1

General Pe Ting lag auf dem Sterbebett.

Fac ten Chek betrachtete seine rissigen Hände.

»Der Westen ist etwas, das überwunden werden muss«, dozierte die brüchige Stimme des Generals bar jeder Überzeugungskraft.

Fast machte es sie unwiderlegbar.

– Warum ist etwas und nicht nichts? brütete Fac ten Chek.

Der Westen ist nichts, das überwunden werden sollte.

Sprach so der weise Pe Ting? Nein, so sprach er nicht. Seine Lippen zitterten leicht, für Sprechakte standen sie, wie es schien, nicht mehr zur Verfügung.

So ist das, wenn Denken denkt. Denkt es denn? Denkt Denken? Was, wenn es nicht denkt, sondern … fließt? Dummes Bild. Wohin sollte es fließen? Ins Meer der Worte? Von oben nach unten? Von West nach Ost? Von Ost nach West?

Es gab den Westen, warum? Nun ja, warum nicht? Niemand hat die Absicht, Himmelsrichtungen zu überwinden. Es ergab keinen Sinn. Es gab den Westen, weil es die Länder des Westens gab. Sie gab es, weil Menschen in ihnen lebten, findige Menschen, daneben auch weniger findige. Viele.

Niemand musste sich vor ihnen fürchten, es sei denn, er fürchtete Massen und ihre Wirkungen.

Fac ten Chek hatte länger im Westen gelebt als im Land seiner Väter. Er fürchtete ihn nicht. Es gab ihn, es gab uns.

Fac ten Chek hasste ihn nicht.

Viele Menschen zelebrierten ihren Hass auf den Westen wie eine Religion – die erste globale Religion, die diesen Namen verdiente. Ihre Riten unterschieden sich von Kontinent zu Kontinent. Aber die Brunst war dieselbe und die Parolen passten in einen Abwasch.

Die meisten dieser Gläubigen lebten im Westen.

Sie lebten keineswegs schlecht, Fertigprodukte einer kulturellen Gemengelage, von der sie wenig oder nichts kapierten.

Manche kapierten sie nur zu gut. Der Selbsthass verwandelte sie in tickende Zeitbomben. Sie hassten den Westen, weil sie auf Erlösung aus waren und der herrschende Zug im Westen sie ihnen verweigerte.

 

2

Warum Erlösung?

Der Alte röchelte sanft.

Warum nicht La-la-ka oder A-pa-ti? Erlösung war ein westliches pattern. Ein anderes Wort fiel Fac ten Chek nicht ein. Dieses klang westlich. Das östliche Gegenstück hieß Überwindung. Es setzte auf Ringkampf und Sieg. Seine Waffe bestand in der Kunst, zum rechten Zeitpunkt loszulassen, um den Gegner pünktlich zu Fall zu bringen. Das hatte er schon als kleiner Junge gelernt. Die buddhistischen Meister … sie behaupteten, es in dieser Kunst zur Vollendung gebracht zu haben und jeden Gegner bezwingen zu können, sogar, im Fall aller Fälle, das Universum, wenngleich es sich, zugegeben, dabei um einen Grenzfall handelte.

Mag sein, sie hatten Recht. Zäh genug waren sie. Für ihr Modell sprach, dass es sie noch gab.

Doch es gibt auch immer die anderen. Dasein ist kein Argument.

Sprach ein Westler von ›Loslassen‹, dann war er am Ende und erwartete von der Umgebung, feindlich oder nicht, dass sie ihn in Ruhe ließ, jedenfalls bis er neue Kraft gesammelt hatte. Das empfand er als Wohltat, als kleine Erlösung, der irgendwann die große nachfolgen sollte.

Die große Erlösung … ein Wort, ein Abrakadabra, eine Inbrunst erzeugende Lautfolge. Bebende Lippen, heiße Gesänge, wütende Reden. Jugendliche zündeten auf der Suche nach ihr die Autos der Nachbarn an. In Rudeln streiften sie durch nächtliche Städte und hielten sich für Erleuchtete, wenn sie ihre Graffiti an die Hauswände sprühten oder eine Telefonzelle demolierten.

Protest, träumte Fac ten Chek, der Westen lebt vom Protest.

Alles andere ist Geschäft.

Natürlich ist auch der Protest Geschäft.

Den Protestierern ist das egal, sie bemerken es nicht oder wollen es nicht bemerken. Fällt es einem auf, ist auch das egal. Oder ihn versetzt der Argwohn in Wut, der Gegner könnte so denken, dürfte so denken, ohne dass eine höhere Macht einschritte, um der Häresie ein Ende zu bereiten.

Damit lagen sie richtig.

Diese Skeptiker des Westens, Abgefallene wie Kritiker … irgendwann inmitten der von ihnen diagnostizierten, nicht enden wollenden Krisen hatten auch sie bemerkt, dass das alles nicht so weitergehen konnte. Darin bestand ihre tiefste Überzeugung und ihr größter Schmerz. Stell dir vor, alles ginge so weiter – wie furchtbar! Was den Osten jahrtausendelang nicht störte – dass alles so weiter ging –, das erschien, kaum dass sich die Möglichkeit dazu abzeichnete, diesen Menschen ein Gräuel.

Ein Fieber … wir haben uns bei ihnen angesteckt. Ihr kleines, grausames, selbstmörderisches Fieber lässt uns keine Wahl: es oder wir. Wann immer wir irgendwo ›aufwachen‹, finden wir tausend Gründe, den Westen zu überwinden. Das ist eine Frage des Selbsterhalts, der einzig gangbare Weg, um zurückzukehren in den Jahrtausendschlaf, der kein Schlaf ist, der niemals Schlaf war, sondern hartes, erbärmliches Dasein von Tag zu Tag.

Angenommen, Fac ten Chek, im Westen ginge weiterhin alles seinen Gang – tick-tack, in zweihundert Jahren derselbe Anblick wie heute, dieselben Börsianer, dieselben Fußballspieler, dieselben Tabellen, dieselben Schauspielertypen, derselbe gnadenlose Tratsch – wäre am Ende dann er der Osten? Was wären wir? Wären dann wir notgedrungen der Westen, der Einspruch, der Protest, der randalierende Teil der Welt?

Welchen Sinn ergäbe das?

Offenbar keinen.

 

3

East meets west. Mit Phrasen werden die dicksten Geschäfte gemacht. Wichtiger sind die Blicke, die man dabei aufeinander wirft. Der Rest, also das Ganze noch einmal, folgt, wenngleich zeitversetzt und ohne unmittelbare Kausalität.

Fac ten Cheks Blick stahl sich zum Alten hinüber. Sanft ruhte inmitten der Falten sein Augenpaar. Wie hatte Pe Ting ihn gesehen? Fac ten Chek wusste es nicht. Ehrlich gesagt, der Gedanke hätte ihn bisher nicht berührt. Und jetzt? Die Welt, durch Pe Tings Augen gesehen, war am Ende. Soeben schloss sie wie ein Geschäft, das sich nicht mehr rentabel führen ließ. Wie kann eine Welt schließen? Sie kann, es geschieht alle Tage.

Das schloss auch ihn ein.

Ganz recht, mit diesem Bewusstsein, dessen Träger neben ihm atmete, verschwand er selbst, zwar nicht vollständig, nicht zur Gänze, doch ohne Zweifel ganz, jedenfalls in der von Pe Ting gehegten Version. War es die richtige?

Richtig oder nicht, er kannte sie nicht. Pe Tings Welt war ihm verschlossen geblieben. Dabei kannten sie einander gut. Zwischen diesen beiden Aussagen bestand keinerlei Widerspruch. Eine Kenntnis schließt die andere nicht ein. Im Gegenteil: Pe Ting musste in die Welt eines anderen hinüberwechseln, um der zu sein, der Fac ten Chek kannte. Was ging ihn, Fac ten Chek, Pe Tings Welt an?

Flach erinnerte er sich an Zeiten, da wäre es als Dienstvergehen betrachtet worden, einen Gedanken darauf zu verwenden. Jetzt war er es, der sich zu dem einst Höhergestellten herunterbeugte.

Wo blieb da die Augenhöhe?

 

4

Der letzte Satz eines halb und halb Toten, bereits Vermächtnis, bindend im einfachsten Wortsinn: Auch Treue wahrt uns die Person

Und was dann?

und es wird dir wohl ergehen…

Das war der Fels, auf dem der Westen erbaut wurde. Anfangs auf einem der sieben Hügel Roms, inmitten sumpfiger Niederungen, schließlich, nach allerlei blutrünstigen historischen Experimenten, auf dem steinernen Grund Manhattans, der Stadt auf dem Hügel, the tall proud city built on rocks stronger than oceans, wind-swept, God-blessed, and teeming with people of all kinds living in harmony and peace, a city with free ports that hummed with commerce and creativity. Der Stadt des Geldes und des ubiquitären Kredits. Abweichler wurden von ihm herabgestürzt, sobald sich herausstellte, dass sie nicht begreifen wollten, dass ihre Freiheit, die geheiligte Freiheit aller, nicht beliebig ausdeutbar war.

Das Regiment der Freiheit gebot, immer und überall nach dem Ausgang zu suchen.

Niemals in seiner kurzen Geschichte hatte der Westen daran gedacht, den Osten zu überwinden. Ausbeuten, sich aneignen, ›inkorporieren‹ wollte er ihn … aber ›überwinden‹? Wie das?

Stattdessen hatte er ihn im Blut. Er suchte, was sie verband, im Trennenden, ohne sehen zu wollen, dass in diesem Fall Erbeuter und Beute eins waren, so wie Ausbeuter und Ausgebeutete immer und überall eins sind, ein System, in dem der Zufall der Geburt oder der Lebensumstände darüber entscheidet, wer oben und wer unten zu liegen kommt.

Fiel der Westen zurück? Geldleute in Shanghai oder Singapur oder Tokio, die Augen vom Starren auf die Börsenkurse klebrig geworden, dachten so. Vielleicht lagen sie richtig, warum? Vielleicht, weil der Erlösungsgedanke wieder stärker in ihm rumorte… Was die Menschen ›Wirtschaften‹ nennen, das sind sie selbst, in Tätigkeit gedacht. Was sonst? Der Westen lernt vom Osten, er lernt seit Jahrhunderten. Wie er lernt, wie er immer gelernt hat, gehört zu den Lehrstücken kultureller Osmose.

Anfangs Technik, dann Taktik und Strategie.

Eine eigene Klasse von Menschen hatte er dafür freigestellt. Großspurig nannte er sie Genies: Ausnahmemenschen, die hinter dem Rücken ihres ›Bewusstseins‹ importierten, was bis dato in ihrem Gesichtskreis nicht existierte. Unter seelischen Konvulsionen überquerten sie die von ihrer Kultur gezogenen Grenzen und kehrten mit reicher Beute beladen zurück.

Der Westen am Ende? Welches Ende sollte das sein?

Letztlich hat der Erfolg ihm recht gegeben, wenngleich… Um sein Pensum zu bewältigen, hat er den Osten geteilt, in sich geteilt, seine Lektionen bis zum grenzenlosen Widerspruch aufgenommen, bis zum Erbrechen: die Gebote des Herrschens und die Lehren der Zen-Meister. Seit ein paar Jahrzehnten steht er in seinen wachsten Köpfen vor den Geschäftspartnern aus dem Osten und verlangt von ihnen Erlösung.

 

5

Erlösung wovon? Von sich? Drehte sich von neuem das Rad? Heute kamen die Partner des Westens nicht mehr aus dem alten Osten. Leute wie Fac ten Chek bezog er frisch aus der eigenen Mitte. Gleichgültig, wo sie geboren waren, gleichgültig, ob sie ihn in einem früheren Leben vehement abgelehnt hatten, gleichgültig, ob sie ihn noch immer innerlich ablehnten – selbst ihre Ablehnung war zum Ferment des Westens geworden, Treibstoff eines uneingestandenen und umso wirksameren Westlertums. Und sie? Empfanden es tief und zelebrierten es lächelnd. Strömten aus Harvard, aus Oxford, aus den Hörsälen des MIT, aus Fontainebleau oder Tokio in ihre klimatisierten Büros. Die Papiere, die sie ihren Bewerbungen beilegten, trugen die Stempel von Wirtschaftsschulen, errichtet rund um den Erdball von klugen Vermarktern der Exzellenz. Sie hatten die Herkunft ins Herz gebannt, wo sie hingehörte. Jedenfalls glaubten sie das. Dabei unterschied, was da rege wurde, sich wenig von jenem Hochmut, den sie bei den einstigen Kolonisatoren noch immer wahrzunehmen glaubten und den sie hassten.

Hier, der Hass. Er stand auf gegen eine Unterdrückung, über die sie gleichzeitig lächeln konnten, so dünn, so imaginär war sie geworden, so … substanzlos, dass man sich mühelos mit den Unterdrückern darüber verständigen konnte, die begierig darauf aus waren, sich zu solidarisieren – mit wem? Mit den Opfern von gestern? Mit den Konkurrenten von heute? Mit den Feinden von morgen? Was war sein östliches Erbe, verglichen mit dem vielgestaltigen Osten des Westens, der vielleicht eines Tages ebenso vom Antlitz der Erde verschwinden würde, wie die Welt Pe Tings vor seinen Augen verschwand, ohne dass er sie sehen, ohne dass er sie in sich aufnehmen konnte? Was war es wirklich? Eine Lehre? Ein Blatt?

 

6

Der Osten des Westens… Ehrlich gesagt, er hat ihn nie verstanden. Zu vertrackt ist das Thema, zu leicht kann man sich in ihm verlieren und darüber das Geschäft vergessen – ein schlechtes Geschäft in jeder Hinsicht. Dennoch, es käme auf den Versuch an.

Was sehen deine Geschäftspartner, wenn sie dich sehen? Vielleicht nicht mit eigenen Augen, aber mit all den Brillen, die viele ihr Leben lang nicht absetzen, während bewegliche Gemüter sie nacheinander durchprobieren, um schließlich bei der dicksten hängenzubleiben, mit der sie gewisse Einzelheiten scharfstellen können, an denen ihnen liegt, während der größere Teil des Wahrgenommenen verschwimmt? Du hast gelernt, sie an diesen unsichtbaren Brillen zu unterscheiden. Du bemerkst sie am Blick, mit dem du gemustert wirst, an den aufgesetzten Masken, wenn es ans Händeschütteln geht, am Zögern, das so sehr aus den Leuten zu kommen scheint und doch nur das Starre der Situation zum Ausdruck bringt. Am meisten an der grenzenlosen Offenheit, die sich so leicht imitieren lässt und auf die sie so stolz sind: East meets west.

Wie lange geht das Spiel schon? Wie lange wird es weitergehen? Gute Frage.

Pe Ting zum Beispiel… Für ihn roch bis zum Schluss jedes Treffen nach verbranntem Fleisch und modernden Leichen.

Pe Ting ist so gut wie tot. Jener Teil in ihm, du, der du zu Pe Tings Welt gehörst, liegst mit auf diesem Bett und stirbst den Tod dieses Alten, als sei es der eigene. In gewisser Weise hast du damit sogar Recht.

Wo steckt er? In einer Lagebesprechung? Holen die Bombennächte ihn ein? Schneidet er, friedlich entschlummert, gerade jetzt einem GI die Kehle durch? Rennt er um sein Leben? Bescheißt er sich, wälzt er sich im Schlamm, kriecht er durch einen Stollen, den Namenlose für ihn angelegt haben, schießt er ein Magazin leer, dessen Überbringer samt Universum gerade verreckt, drückt er eine Genossin an sich, als sei es das letzte Mal? Geht er zu den Toten, als seien sie Lebende? Legt sich, durchscheinend für ein paar Augenblicke, Erde auf ihn, als schaue er die Wurzeln des Lebens, aber bereits schwer und beklemmend? Sucht er verzweifelt nach Essbarem? Sitzt er am Tisch bei Vater und Mutter und fragt sich, an welcher Front er verbluten wird? Spielt er, wieder klein geworden, mit den Wollfäden einer Decke, die fürsorgliche Hände über ihn gebreitet haben? In welchem Winkel seiner Welt hält er sich auf? Durchmisst er sie mit raschem Schritt? Löst sie sich auf? Verengt sie sich, wird sie schwarz, licht, rosig, kneift sie? Wird weit, grenzenlos, bizarr, selbstverständlich, fraglos?

Wo ist Ost, wo West? Der Osten ist communism … wenn ihnen das Wort über die Lippen schlüpft, lachen sie, ein törichter Zug gleitet um ihre Lippen, als sei etwas daran nicht echt und sie wüssten es, aber nicht wirklich.

Der Kommunismus war eine Falle.

Er verband Ost und West, um sie umso gewisser zu trennen.

Bei Marx kannten sie sich aus. Mao? Zu groß, zu gewalttätig, um wahr zu sein. Ein Koloss antikolonialer Befreiung, eingegangen in eine Allvergangenheit, in der sich sammelt, was Schauder und Ehrfurcht aufrührt bei Mensch und Getier. Ho Chi Minh? Eine Studentenscharade, ein Ulk mit Anliegen. Ausgebrütet fernab seinem Land, das in diesen Köpfen nicht existierte, es sei denn als Hölle, aus der, wer nicht fiel, als Versehrter zurückkam.

Steh auf, Fac ten Chek, steh auf und geh, geh weg, es tut gut, sich die Beine zu vertreten. Für einen, der aus der Hölle kommt, hast du die besten Karten.

Diese Veteranen-Vertraulichkeit, dieses ›Kamerad, wir wissen Bescheid‹ hat dich erst befremdet, später beruhigt. Heute erkennst du in ihr das Rätsel der Anerkennung: Wir haben gegeneinander gekämpft, also sind wir ein Geschling, ein Knoten im Geschehen, Entlassene desselben Geschicks, einer des anderen Mörder. Wir haben uns gegenseitig getötet und sind einander entronnen, wir wollten einander auslöschen und haben uns doppelt empfangen, als unauslöschliche Erinnerung und als freundliches Gegenüber, mit dem wir sie aufwärmen.

 

7

Nein.

So ist es nicht. So war es nicht. So wird es nicht sein. So wird es niemals sein.

Ihr habt in unserem Land gekämpft, nicht wir in eurem. So ein Unterschied geht nicht weg. Ihr wusstet, wofür ihr kämpft. Wir wussten es auch.

Hohle Worte… Von heute aus gesehen, mag sein. Aber selbst in ihrer Hohlheit unterscheiden sie sich. Es klebt zweierlei Blut daran, das des Eigenen und des Fremden.

Euch zerfielen die Worte im Munde, weil nicht reell war, wofür ihr kämpftet: die Ideale nicht und nicht die Interessen. Die Ideale nicht, weil ihr nicht verstandet, wofür wir kämpften. Die Interessen nicht, weil sie nicht eure eigenen waren. Das wenigstens solltet ihr, als Krüppel in euer Land zurückgekehrt, schnell herausbekommen. So lernte ich euch ein zweites Mal kennen: ausgezehrt und vom Groll gezeichnet, hereingelegt worden zu sein.

Uns bebten die Worte im Mund, sobald ihr das Land verlassen hattet. Manche bekamen einen Geschmack, von dem ihr bis auf den heutigen Tag nichts versteht. Dennoch: hätten wir, einer wie der andere, damals den Auftrag bekommen, die Revolution in euer Land zu tragen, keiner von uns hätte gezögert. Keiner von uns hätte eine Sinnkrise erlebt, jedenfalls nicht vor dem ersten Einkauf.

Heute erobern wir euer Land mit euern wirklichen Waffen, asians, wie ihr uns nennt, mit diesem vorgeschobenen Kinn, das wie ein Vorbehalt wirkt, der nicht weggeht, no communists, wie ihr beteuert, ohne zu wissen, wen ihr damit beruhigt, es muss wohl das Gewissen sein, das immer rege Gewissen, das nur eine Aufgabe kennt: betäubt zu werden, nichts Genaues zu wissen, die Welt mit Worten zu befrieden, die großartig klingen, leider auch großspurig, allzu großspurig angesichts der Lage, in die ihr euch nach und nach gebracht habt. Eure Vorfahren haben China mit Rauschgift erobert, heute zerstört es euch.

 

8

Wunder des Westens: Euch fällt nichts auf.

Dabei tragt ihr das Wissen in euch, ihr lasst es nur nicht heraus.

Ihr habt euch Regeln gegeben, die niemanden blenden außer euch selbst.

So sieht es aus. Ihr tragt eine Sucht nach Blindheit in euch, Religion genannt, mit dieser kleinen Distanz in der Stimme, die verrät, dass sie euch nicht überzeugt. Was dann? Sie bereichert euch. Aber wie? In welchem Sinn? In welchem Nicht-Sinn? Sie setzt, sagt ihr, etwas gegen das Elend der Welt. Welches Etwas?

Der Glaube, sagt ihr, der Glaube an etwas verändert die Welt. Glaube an was?

Worin bitte unterscheidet sich der Glaube an etwas vom Glauben an Märchen, die keiner glaubt? Aber sie waren immer schon da und wurden für bare Münze genommen, sobald nichts Besseres zur Hand war. Ist dieser Glaube ohne Zusatz, Idealismus genannt, etwas, dessen Füllung alle paar Jahre wechselt, solange es nur etwas bleibt, was sich abrufen lässt, sobald einer von euch nicht weiter weiß? Was glaubt ihr, wer ihr seid? Erwählte … noch immer? Erwählte des Herrn, Erwählte des Schicksals, Erwählte der Natur, der Erde, des Kosmos, des Niedergangs, der Werte?

Diese Werte … sie haben euch gewählt. Sie sind hernieder gestiegen vom Firmament und haben in euch ihr Lager aufgeschlagen, angetan mit Purpur und Samt, das Schwert in der Hand, die Schafe zur Rechten, die Böcke zur Linken –.

Die Schafe, das seid ihr selbst. Die Böcke, das sind die anderen. Einerseits. Andererseits geben sie euren Werten Halt. Sie sind derdiedas Andere, dessen ihr euch annehmen müsst, Hüter der Welt, die ihr nun einmal seid. Da liegt es, das Etwas, das niemals weggeht: eure Weltzuständigkeit. Man kann euch ignorieren, plündern, verlachen, belügen, man kann eure Waffen gegen euch richten, man kann euch überstimmen und überfahren und übervorteilen, all das ändert: nichts.

Ihr seid zuständig.

 

9

Zuständig für was? Zuständig warum? Ich habe mit Realisten unter euch diskutiert und gelacht, sobald sie aus der Tür waren. Sie waren Renegaten, Abtrünnige, sie konnten nicht länger glauben, das aber unbedingt.

Jeder ihrer Sätze begann mit einem »Wissen Sie, was ich glaube…«

Der Unglaube war ihr Glaube. Unter Zweifeln hatten sie sich zu ihm durchgerungen, unter wirklichen Glaubensqualen, mit dem unverrückbaren Vorsatz, zum wahren Glauben zurückzufinden, sobald er endlich Beweise vorlegte, unentwegt auf der Suche nach Beweisen, Beweisen, Beweisen, hard facts, Beweisen für, Beweisen gegen, Beweisen wofür?

Für das beunruhigte Gewissen, die Angst, zuviel gesehen zu haben, nicht aufhören zu können, nicht mehr zurückzufinden, sich ans Sehen verloren zu haben, verloren zu sein, das Glauben verlernt zu haben, seiner Essenz verlustig gegangen zu sein, seiner Essenzen, Weihrauch, Myrrhe, Kohl.

Sie haben sich an mich herangemacht, Verständnis heischend, Verständnis fordernd, mit dem Angstblick des Delinquenten, der auf seine Hinrichtung wartet und nicht daran glauben kann, mit dem Grinsen des Autoverkäufers, der seinem Kunden verrät, dass er im Begriff ist, ein Stück Rost zu erwerben, mit dem stockenden Elan des Seitenwechslers, der keinen Übergang findet, mit der Pose des Eingeweihten.

In was?

In die andere Seite des Spiels?

In die Spiele der anderen Seite?

Ihr habt euch verändert? Ja, das habt ihr.

Kleinlaut seid ihr geworden, das hat sich verändert.

Heute fürchtet ihr euch vor dem, worin ihr einst Meister wart: dem Fanatismus der Anderen.

Alles ist zeitversetzt. Die eine Welt, die ihr träumt, existiert nicht.

 

10

Nach dem Gemetzel, damals, als ich euch zum zweiten Mal kennenlernte, schient ihr bereit, die Tür aufzustoßen. Ihr wolltet am Anderen wachsen. Ihr wolltet uns zulassen.

Nach allem, was geschehen war, wolltet ihr zulassen, dass es uns gibt.

Damals wolltet ihr unseren Kampf gut finden, ganz so, als sei es euer Kampf gewesen und ihr hättet nun gesiegt. Uns wolltet ihr gut finden. In uns wolltet ihr das Gute finden. Enttäuscht wart ihr, wenn wir euer Ansinnen lächelnd abwehrten.

Überhaupt unser Lächeln: ihr machtet es zur Ikone.

Alles an euch wird Bild. An Bildern richtet ihr euch aus.

Nofretete, Fundstück aus der Vorgeschichte eurer Kultur: Wozu habt ihr sie gebraucht? Um Generationen von Sekretärinnen zu zeigen, wie man sich schminkt und wie man sich trägt.

Ihr seid enttäuscht von uns und könnt es nicht zugeben. Warum? Weil es gegen eure Gesinnung verstößt. Lieber wäre es euch, wir hätten unsere Lektion gelernt und wären bereit, das Gute in euch zu entdecken. Bedauerlicherweise haben wir nicht gegen euch gekämpft, um euch gut zu finden. Wir haben gekämpft, denn wir hatten einen Weg gefunden, auf dem es klappen konnte. Es hat geklappt, heute stehen wir an anderen Fronten. Nicht wahr, mon général? (Kleiner Scherz, Pe Ting, du bist mein Genosse von Kindesbeinen an, ein bisschen mein General bist du schon, für kurze Zeit noch, dann verschone ich dich damit. Wenn du meine Gedanken hörst, dann weißt du: das ist der Tod. Ihr und wir: das war dein Spiel. Du hast es gespielt, blutig, unblutig, grausam, blass, kalt, verschlossen, aber, soweit ich das beurteilen kann, gut. Wenn ich mich ein wenig mit dir beschäftige, dann nicht deinetwegen. Du verstehst, ich bin nicht deinetwegen gekommen, man kommt nie um des anderen willen, man kommt, weil es sich so gehört. Ich bin gekommen, weil ich etwas über den Feind lernen will.)

 

11

Angenommen, ich wäre, den sicheren Sieg unserer Truppen vor Augen, beim Marsch auf Saigon gefallen. Hätte mein Tod sich gelohnt?

Heute, aus sicherer Entfernung, darf ich diese Frage stellen.

Damals wäre sie Verrat gewesen.

Wessen Verrat? Meiner, des Toten? Ich hätte sie nicht stellen können. Andere, Lebende hätten sie stellen müssen.

Warum? Weil es sie anging.

Würde ihr Tod sich lohnen? Für wen? Ist der Krieg entschieden, wirkt jedes einzelne Opfer sinnlos. Es ist umsonst, es zählt nicht, es hätte nicht mehr sein dürfen, es kommt zu spät, es zeitigt gefährliche Gedanken. Wo liegt die Grenze? Wie dicht an der Grenze darf einer liegen, damit die Sinnlosigkeit auch sein Opfer streift?

Im Augenblick der Qual hat’s der dann Tote hinter sich.

Nach dem Elend, vor dem Vergessen eine Sekunde Bedauern: der arme Kerl hat noch dran glauben müssen.

Der Tod macht den Menschen apathisch, er nimmt ihn mit ins Niemandsland, dort lässt er ihn liegen.

Der Kommunismus ist auch eine Religion. Eine der Religionen des Todes. Tote waren wir und wussten es nicht. Wir waren die Toten der anderen Seite. Wir durften siegen, als wir für sie belanglos geworden waren.

Mit unserem Sieg starb der Kommunismus. Darin bestand seine welthistorische Aufgabe.

In den Augen dieser Menschen lebten wir nicht. Wir waren eine exotische Lebensform, wir gehörten verbrannt, vergiftet, eliminiert, eine Insektenart. Befallene, unheilbar, unrettbar, communists.

Und wir? Waren einverstanden.

Einst hatte ein Genosse uns so beschrieben: als Tote auf Urlaub. Wir gründeten unseren Stolz darauf.

Andererseits: auch er war ein Mann aus dem Westen. Er kam, das westliche Jenseits im Gepäck, aus einem Ideenkreis, der uns nichts sagte, über den wir gelächelt hätten, hätten wir ihn gekannt. Denn wir … waren asians. Diese Knetfigur aus asians und communists zu Kriegszwecken – von wem ging sie aus?

Sie senkte die Tötungsschwelle.

War das, nach den vorhergegangenen Gräueln, noch nötig? Eine Erfindung für kriegsmüde Sieger, die allergisch darauf reagierten, weiter siegen zu müssen, bar aller sichtbaren Fortschritte, sich mit Rauschmitteln sabotierend, ohne Sinn und Zweck.

Die Leichtigkeit des Tötens just for nothing – damals kam dieses Tier frei.

 

12

Ich werfe euch nichts vor.

In diesem Punkt unterscheiden wir uns.

Ich habe nichts vorzuwerfen.

Euer Gewissen drückt mich nicht und ich habe keine Lust, auf ihm zu spielen. Ich hätte euch gern einzeln kennengelernt. Doch daraus wird nichts. Ihr seid ihr.

Eine fette Lüge, es tut gut, sie zu verbreiten. Solange sie in der Welt ist, ist sie die Wahrheit.

Diese Wahrheit ist eine Lüge: jeder Kontakt überführt sie. Diese Lüge ist eine Wahrheit, weil sie sich selbst wahr macht, ganz ohne Zutat, solange sie einer ausspricht. Niemand muss dafür lügen. Es genügt zu sagen, sie sei in der Welt, das ist immer wahr und muss gesagt werden, weil die Wahrheit es wert ist, immer und immer wieder ausgesprochen zu werden, und schon ist’s geschehen. Der Strich ist gezogen, zieh’ ihn heraus, wenn du kannst, an dieser Aufgabe wirst du mit Sicherheit scheitern.

Seltsame Logik, die immer und überall das Falsche zum Faktum erhebt. Wer alles richtig machen will, der verfehlt das Rechte mit Sicherheit. Es liegt an der Sicherheit. Wer sichergehen will, geht in die Irre. Er will, dass kein Irrtum sei, und schon lebt er im Irrtum.

Sie wollen den Irrtum eliminieren und eliminieren sich selbst. Unser wirklicher Irrtum, Pe Ting, bestand darin, uns unterlegen zu wissen. Um ihn zu eliminieren waren andere Irrtümer nötig. Also übernahmen wir sie, wissend, dass es Irrtümer waren. Der Irrtum der Unterlegenheit formt Besessene, ruft Fanatiker der Überwindung auf den Plan.

Der Unterlegene macht sich unüberwindlich.

Nur wer sich unterlegen weiß, kann das empfinden: diese Lust, ein verhängtes Schicksal zu überwinden. Was, wenn die andere Seite nachgibt? Wenn sie sich nicht besiegt gibt, sondern gebessert? Wenn sie die Überlegenheit zurücknimmt, als sei sie durch Irrtum schuldig geworden und müsse sich nun neu aufstellen, um besser zu werden? Geht es dir besser, wenn die andere Seite sich bessert? Nein, natürlich nicht. Du musst nachlegen, also legst du nach. Was sich als Besserung ausgibt, ist Heuchelei. Drunter machst du es nicht. Der Gebesserte holt kurz Luft und bessert nach: Wenn es Heuchelei ist, dann will er sich bessern. Sicher, es ist Heuchelei dabei … eine Aufgabe tut sich auf, unauslotbar, ein Reichtum an Aufgaben, unfassbar, beglückend, einzigartig, eine Fortschrittsspirale, von der beide Seiten profitieren, denn, was immer geschieht, sie beide sind heute weiter als gestern und morgen weiter als heute, win-win.

 

13

Ein Held ist gestorben, einer steht bereit, in seine Fußstapfen zu treten.

Das ist die Regel.

Fac ten Chek sah sich weder bereit noch willens, das Erbe des Generals anzutreten. Er hätte auch nicht gewusst, wie das zu bewerkstelligen sei. Aber er hatte ein Gefühl. Langsam, sehr langsam hatte es gekeimt, hatte just an dem Tag den Boden des Bewusstseins durchstoßen, als sie Pe Ting am obligaten Regentag zu Grabe trugen.

Er hatte nicht mit Hand angelegt. Fast hätte die empfundene Schwere des Sargs ihm eine Muskelzerrung verursacht. Jenes Gefühl, es stand, ein schlanker Sprössling, am Kreuzungspunkt vieler Wege. Ein ums andere Mal sah er sich genötigt, einen Bogen darum zu machen. Bald würde es Zweige in alle Richtungen treiben und mit seinem Blattwerk die neue Mitte markieren: Schau, wer du bist.

Wer bin ich, fragte Fac ten Chek und grinste in sich hinein.

Niemand, rauschte das silberne Blattwerk – aus irgendeinem Grund musste es silbern sein, es rauschte auch silbrig –, niemand bist du, niemand wirst du sein, bilde dir nur nicht ein, du seist jemand. Jemand wie du … niemand ist wie du, niemand gleicht dir aufs Haar, niemand denkt deine Gedanken, niemand besitzt deine Gene…

Ganz stimmt das nicht. Jene Nacht in Düsseldorf –

Falls du niemand bist, ist er der ganz andere, der, von dem du nichts weißt, der, von dem du nichts siehst, der, von dem du nichts hast, denn alles hat er: etwas einseitig, beinahe abseitig, findest du. Warum er? Das ist schon ein wenig viel … Person, nicht wahr, zu viel Person, nicht wahr, niemand ist niemand. Weder Mensch noch Sache, weder Pflanze noch Tier, weder tot noch lebendig.

Niemand.

 

14

Niemand ist niemand.

Dann wäre die Menge aller Niemande leer?

Das fragt der Westen in dir. Vergiss den Schluss.

Er drängt sich auf, also vergiss ihn. Vergiss, was sich aufdrängt.

Drängt Pe Ting sich auf? Drängen die Toten sich auf? Sie drängeln sich ins Bewusstsein. Dort sitzen sie warm und trocken, dort geht’s ihnen gut. Sie fragen nicht, sie bleiben, geht man sie an, die Auskunft schuldig, sie verlangen Aufmerksamkeit, sie erregen Unruhe, sobald man sich ihnen nähert und sobald man sich von ihnen entfernt. Sie verlangen Abstand: weder zu klein noch zu groß.

 

15

Dort sitzt auch Pe Ting. Es hat keinen Zweck, seine Anwesenheit zu leugnen. Er ist kein Buddha, kein Bodhisattva, kein Marx, kein Mao, kein Ho Chi Minh, kein Garnichts: mon général. Eine Kitschfigur, ganz ohne Zweifel ein Nationalist, ein internationalistischer Nationalist, er hatte mir nie zu befehlen, auch hat er es nie versucht.

 

Andererseits – mehr als das war er nie. Ein Befehlskörper.