Aswan/Ägypten 1987
Es ist wohl eine bekannte Geschichte, die immer wieder erzählt wird: Die Geschichte jenen jungen Mannes, der sein Dorf verlassen muss, um in der Stadt sein Glück zu finden.
Die Familie, der Stamm und gar die Dorfgemeinschaft sammelt das noch Übrige: Geld, Proviant und das notwendige Totem, um den Fortgang des jungen Mannes zum erhofften Glück zu ermöglichen. Das ist, dass er alsbald Arbeit und Unterkunft findet und anderen Mitgliedern der Familie und der Verwandtschaft das gleiche Glück ermöglicht.
Mit Ratschlägen, Gebeten und rituellem Abschied beginnt die Reise in das Ungewisse. Angst, Scheu und Wut begleiten diesen Gang, der zu einer Unendlichkeit werden kann. Eine dramatische Variante ist wohl zu Fuß und Anhalter, beraubt, überfallen, verhungert und ohne Geld im Dschungel der Stadt anzukommen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben wie es weiter gehen wird.
Der ideal erscheinende Gang führt zu einer Adresse. Jene Adresse in der Stadt, in der die Verwandten und Bekannten, die vor ihr oder ihm das Dorf verlassen haben, vermutet werden. Bei jenen Siedlungen, die sich im Laufe der Zeit in unterschiedlichen Gebieten der Stadt fest verankert haben und tausende Bewohner geworden sind, kann die Adresse relativ schnell ermittelt werden. Jene Bezugspersonen sind jedoch kaum auffindbar, die permanent ihre Unterkunft neu erfinden müssen. Abriss und Vertreibung gehören zum Alltag mancher Städte. Die Gründe können unterschiedlicher Art sein: Straßenarbeiten, Siedlungserweiterung oder auch schlichtes Vertreiben der Armen aus den strategisch wichtigen Bereichen der Stadt. In diesem Fall hat der Neuankömmling es schwer, denn arm und fremd in der Stadt zu sein kann dramatische Folgen haben.
Die Statistiken zum Missbrauch, zur Vergewaltigung und Ausbeutung dieser Menschen fehlen logischer Weise, denn sie gehören zu den lobbylosen Armen.
Der Empfang des Neuankömmlings durch die Verwandten wird oft romantisch im Sinne des puren Willkommens antizipiert. Schon bevor die Odyssee in Richtung der Stadt beginnt, wird die uneingeschränkte, gar emphatische Aufnahme und Unterstützung durch die potentiellen Bekannten in der Stadt genüsslich, verführerisch und als selbstverständlich dem Schickenden unterbreitet. Dass die Realitäten hart und erbarmungslos sind, will und kann nicht auf dem Lande ankommen, denn die Favelas, Bustees, Barrios Populares, Shanty Towns, Ghettos und die informellen Siedlungen beherbergen inzwischen etwa eine Milliarde Menschen. Diese Zahl steigt radikal.
Wenn Ernteverlust, Hunger, Krankheiten, Terror und der allgegenwärtige Tod den Alltag auf dem Lande bestimmen, dann kann doch nur die Hoffnung zum Besseren im Mythos der Stadt liegen. Die Widerlichkeiten des Alltags, das Elend in der Stadt und die Gewalt haben keinen Platz in den Phantasien des Nicht-Städters. Somit wird das Verlassen der Hoffnungslosigkeit in eine ungewisse Zukunft zu einer abenteuerlichen Reise des neuen Stadtbewohners. Der Willkommensgruß der Zugehörigen entspricht nicht immer den Erwartungen. Da man sich nicht verleugnen konnte und die soziale Bindung zum Herkunftsort verpflichtend ist, wird das neue Mitglied zögernd in das eigene Elend aufgenommen. Ob er oder sie bald auf eigenen Füßen stehen wird oder zum dürftigen Haushalt etwas beitragen kann, wissen nur die Götter. Fest steht, dass wegen des Neuankömmlings das kaum Vorhandene erneut zerlegt wird. Die Essensrationen werden geringer und die Nutzung der reduzierten Unterkunftsflächen erneut geteilt. Wohntraditionen, Riten, sozial-kulturelle Erfordernisse werden durch die zunehmende Dichte obsolet.
Der Gang in die Stadt ist schon seit Jahrzehnten unaufhaltsam.
Zugleich ist festzustellen: so wie die individuelle Geschichten und Schicksale unterschiedlich sind, so sind auch die baulich-räumlichen, sozial-kulturellen, gewohnheitsrechtlichen, traditionellen, und geographischen Gegebenheiten der Städte unterschiedlich.
Mehrgeschossige Bauten, deren Treppenhäuser und Balkone als Erweiterungsräume für unterschiedliche Nutzungen von Abstellplatz, Schlafraum, Stall oder ähnlichen Dingen dienen, bis hin zu illegalen Bauten, die sich in die Stadtanlage wie Parasiten hineingefressen haben. Dass sie in der Regel ohne jegliche Infrastruktur sind, ist bekannt.
Die verantwortlichen Instanzen der Stadt sind unfähig und orientierungslos. Neben irrelevanten Einzelmaßnahmen existieren keine ernstzunehmenden Strategien, die einer nachhaltigen Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen nur im Ansatz gerecht werden. Der Verdacht liegt nahe, dass die Armen keinen Platz haben im ethisch-moralischen Repertoire der sogenannten Oberschicht. Warum auch! Eine Verantwortung für die Gesellschaft zu empfinden und sich als ein Teil einer Solidargemeinschaft zu verstehen, bedarf es einer gesellschaftlichen Vereinbarung und genau die fehlt in manchen Kulturkreisen.
Februar 2018
Aufnahme © Omar Akbar