Ein Koala starb im Koalagefängnis, nicht erst gestern, sondern vor einem Jahr, und die Mäuse feierten einen Gedenkgottesdienst. Ein Koala überbrachte Grußworte aus der Ferne. Er lebte seit langem in der Stadt der Mäuse und kannte ihre Gebräuche genau. Ein schwarzer Mäuserich zelebrierte die Messe gemäß dem Herkommen. Eine schwarze Mäusin, ein wenig blass und vor der Zeit gealtert, stand ihm zur Seite und sprach die überleitenden Worte. Sie waren notwendig, weil so viele prominente Gäste anwesend waren und bemerkt werden wollten. Die meisten von ihnen hatten seit langem keine Kirche mehr von innen gesehen und der Gedanke, an einem ethnologischen Feldversuch teilzunehmen, erheiterte sie.
Die wirklich bedeutenden unter ihnen, angeführt vom ehemaligen Präsidenten des Mäusereichs, dem dutzende Kamera-Augen folgten, wohin immer seine Trippelschritte ihn trugen, kannten die Abläufe wie ihr eigenes Inneres. Sie gaben die erforderlichen politischen Statements ab und raunten der Nachbarin ein passendes Wort zu, an das diese lang zurückdenken sollte. Ansonsten nutzten sie die Gelegenheit zu stillem Gedenken an längst verflossene Jugendtage.
Es traten an diesem Abend, eingerahmt von den üblichen Gemeindegesängen, einige Laiendarsteller auf, und zwar in dieser Reihenfolge (oder einer anderen): ein Liedermacher aus alten Tagen, der keine Lieder mehr fabrizierte und von dessen Stimme nur noch ein Krächzen übrig geblieben war, ein Literaturpreisträger aus dem benachbarten Königreich Lemmingen, wohlgelitten unter den örtlichen Mäusen und dank seines unbefleckten Fells ein winner des örtlichen Literaturbetriebs, ferner der Präsident des Mäuse-PEN-Clubs, des weiteren eine hagere Dichterin, die schon bessere Tage gesehen hatte, endlich einige Sängerinnen und Sänger von intergalaktischem Ansehen, die stolz signalisierten, dass ihre bescheidene Kunst durch die Strapazen der Raumfahrt nur wenig gelitten habe.
Das bekannte Handikap ließ sie umso heller leuchten.
Sie alle kamen als Darsteller, die versuchten, aus der ungewohnten Situation das Beste zu machen. Der Literaturpreisträger zum Beispiel, vom Gedanken beseelt, das Publikum mitzureißen, nestelte während des Vortrags ununterbrochen am Mikrofon, so dass es einmal die untere, dann wieder die obere Region seines schmalen Gesichts verdeckte. Währenddessen gab er halb verborgene Handzeichen an die Technik, doch presto die Lautstärke den gegebenen Umständen anzupassen. Was auch geschah. Allerdings mit Verzögerung und so abrupt, dass, wo eben noch pastorales Gesäusel den klangstarken Raum erfüllte, sein Wort übergangslos wie Donnerklang rollte. Der PEN-Präsident, gewohnt, vor handverlesenem Publikum gedrechselte Bulletins abzulesen, ohne sich um die für gewöhnlich piekfeine Akustik im Hintergrund zu kümmern, die es schon richten würde, ging keinen Deut aus seiner üblichen Rolle heraus: ein Gewählter vor dem abwesenden Herrn. Ohnehin stand er, abgestorbene Eiche im Sturm der Langeweile, für etwas, mit dem jeder der Anwesenden sich bereits im voraus identifizierte. Wozu sich mühen, mochte er denken, wenn man zu denen zählt, die bereits angekommen sind?
In den alten Tagen, in denen zwei Mäusereiche einander befehdeten, wilde Kriegstänze an der Grenze aufführten, die damals ihre einzige Gemeinsamkeit bildete, und die klügeren Mäuse des Ostens bereitwillig ins Gefängnis gingen, um sich subtilen, vordem unbekannten Foltern zu unterwerfen und anschließend vom Klassenfeind jenseits der schussbereiten Hüter des Status quo freikaufen zu lassen, – in jenen seither von märchenhaftem Glanz überspiegelten Zeiten zählte der Liedersänger zweifellos zu den Hauptmäusen aller Mausländer. Man sagte über ihn, seine aufrührerischen Lieder gingen zum Takt der Gewehrsalven auf dem Stacheldraht zwischen den Reichen spazieren.
An diesem Abend saß er gleich neben dem Altar. Eine Pfote hatte er auf die Gitarre gelegt, die andere zielte mit herrischer Imperatorengeste auf einen Koala in der ersten Reihe, den er coram publico zum Freund ausrief, als erkläre er hiermit dem riesigen Koalaland eigenpfötig den Bürgerkrieg. So nahm er Abschied von dem fernen, vor einem Jahr nach langen Martern gestorbenen Menschenfreund, über dessen Schicksal er sich, wie andere Mäuse auch, aus der Zeitung sowie den Rundschreiben des PEN-Clubs informiert hatte.
Er war ein bedeutender Mäuserich und er wusste das. Er wusste auch, was alle Mauswelt von ihm erwartete und erwartete es selbst. Aber da er Realist war und durchaus verstand, dass er nie wieder eine einzige Maus im Begeisterungstaumel auf die Pfoten bringen würde, hatte er die Erinnerung daran konfisziert und streute sie, nicht unähnlich einem älteren Klassenlehrer, der seiner Rabauken nicht länger Herr wird, bröckchenweise unter die Leute. Nicht sehen konnte er – denn er gehörte zu den Mäusen, deren Blick immer nach vorn geht –, dass jeder, der ihn nun sah und seinen losen, von abenteuerlichen Gesten begleiteten Reden folgte, nur IchIchIch verstand und den Eindruck einer maßlosen Eitelkeit nach Hause trug, wo doch am Anfang der Kette nur der redliche Wille stand, die guten alten Tage des klingenden Widerstandes nicht ausgehen zu lassen und jedesmal aufs Neue zu liefern, was bestellt war, wann immer man ihn zu einer Veranstaltung wie der heutigen hinzubat.
Darin traf er sich nun mit dem Genius loci, dem wohligen, durch ziegelrotes Gemäuer und gotische Pfeiler gehobenen, wenngleich auch ein wenig gedrückten Gefühl der anwesenden Seniorinnen und Senioren des Mäusegeschlechts, an diesem Ort dem aufbegehrenden Geiste näher zu sein, der einst von ihm ausging, um, wie die Sage berichtet, die Mauern des falschen Gemeinwesens einzureißen und mit ihnen zusammen alle Grenzen dieser Welt, an denen Tiere verbluten oder ertrinken, bloß weil der Ruf der Freiheit unvermischt mit den üblichen Rücksichten in ihnen ertönt. So jedenfalls stellte der Mäusepriester es dar, während seine Helfer unauffällig in der Nähe des Ausgangs Posten bezogen, um die Kollekte nicht zu versäumen.
Unterdessen war der tote Koala sehr tot, er blieb es während der ganzen langen Veranstaltung, seine verschwundenen Augen glänzten tot über den Köpfen der in seinem Namen Versammelten. Ebenso tot erklangen die Worte der Witwe, ins Mäusische übertragen, von den Lippen der hageren Dichterin, die seit langem davon lebte, dass sie vor einem Menschenalter aus einem Land desertiert war, in dem es den Mäusen schlecht ging, teils, weil es für sie dort keine passende Nahrung gab, teils, weil es Tritte und Schlimmeres hagelte, sobald eine von ihnen zu pfeifen begann. Und pfeifen musste sie, das war ausgemacht. Also ging sie dorthin, wo man vom Pfeifen lebt.
Die Witwe aber, wo hielt sie sich auf in dieser ihr sehr fremden Hauptstadt der Mäuse, frisch eingeflogen aus dem fernen Koalaland, wo Menschen wie sie und ihr verstorbener Gatte auf Vorrat gehalten wurden, um gegen Verträge und Abkommen eingetauscht zu werden, sobald die Zeit dafür reif war und die erdumspannende Diplomatie einer freundlichen Note bedurfte? Zweifellos bedurfte sie dieser Freundlichkeit sehr und wäre, wenigstens für den Augenblick, froh gewesen, ein wenig von ihren Zinsen leben zu können. Leider lässt Koalaland keine Mücke vom Haken, es sei denn, ein Fenghuang flöge vorbei, der sie frisst.