Man kann den Weltbürgerkrieg als Spiel unter Blinden betrachten, bei dem jeder so lange mitzumachen gezwungen wird, bis er stolpert und fällt. Sobald der Fall eintritt, gilt er als erledigt und wird vom Platz getragen. Gespielt wird nach folgenden Regeln:
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›Spieler‹ kann ein Einzelner sein, eine Gruppe, ein Verein, ein Land, ein Staat oder eine Staatengruppe, aber auch eine Branche, ein Global Player oder ein Kleinbetrieb. Jeder kann mitspielen, weil er mitspielen muss. Es gilt, wie in jedem ordentlichen Gemetzel, das Prinzip ›Freiheit aus Notwendigkeit‹ oder: ›Überlege dir gut, was du tust, doch nicht zu lange‹.
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Es gibt keine Rückzugsorte. Die Spieler müssen ständig in Bewegung bleiben, gleichgültig, was auch geschieht.
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Über dem Spielfeld werden in unterschiedlicher Höhe Stolperdrähte gespannt. Die Spieler müssen sie übersteigen, ohne sie zu berühren. Berührt ein Mitspieler einen Draht, ohne zu fallen, wird Alarm ausgelöst und der Spieler steht ›auf der Liste‹. Was das bedeutet, weiß keiner der Spielenden genau. Es kann bedeuten, dass der Betreffende bald ausscheiden muss oder bereits ausgeschieden ist, ohne davon eigens in Kenntnis gesetzt zu werden. Es kann aber auch etwas bedeuten, von dem noch niemand etwas weiß.
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Die Stolperdrähte werden im Rhythmus von wenigen Tagen nach einem Schlüssel versetzt, den nur die im Hintergrund wirksamen ›Erschaffer‹ des Parcours kennen. Über diese Erschaffer sind, zweckmäßig gestreut, verschiedene Gerüchte im Umlauf, die sich im Lauf der Zeit zu Legenden verdichtet haben. Diejenigen unter den Spielern, die Stein und Bein schwören, es gäbe sie gar nicht, sie hätten aber, falls es sie gäbe, mit der Sache nicht das Geringste zu tun, werden von ihren Schicksalsgenossen mit Misstrauen, allerdings auch mit mindestens ebenso viel Respekt bedacht. Letzteres liegt vielleicht daran, dass sie über die kräftigsten Stimmen verfügen und niemand ihr wahres Gesicht sehen kann.
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Um die Spieler bei Laune zu halten, wird ihnen gestattet, Stimmen zu hören. Den lebhaftesten darunter fällt die Aufgabe zu, im Stundentakt zu verkünden, eine gute Fee werde die Stolperdrähte entfernen, sobald die ›Engel der Geschichte‹ – nach Ablauf einer gewissen, vorerst geheim gehaltenen Frist – eine außerordentliche Leistung erbracht hätten. Je weiter die Ansichten über den Charakter dieser Leistung auseinandergehen, desto besser. Einigkeit sollte nur darüber herrschen, dass sie allein unser aller Problem zu lösen imstande ist und verschiedene, zur Zeit mit großem Einsatz verfolgte Ansätze dazu existieren.
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Um die Wachsamkeit der Spieler zu erhöhen und den ›Parcourswächtern‹, denen es obliegt, die Stolperdrähte nach diskreten Anweisungen neu zu justieren, ihre verantwortungsvolle Aufgabe zu erleichtern, werden handverlesene Werbefirmen damit beauftragt, rund um die Uhr Zahlenspiele unter die Leute zu bringen, deren Flut kein Mensch, der rechnen gelernt hat, auf Dauer gewachsen ist.
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Steigern lässt sich der Effekt dieser Maßnahme durch die bereits in früheren Spielen bewährte Praxis, unterschiedlichen Gruppen widersprechendes Material zuzuspielen und sie zu ermuntern, sich gegenseitig eifrig der Lüge bezichtigen.
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Als Kann-Regel empfiehlt es sich, unter den Spielern eine nutzlose Debatte über die Frage zu entfachen, ob es statthaft sei, die Parcourswächter zu den ›Sehenden‹ zu zählen – deren prinzipielles Vorhandensein niemand bestreitet –, soll heißen, ob die Herrinnen und Herren des Spielfeldes wissen, was sie tun, oder ob sie zwar strikt nach Vorschrift, aber doch blind wie man selbst aufs Geratewohl ihre Drähte spannen. Eine solche Debatte, geschickt mit Fehlinformationen gefüttert, könnte sich als äußerst hilfreich erweisen, falls unter den Spielern irgendwann Unmut aufkommt, denn, machen wir uns nichts vor, Weltbürgerkrieg ist anstrengend.
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Den Engeln der Geschichte, über welche die unglaublichsten Geschichten in Umlauf gebracht werden sollten, stehen die Teufel der Geschichte gegenüber, denen die Macht zugesprochen wird, das Werk der Guten zu verschleppen oder sogar zu zerstören, falls ihnen nicht die Exekutive mit geballter Macht entgegentritt. In gewissen Spielerkreisen, aber auch unter Angehörigen der Exekutive selbst, sollte es gleichsam von selbst in Mode kommen, letztere für krank zu erklären oder für ›beschädigt‹ (eine für die Dauer des Spiels unter dem besonderen Schutz der auch in sprachlicher Hinsicht normsetzenden Erschaffer stehende Alltagsvokabel), da dies erfahrungsgemäß ihr Ansehen steigert.
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Gespielt wird nach einem gemäßigten K.o.-Verfahren. Das heißt, jeder Spieler, der über genügend Geschick und Stehvermögen verfügt, um unter das letzte auf dem Spielfeld verbleibende Prozent aufzurücken, erwirbt dadurch das Recht, an der abschließenden Lotterie teilnehmen, bei welcher die Besitztümer der Ausgeschiedenen unter den Vermögenden aufgeteilt werden. Das kann, wie im wirklichen Leben, ein kostbarer Ring sein, ein verstecktes Barvermögen oder das letzte Hemd, das einem Unglücklichen bei seinen verzweifelten und letztlich vergeblichen Anstrengungen, mit den akrobatischen Künsten der Begünstigten mitzuhalten, am Leibe verblieb. Es können aber auch ganze Industrielandschaften sein, die auf diese Weise verscherbelt werden, Weingüter oder Patente, wie eben das Leben so spielt, vor allem in seinen gefährlicheren Momenten.
›Weltbürgerkrieg‹ ist eigentlich kein Spieltitel; es fehlt daher nicht an Vorschlägen zur Umbenennung, etwa Das Sklavenspiel oder Informationsscharade. Doch scheint ihnen bis dato kein Erfolg beschieden zu sein. Viel besagt das nicht, was nicht ist, kann noch werden.