Fall ist ›Der Fall des Dichters‹. Seine Melancholie ›hat den Kompass, doch sie scheut den Weg.‹
Scheut sie ihn? Was zwingt ›zwischen / Aufgrund und Abgrund, zwingt, / gebückt am Boden zu gehen‹, wenn nicht dieser Weg? Der Kompass weist auf ein neues Ninive, weist in die innere Stadt, die Stadt des Gehörs: drei mal drei Tagereisen weit durch die Stimmen der Kindheit: ›Wieder kreisen Stimmen / überm gekrümmten Rücken‹. So ist es.«
Ich räume ein, dass ich weder damals noch heute den Satz über das Todweiß der Wolken verstanden habe. Vielleicht ist das zweite ›weiß‹ nur ein Tippfehler, aber es kam mir nicht in den Sinn, den Briefschreiber danach zu fragen. Ich habe diesen Brief damals gelesen, als läse ich mein Schicksal: beklommenen, halb ungläubigen, halb gepressten Herzens (›woher weiß er das?‹), und in einer nochmaligen Vertauschung der Schreiber-Leser-Perspektive wurde mir das auf den Vers gemünzte ›So ist es‹ zum Siegel der Worte, die dem ›Mann Jona‹ galten und auf eine Weise, über die sich der Schreiber vornehm (oder vorsichtig) ausschweigt, der eigenen Person.
Du kennst dieses So ist es, es wurde zum Grundmotiv des Buches, das dann entstand und in dem ich die Möglichkeit jenes anfänglichen Sprechens erkunden wollte, in das mich der ›Mann Iona‹ versprengt hatte. Es dauerte eine ziemliche Weile, bis ich begriff, dass Ionas nicht nur der Name eines Propheten wider Willen ist, sondern auch ein Name dessen, der keine Berufung ohne weiteres annimmt, weil keine Berufung sich mit der freien Beweglichkeit seines Denkens verträgt. Die alltäglich hintertriebene Berufung, die doch bereits ergangen ist, nicht aus ›freien‹ Stücken, sondern aus einer Gegen‑Not, macht aus ihm einen Intellektuellen. Der ›Mann Jona‹ war vielleicht – in seiner Tradition – der erste Intellektuelle, Ionas wäre zufrieden, der letzte zu sein.
Seit jenem Brief weiß ich, dass Ionas’ Stimme ›erhört‹ wird und der, aus dem sie spricht, unerhört bleibt.
Dein