Zur Ästhetik der Behaglichkeit und des Widerstandes

1 KunstPunkt

Der Punkt gehört zum engeren Kreis der Gewohnheitserscheinungen mit ihrem traditionellen Klang, der stumm ist.

Der Punkt ist Urelement, Befruchtung der leeren Fläche. Die Horizontale ist kalte, tragende Basis, schweigend und ›schwarz‹. Die Vertikale ist aktiv, warm, ›weiß‹. Die freien Geraden sind beweglich, ›blau‹ und ›gelb‹. Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie ›Ferne‹, rechts wie ›Haus‹.

Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche (1926)

Das Auge folgt den Wegen, die im Werk für es angelegt worden sind.

Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch

Alle Himmelskörper sind gleich weit von jedem Punkt der Erde entfernt. Schon in der Antike gab es perspektivische Darstellungen, doch erst der Architekt Filippo Brunelleschi entdeckte, dass alle Fluchtpunkte einer zeichnerischen Darstellung, die in eine zentrale Perspektive zusammenlaufen, die Illusion einer räumlichen Tiefe suggerieren.

Art & Illusion (Eugen Gombrich). Hogarths False Perspektive, die schwarze Kunst Gutenbergs oder die Welt televisionärer Pünktlichkeit weisen uns den Weg in die Abgründe, zu den Läuterungsbergen und Gipfeln der Verzweiflung. In Ibsens Drama Wenn wir Toten erwachen erklimmt der Bildhauer Rubek gemeinsam mit seiner Frau Maja den Berg Analogue (René Daumal) und reflektiert während des Aufstiegs die Fluchtpunkte seines Lebens.

Die Kontra-, Höhe-, Schluss- und Fluchtpunkte der Kultur bestimmen die Perspektiven des Seins. Der jeweilige Ausgangs- und Blickpunkt bringt die Welt, in weiter Ferne so nah, öffnet oder schließt die Pforten der Wahrnehmung. Narren also die, die den Berg nur aus der Nähe betrachten und Bücher nur aus der Ferne. Das Buch der Erinnerung, der Wandlung, der Unruhe, Das Buch der verbotenen Bücher (Werner Fulds Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute)..., gute Bücher sind vielseitig, ihre Bedeutungsperspektive erwächst aus Gesichts- und Standpunkten, die wir in uns hinterfragen, pflegen und leben.

Wird Kasimir Malewitschs »Nullikone der Kunst«, das 1913 auf weißen Grund gemalte schwarze Quadrat, in Rotation versetzt, verwandelt es sich mit zunehmender Geschwindigkeit im Wahrnehmungsspektrum unseres Sichtfeldes in einen Punkt. Der springende Punkt unter den gerasterten, fliehenden, reflektierenden und interagierenden, er führt das Phänomen der Wechselwirkung von Ordnung & Unordnung, Fixierung & Flucht, Veränderung und Extinktion vor Augen: die Phänomene des Entschwindens – die Kreise, die des Daseins Kreise vollenden. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der kosmische Spiegel, der Name des Herrn Kreis. Hermes Trismegistos lehrte »Gott ist ein Kreis, dessen Zentrum überall und dessen Umfang nirgends ist.« Allpünktlichtkeit fliehend.

Der französische Theologe und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin betrachtet den Kosmos als Organismus, in dem alle Teilchen und Photonen miteinander verbunden sind und den gesamten Kosmos durchtönen. Physikalisch befinde sich das Universum in räumlicher Ausdehnung. Chemisch scheine es sich zu weiteren Organismen zusammenzurollen (vom Einfachen zum Komplizierten). Dieses »Einfalten« bedinge die Bewusstseinserweiterung und strebe nach immer größerer Komplexität. Irgendwann werde ein Punkt höchster Komplexität erreicht sein: der Punkt Omega, das Ziel der Schöpfung, also Gott.

Kreise um Punkte ringend. Dreh- und Angelpunkte. »Alles dreht, dreht sich im Kreis« (Hildegard Knef): Calders Mobile. Mit kinetischen Konstruktionen und der Inszenierung von Licht betrat die Künstlergruppe ZERO – Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker – 1959 Neuland. Ihr Ziel: nach der Stunde Null in Deutschland: eine bessere, schönere Welt zu gestalten. Utopien tanzender Lichtpunkte. Der Punkt und sein Schatten. Autokinetischer Effekt. Sherif-Experiment zur Meinungskonvergenz und springender BlickPunkt. Das Bild der mit gestochenen Punkten verfremdeten Leinwand des Künstlers Oresch entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als Figur eines punktmanierlichen Schmetterlings. Der Bildhauer Günter Uecker akupunktiert, schlägt auf des Nagels Kopf, dringt mit dessen Spitze in Materialien, ummantelt einen riesigen Würfel, eine Kugel mit Nägeln – versammelt genagelte Punkte zu einem Kreis. Tony Craig formt aus tausenden SpielWürfeln seine punktuellen Skulpturen.

Das Große wirkt im Kleinen – die Vielen in den Wenigen. Das All in der Miniatur. Aus einer Vielzahl gerasteter Punkte entsteht der Druckspiegel. Der Buchdrucker unterteilt ein Cicero in zwölf Punktgrössen. Cicero heißt im Bleisatz eine der mittleren Schriftgrößen. Sie hat eine Kegelhöhe von zwölf Didot-Punkten, das entspricht 4,512 mm. Die Entsprechung in zwölf DTP-Punkten misst 4,233 mm. Doppelcicero heißt die Größe von zwei Cicero, also 24 Punkten. Das sind 9,024 mm, entsprechend in DTP-Punkten 8,467 mm. – In ihrer Offizin in Rom druckten Sweynheym und Pannartz 1467 die erste Ausgabe der Epistulae familiares von Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.).

In der Musik bildet der Kontrapunkt – punctus contra punctum – einen Gegenpol. In der Notenschrift bedeutet ein Punkt unter einer Note »staccato« = abstoßen, absondern (von Tönen), so hervorgebracht, dass jeder Ton vom andern deutlich abgesetzt ist. Kontrapunkt des Lebens ist ein Roman Aldous Huxleys betitelt.

Auf der rechten Bildtafel des Triptychons Garten der irdischen Lüste, in der Hölle also, hat Hieronymus Bosch ein vivisektiertes Ohr gemalt, das von einer Nadel an der Stelle akupunktiert wird, die die Sexualfunktion stimulieren soll.

Für seine Serie Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer verwendete Goya die Punktiermanier, bei der die Kupferplatte durch mit der Punze oder Roulette eingeritzte Punkte gezeichnet wird.

Rodin übertrug die Fixpunkte seines Modells Der Denker maßstabgerecht auf den zu bearbeitenden Marmorblock. Camille Claudel erschuf ihre Skulpturen ohne zu punktieren.

Fluchtpunktgedanken. Übertragung. Punktförmigkeit. Durchschuß. Der Punkt ist eine Gewohnheitserscheinung. Bindi, der auf die Haut gemalte Punkt zwischen den Augen, symbolisiert rituelle Zugehörigkeit, das dritte Auge. Der Kunstregen des Pointillismus erschuf punktuelle Gemälde, deren ungemischte Farbigkeit sich optisch vollzog. Die Geburt der abstrakten Malerei beginnt mit weißen, auf einer weißen Leinwand gesprühten Punkten. Dropping Art. Schneesturmgemälde.

Gespiegelte Punkte schaffen Aussichten, Lichtpunkte übertragen Welten. Sole Sonett. Der springende Punkt, von dem das Leben ausgeht, folgt dem Pfiff um die Ecke. Das Punktuelle ist der Schönheit atmende Pore, ihr pulsierender Stern. Ist das aus Perlen geformte WeltenEi. Ist der mit tausend und einem Punkt geschmückte Falter. Das Punktauge des Tausendfüßlers. André Thomkins Knopfei. OvArien. Doppel:Dotter& Dot. Pünktchen und Anton. Der springende Punkt der Wahrnehmung im Vexierbild. Perle, Diamant, Fleck, der Schönheit anziehender Punkt. Des Blei- und Silberstiftes zugespitzter Punkt, pyramidial.

BlauPunkt. Schwachpunkt. Spiel. Punkterregtheit. Druck, Zeit, Stich, Stand, Zielpunkte. Punktlosigkeit NullA und Punkte für alle. Erregungs- und Berührungspunkte der Alchemie der E-motion. Auftauchen aus dem Nigredo, hinein in die Illuminationen. Ausgangs- und Treffpunkt perspektivischer Resultanten. Mittelpunkt. Op-Artigkeit, Leuchtpunkte, Schönheitsflecken der Kunst. Atmende, kinetische Punktspielereien.

Im Museum der Punkte sind 100 Farbmonitore im Kreis angeordnet, jeder Monitor verfügt über 100000 Pixel-Bildpunkte. Diese Installation nennt der Künstler Oresch Vom Nullgrad der Textlichkeit zur nullmedialen Punkt-um-Wirklichkeit. Punkt: 0000 UHR – Juli Zeh stellt ihren Roman Nullpunkt vor.

Die Besucher erahnen es: Wo der Quadratische Horizont der Television (Paul Virilio, Rasender Stillstand) aufgeht, wo ein PC und Fernseher steht, da ist der MittelPUNKT der Welt in allen Wohnzimmern. Überschriften, Headlines, Buch- u. Filmtitel, Plakatlandschaften und die Welt der computierten Filme auf der Digitalen stimulieren und verstärken unsere Sehnsüchte.

In téchnēs televisionären Augen wundersam, sehen wir uns selbst Fluchtpunkt werden: Wir bereisen unendliche Bibliotheken und enzyklopädische Suchmaschinen, deren »pädagogischer Eros« (H.Nohl) Heiner Müllers Shakespeare oder Tommy Ungerers FICKmaschine, ... Topor, Tod & Teufel und mehr noch ausspuckt. Wunde Punkte, pünktliche Wunder. Traum &Trauma.

Mit einem Knopfdruck eröffnet sich dem User der abrufbare Himmel der Konsummythen und Künste, das punktuelle, allgorythmisch Bedürfnissen zugeordnete Gedächtnis der Welt. Auf Abruf: Traurige Tropen, die Bauwutgeschichte der Lapis-Verehrer, Veroneses Dialektik, Michelangelos al fresco ausgemalte Sixtinische Kapelle, Eiffels Fahrstuhl, der in Lissabon die Unter- mit der Oberstadt verbindet, Oscar Schlemmers Gemälde Bauhaustreppe (1932) oder Scheros Vier Schaufenster-Gemälde (1984), dessen zentrale Perspektive Menschen auf der Rolltreppe zeigt.

Treffpunkte und Augenblicke. Draußen in den Kunststädten Le Corbusiers erleben wir die Architektur als begehbaren Film. Schaufenster sind Sehnsuchtsorte alltäglicher Televison. Allgegenwärtig ist das System der Verteilung von Bonus-Punkten, die Aufforderung Punkte zu sammeln. Der Punkt-um-Mensch ist pünktlich. Er sammelt. Er folgt den klingeltönenden Botschaften auf seinem handlichen Taschendisplay. Er lechzt danach, dass sein mobiler Kommunikations- und Bedürfnisaltar ihn mit Anregungs- und Erregungspunkten durchtönt. Und jede Pore, pünktlich angerufen, Botschaften erhält und punktet. Die errötete Punktansammlung signalisiert Berührung – der Point of no return das Verschwinden der selbstreferierten Unbekümmertheit. Es bleiben die akupunktierten Nervenpunkte.

Das System übertragener, springender, temporärer und fixer Punkte setzt die Mentalitäten des Suchens und Findens zusammen, es führt zu »Treffern« und fragwürdigen Betroffenheiten. Zielpunkt, Punkt & Ziel, Endstation Sehnsucht. Der Sterne- und Punktesammler liebt seine Kultur, die auf der Flucht vor sich selbst das eigene Fremde der Empfindungen & Erlebnisse erzeugt.

Die Gottheiten unserer ungezählten Tode – Zeit- und Brennpunkte des Fortschrittes – akupunktieren Gehirne, Gehirne (Gottfried Benn). Der Wissenschaftler José Manuel Rodríguez Delgado »dass er nicht nur Sinneseindrücke erzeugen konnte, sondern auch durch Stimulation von Regionen zum Beispiel in Amygdala und Hippocampus Emotionen der Patienten auslösen konnte (und im Teil des Limbischen Systems namens Septum pellucidum starke Euphorie) und bei Stimulierung des Motorcortex physische Reaktionen… »In einem spektakulären Experiment in einer Stierkampfarena stoppte er einen Stier, der ihn angriff, wenige Meter vor seiner Person durch Stimulation des Nucleus caudatus mit seinem Stimoceiver« (Wikipedia).

In seinem Roman Saturday lässt Ian Mac Even den ethischen Fluchtpunkt der Verantwortlichkeit und den zufälligen der unreflektierten Agression, einen gewalttätigen Jugendlichen und einen Gehirnoperateur aufeinandertreffen. Fuge und Fügung. Der Jugendliche terrorisiert die Familie des Neurochirurgen, wird verletzt und von eben diesem Arzt, der seine Nerven während der Operation mit klassischer Musik beruhigt, am offenen Gehirn operiert.

Alle punktpünktlichen Fortschrittlichkeiten & Erscheinungsbilder, die den Tod in der Moderne verniedlichen& illustrieren, setzen uns unter Strom und die Schmerzpunkte des ethischen Empfindens sterben allmählich ab. Fritz Perls Gestaltlehre veranschaulicht diese Empfindungslosigkeit metaphorisch durch das Bild des Loches. Durch und durch durchlöchert: Das skulpturale Sinnbild ist nicht Jonathan Borofskys weltweit in Variationen aufgestellter Hammering Man, es ist sein Molecule Man, eine nur aus Löchern in Stahl dargestellte, also durchlöcherte MenschFigur, die 1999 in Berlin, in der Spree bei Treptow verankert wurde.

Schlusspunkt! Botschaft der Künstlerschaft: »Pünktlichkeit bestiehlt die Zeit.« (Oscar Wilde) Wir verdichten jetzt Höhepunkte, schauen fern, entdecken unbekannte Sterne. Unser stellares Tagebuch der tropfenden Tränen ist hochprozentig. Ist Essenz, in Wolkenschrift notierte   Wir dringen in die tiefen, endothymen Schichten des Traumbewusstsein ein und reisen mit Wolkengleichnissen ins Kunterbunte. Wir werden alle Punkte der finalen Lustbarkeit erproben und schlusspünktlich Seneca folgen, der lehrte, Philosophie sei Vorbereitung auf den Tod. Wir sind tropfende Kerzen, sind Glühwürmer, die erleuchtete Horizonte besingen. Ja, alles ist eins. In Gezeiten, Gewittern, Geschehnissen, Gedanken, Geschenktheiten. E-Motion, Kraft, Stoff, Energie, Tonalität des Einklanges. Zuversicht des Ausklanges. Tempi, Temperament, Temptation, Temperatur. Punkt.

 

Herbert Schero

freier, multimedial arbeitender Künstler