(20) Staatshygiene
Im Yagir hat man aus Mangel an Geburten die Frauen vom Kinderkriegen entbunden, seither klagen sie verstärkt über Kopfschmerzen. Jedenfalls will es so das Gerücht. In diesem ›verstärkt‹ liegt die Crux, da belastbare Vergleichsdaten fehlen. Solange man nicht über sie verfügt, tappt man im Dunkeln und kann nichts machen. Was immer einer vom Yagir halten mag, es ist eine Experimentierbühne. Vieles von dem, was Gesellschaften wollen und sich im Ergebnis nicht leisten können, praktiziert man hier ohne viel Federlesens. Entsprechend spöttisch reagiert man auf Kommentare von außen. Yagiriten tragen den Kopf hoch, auch der Kopfschmerz will hoch getragen werden und ist kein Argument für oder gegen die Sache. Da man den metaphysischen Schmerz nicht kennt, dient der gemeine Kopfschmerz als legitimer Ausdruck dessen, was man nicht ändern kann, weil man an den Ursachen nichts ändern will. Was dem Kopfschmerz dient, dient der Sache: so oder ähnlich könnte die einschlägige Parole lauten. Die Modellierung des Körpers zum Beispiel, diese Daueraufgabe der Schönen, denen der Sinn nach mehr steht – mehr Schönheit, mehr Geld, mehr Gerechtigkeit –, hat der Yagir mit großem Aufwand zur Perfektion gebracht. Jedenfalls behaupten das die Auguren, auch wenn der einfache Augenschein, in der Straßenbahn etwa oder im Flugzeug, den Gedanken nicht zwingend nahelegt. Die Entzauberung des Naheliegenden hingegen ist keine Parole, eher ein Anliegen, mit dessen praktischer Aufbereitung sich gutes Geld verdienen lässt. Viele lassen sich darauf ein, denen es nicht liegt, faul auf der Haut zu liegen und andere für sich aufkommen zu lassen. Will man wissen, was so jemand tut, bekommt man schnell das Gefühl, er weiß es selber nicht und steckt noch in der Erkundungsphase. Was liegt schon nahe? Man muss in allen Fernen zu Hause sein, um eine Ahnung davon zu bekommen. Auch dann liegt nichts weniger nahe als der Zauber der Nähe, der sich entfernt, wenn man seiner bedarf. Im Yagir jedenfalls macht man sich darüber Gedanken und mancher Ideenwettbewerb scheitert an zuviel Nähe. Nähe zu was? Hier ist der Staat gefragt, der zuviel Nähe nicht duldet. Was dann? »Nur das Recht«, murmelt der Patriarch, dem man die Hoden entfernt hat, auf dass er seine Funktion vorurteilslos erfülle, »nur das Recht.« Was er damit meint, ist schwer zu ergründen, der Gesetzgeber und die Juristen streiten sich wie die Kesselflicker, allein bei gehobenen Anlässen schreiten sie einvernehmlich zum Altar der Worte und laben sich an ihrer unvergesslichen Gestalt. Man hat Frauen gesehen, die bloß von Rechts wegen schwanger wurden, doch auch im Yagir sind sie die Ausnahme. Die meisten schlagen sich irgendwie durch und finden Wahnsinn, was sie mit Wahn schlägt.