Klaviaturen sind für diejenigen, die Neues wagen wollen, etwas Ehrfurchtgebietendes. Sie sind etwas Statisches, das gewachsen ist und Respekt verdient, aber eben auch zu Differenzen herausfordert, so wie die Stadt und die Architektur.
Bekanntlich ist das Klavier ein Bauwerk, ein architektonischer Körper, ein programmatisches und pathetisches Instrument von ungeheurer Arroganz.
Es ist ein Körper, der signifikant ist und den Raum determiniert. So ist es auch mit symbolischen Architekturen wie der Elbphilharmonie, dem Eiffelturm oder der chinesischen Mauer.
Das Klavier ist eine Welt für sich, ein Töne-Theater, ein klingendes Universum. Für Musiker wie Komponisten sind die Tasten gleichsam auch Signaturen für eine doppelte Unendlichkeit: einerseits für die Unerschöpflichkeit ihres musikalischen Schatzes, anderseits das Zeichen der Unbegrenztheit spielerischen Potentials. Kein Stück wird jemals gleich gespielt, es verändert sich stets. Die eigene Stimmung und der Ort bestimmen die Differenzierung.
Musik ist als ephemere Kunst per se different und kaum eine Kunst ist so direkt emotional geprägt wie die Musik. Vielleicht wurde gerade deshalb ein Instrument wie das Klavier so wichtig, das mit seinen achtundachtzig Tasten ja auch so etwas wie einen tonangebenden ästhetischen Kanon vorzugeben versucht, der helfen soll, die Differenzen zu bewältigen, indem er sich diese einverleibt.
So ist die Klaviatur ein Monument gebauter Ordnung der Töne. Als Flaggschiff der wohl temperierten Stimmung hat es sich zum Simulationsinstrument per se entwickelt. Als eine seltsam hybride Mischung aus Schlag‑ und Saiteninstrument eröffnet es klangliche Variationsmöglichkeiten, über die kein anderes Instrument verfügt. Am Klavier entstanden Kompositionen für die verschiedensten Instrumente und Spielweisen.
Die ›Klaviatur‹, längst sprichwörtlich, repräsentiert in ihrer potenziellen Offenheit zugleich die äußerste Ordnung. Das Klavier gibt uns immer eine musikalische Antwort. Selbst wenn man es mit der Faust traktiert, antwortet es noch mit einer Art Akkord. Wer den ganzen Unterarm auf der Tastatur ablegt, erzeugt einen Cluster. Wer die Klaviatur in einem Wisch abstaubt, produziert ein Glissando.
Das Klavier ist eine ästhetische Ordnung in sich, lange schon, bevor jemand darauf zu spielen beginnt, prägt es die räumliche Konstellation, in die sich andere Mobiliare einfügen müssen.
Als Körper dominiert ein Klavier, vor allem in seiner Königsform, dem Flügel, jeden Raum. Es ist wie ein Monument, das die königliche Pracht idealer Klangfrequenzen ausstellt, wie eine Schatzkammer, in der alles versammelt ist, was drei Jahrhunderte an Ingenium, Tüftelei, Materialkenntnis, pianistischer Erfahrung und Präzisionsekstase sich haben einfallen lassen.
Jedes Klavier ist als Behauptung, dass harmonische Ordnung möglich ist, dass sich Chaos und Differenz (in einem System) bändigen lassen, zugleich eine Provokation. Denn natürlich ist die wohl temperierte Klaviatur auch eine Illusion, die, wenn man sich ihr unkritisch und unreflektiert hingibt, ermüdend und lähmend sein kann. Am deutlichsten hatte sich diese Illusion einer zeitlosen Harmonie vielleicht zuletzt in den gutbürgerlichen Haushalten festgesetzt, als es zum guten Ton gehörte, dass die Kinder Klavierspielen, bis letztendlich das Klavier zeitweise als ›bürgerliche Klangkommode‹ verachtet wurde. Vor allem im 20. Jahrhundert, als die Künste sich radikal von allen vorformulierten kanonischen Harmonieillusionen zu verabschieden suchten, wurde das Klavier auch zum Gegner, der mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln traktiert wurde. Es gibt kaum ein Körperteil zwischen Rücken und Handgelenk, Schulterpartie und Oberarm, mit dem nicht schon ein Klavier bearbeitet worden ist.
Paul Hindemith schrieb in seiner „Gebrauchsanweisung zu seinem Klavierstück 1922: »Betrachte das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend.« Henry Cowell attackierte sein Klavier öffentlich mit Fausthandschuhen und wagte als Erster Anfang der 20er Jahre den Griff in die Saiten eines Flügels. John Cage spielte mit einem präparierten Klavier, indem er Gegenstände auf die Saiten legte. Andere folgten, bearbeiteten ihre Klaviere dergestalt, dass die damit erzeugten Töne und Klänge kaum mehr an traditionelle Klaviermusik erinnern konnten. Man legte z. B. Metallkugeln auf die Saiten oder schlug mit Stöcken oder anderen Dingen auf den hölzernen Klangkörper ein.
An der Autorität des Klaviers hat dies nichts geändert. Trotz aller Exzesse bleibt das Klavier eine Macht, die scheinbar allen Angriffen trotzt. Mit der Stadt und deren Gebäuden geht man anders um. Sie werden nachhaltig verändert.
Auch wenn elektronische Formen hinzugekommen sind, bleibt man dem Original treu. Wer sich ein Klavier anschafft, legt sich gewissermaßen im Wortsinn fest. Ein Klavier steht für Beständigkeit.
Solche starken gestalterischen Manifeste erscheinen angesichts der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungsprozesse, die gegenwärtig global ablaufen, kaum noch zeitgemäß oder möglich. Die Komplexität unserer Gesellschaft mit ihrer fortschreitenden Individualisierung und Medialisierung fördert Integrationsmodelle wie das Klavier oder architektonische Gesamtkunstwerke kaum. Die Anwendung moderner Medien führt eher zu selektiven Aufspaltungen und Ausdifferenzierungen einzelner Wahrnehmungsmodi. Die Sehnsucht nach gestalterischen ›Ganzheitlichkeiten‹ bleibt dabei eine Leerstelle, die in der Regel nur temporär und situativ durch besondere Events, durch starke Ereignisse besetzt wird.
Temperierte Systeme wie die Klaviatur, die repräsentativ Gestaltungsmittel aus all gemeingültigen Ausdrucksweisen ableiten, sind kaum dauerhaft möglich.
Die Frage ist auch, ob so etwas überhaupt sinnvoll wäre. Auch wenn die Klaviatur als Metapher und das Klavier als historisches Manifest geordneter Ausdrucksmittel nach wie vor fasziniert, mag wohl kaum jemand z. B. an einen universellen städtebaulichen oder architektonischen ›Werkzeugkasten‹ – als ›städtebauliche Klaviatur‹ – ernsthaft glauben. So wie das Klavier als Monument der europäischen Musiktradition keine globale Gültigkeit beanspruchen kann, kann es auch keinen universal anwendbaren Formen‑ oder Methodenkanon für Architekten oder Städtebauer geben.
Dennoch möchte wohl niemand auf die provozierende Präsenz einer italienischen Piazza, mittelalterliche Stadtzentren oder auch die arrogante Leichtigkeit der architektonischen Moderne als Widerpart für neue Ansätze verzichten.
Klaviaturen, die Differenzen ordnen, erzeugen bzw. provozieren durch ihren Anspruch immer wieder neue Differenzierungen. Man kann sie nicht ignorieren, sie fordern unsere Leidenschaften heraus – manchmal über die Schmerzgrenze hinaus; wie bei Glenn Gould, der sich bei Fugen von Bach die Finger blutig spielte.
Das Klavier ist wie ein musikalisches Gebäude – ein Raum für sich – mit einer verblüffenden, geradezu ikonischen Formkonstanz. Es steht im Mittelpunkt eines Universums, in dem Musik als räumliches Phänomen gegenwärtig ist, geprägt von dem Bewusstsein, der Raum entscheide, wie welcher Klang erzeugt wird. Es erinnert uns immer wieder daran, das Musik nichts Virtuelles, sondern etwas durch und durch Physisches ist. So wie Architektur trotz aller Debatten um eigenschaftslose Städte und soziale Raumkonstrukte letztlich immer nur körperlich erlebt werden kann und letztendlich eine körperliche Entscheidung ist. Böden, Wände, Decken, Höhen, Tiefen, Weite, Dichte, Farben, Materialien usw. sind wie die Grundtöne zu verstehen.
Klaviaturen haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Sie sind wie Traditionen nicht mehr quasi natürlich gegeben, sondern werden zur Aufgabe, zum Gegenstand des Denkens und Handelns. Sie werden als implizite kulturelle Hintergrundsysteme thematisiert und reflektiert, nicht als zeitlose, sondern als geschichtliche Phänomene.
Natürlich gibt es auch gegenläufige Tendenzen wie Re‑Traditionalisierung und Fundamentalismen, die auf die Verteidigung oder Wiederbelebung von nationalen, regionalen und lokalen Traditionsbeständen – man könnte auch sagen ›Klaviaturen‹ – zielen.
So wird die Suche nach ›Klaviaturen‹ reflexiv und individuell. Kann es da noch die Aufgabe der Stadt sein, Orte zu schaffen, die individuell und erkennbar sind? Oder sollte man sich mit einer globalen Architektursprache arrangieren, die Ähnlichkeiten schafft und das Besondere der eigenen Stadt mehr und mehr revidiert?
Der Strudel der Beliebigkeit erzeugt offenbar den starken Wunsch, auf festem und sicherem Grund zu stehen. Diesem Bedürfnis scheint ein Korpus verlässlicher Regeln entgegenzukommen, der nicht allein durch die Jahrtausende alte Geltung des ›Immer‑schon‹ legitimiert wird, sondern mehr noch durch die Aura von Urprinzipien, die gern zitiert werden.
Dennoch existiert keine sichere Basis für Gültigkeit, jeder Versuch, normative Ästhetiken zu etablieren, ist historisch geworden.
Was in den Künsten als zukunftsträchtig gilt, hat meist mit Verfremdung, Des-Automatisierung und Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten zu tun. Das sind Grundoperationen der künstlerischen Avantgarde. Sie sind geeignet, um bewusst funktionale Offenheiten und Undefiniertheiten herzustellen. Doch was ist, wenn es keinen Kanon, keine allgemeingültigen Wahrnehmungsmuster gibt, die es zu dekonstruieren gilt?
Um ein Klavier spielen zu können, ist meist jahrelanges Training und eine fundierte Sensibilisierung für die Kraft der Töne wie der Musik nötig. Dilettanten haben am Klavier meist wenig Chancen. Das Klavier ist als eine Bastion zu sehen, die sich dem einfachen Zugriff verweigert. Auch dafür steht das Klavier, für das Alte. Es ist wie ein Archiv von Möglichkeiten, die es zu differenzieren gilt.
Doch jedes Neue ist nicht beliebig und hat mit dem Vorhandenen zu tun.
Bei Adorno heißt es dazu: »Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur.«
In diesem Sinn ist die Klaviatur die Wirklichkeit, unsere Gegenwart und Zukunft.
Heatherwick, New York’s Staircase – Aufnahme © Omar Akbar 2020
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