Weißt du, spricht das Kind zum Einhorn, ich kann nicht glauben, was du mir da erzählst. – Aber ich habe dir nichts erzählt, erwidert das Einhorn gekränkt. Sieh mich an! Siehst du nicht, was du siehst? – Ich sehe dich, aber ich weiß, dass du eine Geschichte bist. – Das weißt du? – Das weiß doch jeder. – Dann weißt du mehr als ich. – Das kluge Kind staunt: Aber du musst das doch auch nicht wissen. Du hast es ja selbst erlebt. –
Dass die Kunst nicht weiß, was sie weiß, ist ein Gedanke, älter als New York oder die Wiener Neustadt. Sie teilt diese Eigenschaft, falls es denn eine ist und nicht ein bloßes Vorurteil, mit der unvordenklichen Erzählung, dem Mythos, der einerseits mehr wissen soll als sie, andererseits weniger. Jedenfalls erteilt er denen, die vorgeben, sie verstünden etwas davon, Auskunft auf jede Frage, die sie ihm stellen – er ist gedankenoffen. Die Kunst wäre es auch, gäbe es nicht die Künstler, die alles erlebt, erlitten, erbangt, erjubelt und mitgeteilt haben, wovon ihre Werke berichten. Seit den Anfängen legt sich, was Künstler sich denken, als Schleier über das von ihnen Ersonnene. Wer ihn zu heben versucht, versteht rasch: Er ist angewachsen, ohne Verlust an ›Substanz‹ nicht zu entfernen.
Kunst gibt es, seit es Künstler gibt. Wer die Höhlenmalerei ersann, weiß niemand, der Wunsch, etwas über sie zu erfahren, führt ins Leere, in die ›Kultur‹. In den heutigen Netzen kehrt sich das um: »Du machst Kunst? Schön und gut, wir wissen, wer du bist, wenn nicht, können wir es uns denken. Lass dich nicht stören. Mach, was du willst, wir verstehen immer ›Gesellschaft‹. Was du machst, zeigt, wie die Gesellschaft über sich denkt. Die Gesellschaft, das sind wir.«
Es ist dieses kleine ›wie‹, das stutzig macht. Wie denkt Gesellschaft? Wie denkt der Einzelne als Teil der Gesellschaft? Wie denkt er, wenn er ‹Gesellschaft‹ denkt? Skeptischer? Abgebrühter? Gläubiger? In der Wissensgesellschaft ist Wissensskepsis Pflicht: Wer möchte sich vorwerfen lassen, er würde glauben, was andere zu wissen behaupten? Der Satz, dass Kunst der Erheiterung dient, hat etwas Erheiterndes. Seine Bedeutung changiert, je nachdem, ob dabei ›die Massen‹ oder ›die Wenigen‹ ins Spiel gebracht werden. Die einen finden sie komisch, die anderen lassen sich unterhalten. Wer sind die einen, wer die anderen?
Vorbei die Zeiten, in denen Kunst Aggressionen zu wecken verstand – wer jetzt aggressiv wird, dem geht es ums Geld oder ums Prinzip. Wo die Verführungskraft abreißt, entsteht der erheiterte Mensch. Auch darin ist die Kunst Vorbild (oder könnte es sein). Wer auf die etablierte Politik (Wissenschaft, Religion, Liebe etc.) keinen Pfifferling mehr gibt, verfällt eher in Raserei als ein Konzert- oder Museumsbesucher, der sich seinen Unglauben an die Kunst durch das Erlebnis bestätigen lässt. Kunst kann von allem leben. Warum nicht vom Unglauben an die Kunst? Immer hat Kunst, auch in Zeiten der Verfolgung, ein Wissen gelehrt, das des Glaubens nicht bedurfte. Warum sollte sie just dieser Unglaube schrecken?
Kunst will gesehen werden. Daraus wird schnell: Sie soll im Weg stehen. Aber: Was heute im Weg steht, wird morgen abgeräumt – als Gerümpel. Der winzige Teil des öffentlichen Raumes, den Grabbeau beansprucht, steht niemandem im Wege. Überhaupt sind die Wege um alles, was im Weg stehen will, längst gebahnt. Was einer sieht und was ihm dabei in den Sinn kommt, ist zweierlei.
In den Sinn kommen: das wäre Aufgabe und Praxis.