Ein früher Abend in Wien. Leichter Nieselregen. Vor dem Stephansdom wird die Duftmischung aus Pferdeäpfeln und Saftgulasch fordernder. Der Graben ist zu dieser späten Stunde menschenleer, einzig die genagelten Schuhe verhallen die Schritte im Wien.

Ich habe Wien als Emigrantenkind de Luxe erlebt, zwischen Durchgangslager als Fünfjähriger in Traiskirchen, sprachloser Dulder in Kalksburg und Opernballdebutant im Wiener Parkclub. Im Grunde eine sich windende Wolkenterrasse als Spielzimmer des verwöhnten Einzelkindes, innerhalb der allesverschlingenden Ansammlung von Fäulnis und aggressiver Larmoyanz in Menschengestalt. Ein verwilderter Garten, so schien es mir, in Form hierarchisch geschnittener Hecken.

Irgendwann gab mir Reinhard Priessnitz ein Buch: »Der Kopf des Vitus Bering« stand auf dem Umschlag, von Konrad Bayer. Fast beiläufig sagte er: »Das war der Dandy von Wien, der schwarze Prinz der Wiener Gruppe, absolut chirurgisch in seiner Genauigkeit.« Ernst Schmid jun., die Jacke übergeworfen, grunzte begleitend Unverständliches hinter seiner gewaltigen Mauer aus Fett, Bart und Brille, während Alkoholdunst die geistige Weite erfüllte. Ich entwarf das Plakat für seinen, wie ich glaube, einzigen Spielfilm »Die göttliche Familie« nach Heimito von Doderer, und nachdem wir öfters beisammen hockten, schaute ich immer wieder in die zweibändige »Anthologie des Österreichischen Experimentalfilms« hinein, die er mit Peter Weibel im Suhrkamp Verlag herausgegeben hatte. Langsam begann ich die subversive Eleganz als Genauigkeit des Denkens zu erkennen. Die aus zerrissenen Sätzen zusammengestellte Sprache löste die Halterung der Verständigung, um sich blitzartig im bezuglosen Raum zu verlieren, Erfahrungen, Schwankungen und leichtsinnige Erschütterungen als Fragment behandelnd. So besang sich das untergegangene Paradies und wurde durch den künstlerischen Gegenstand gleichermaßen zerstört. Was blieb, waren all die beschmutzten Werte und Begriffe, Erfindungen des Verstandes nach der Belle Epoque. Aristokraten, Dandys und Diven waren die Erfinder des Starkults, bevor es um Fragen der Machbarkeit und Vermarktung von fantastischen Projektionsflächen für jedermann ging. Ich verweise an dieser Stelle auf den »Dandy Dog« im ansprechenden Schottenmuster Cosimas von Bonin im Eingangsbereich. Der Unterschied liegt im eigenen Drehbuch: dem Nachahmer wird keine Fläche geboten, sondern nur das Plagiat der Erscheinung, in der er sein kleines Ich widerspiegeln kann. In der Sprachimitation des Bildkörpers darf er sich Posen aneignen, teilnehmen darf er nicht. Dieser Weg, triumphal und deswegen ohne Aussicht auf Erfolg, ergibt die Steigleiter, die Michel herabzusteigen entschlossen war. Während ich mit der ›Göttin der Wiener Avantgarde‹, Susanne Widl (Dicke Damen Doderer) im Laufe meiner Performance »Der Heilige Berg« 1982 in Wien, die Grenzen der vorgegebenen Bahnen ungestüm attackierte (Robert Hunger-Bühler rezitierte im schwarzen Anzug aus eben diesem Konrad Bayer Buch mit autoritärer Stimme, »…Vitus Bering lehnt am Reling und stellt sich die Weltfrage…«) da hatte Michel schon längst als Teil der Avantgarde diese künstlerische Erziehung begangen. Konrad Bayer hatte die Richtlinien bereits konkretisiert, Oswald Wiener »Die Verbesserung von Mitteleuropa« personifiziert und der Wiener Aktionismus war auf die Seite der Popkultur getreten. Am Ende konnte der belesene Spießer auf der anderen, der weißen Seite, sich rühmen, einen räudigen Knochen abbekommen zu haben. Der Fettfleck als Trophäe läutete sozusagen die Akzeptanz ein – man bekam etwas für sein Geld.

Haralampi G. Oroschakoff
Haralampi G. Oroschakoff

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