Die Gemälde von John Tierney
Als ich vor einiger Zeit einer Freundin erzählte, daß ich mir ein Ölgemälde des Malers John Tierney gekauft hätte, fragte sie mich, was darauf zu sehen sei: Ich antwortete wahrheitsgemäß: Farbe, eben nicht eine »richtige« Kuh.
Auf seiner Homepage (http://www.john-tierney-painter.com) sagt John, daß Kunstwerke wie Landkarten seien. Einerseits möchte ich ihm zustimmen, andererseits doch darüber hinausgehen. Landkarten sind in der Tat für den, der sie macht, nicht Abbilder, man muß vielmehr das Land durchmessen, durchschritten, erwandert haben, um es in einer Karte festhalten zu können. Der Benutzer der Karte wird nicht sagen können, wenn er die Karte sieht, nun kenne er das Land, auf das sich die Karte bezieht. Ihm dient die Karte dazu, das Land allererst erwandern zu können, und er tut es, indem er zuerst die Karte durchwandert. Aber ich möchte John Tierney auch ergänzen. Bilder sind mehr als Landkarten. Die Länder, deren Karten sie sind, erschaffen sie allererst; sie beschreiben nicht nur Orte (also Farben, Rhythmen), sondern schaffen neue. Das tun sie auf zweierlei Weise, wenn es sich um große Kunst handelt: im Schaffen des Künstlers und im (wiederholten) Sehen des Betrachters. Die allermeisten und die wichtigsten Werke Tierneys sind abstrakte Malerei. Der große Vorteil abstrakter Malerei für den Betrachter, jedenfalls im Falle gelungener Kunst, besteht darin, daß im wiederholten Schauen stets Neues entdeckt werden kann, ohne durch Wiedererkennens-Blockaden im Sehen festgelegt zu sein. Wenn auf einem Bild ein Haus zu sehen ist, wird der Betrachter bei jedem wiederholten Betrachten dazu verführt sein, wieder und wieder das Haus zu sehen, und eben nicht jenes Rot, das sich irgendwie von einem wogendes Grün wie ein Schrei absetzt. Wenn man aber ein abstraktes Gemälde vor sich hat, in dem ein Weiß einen dominanten Rhythmus des Ganzen abgibt, dann kann man den Relationen zu den anderen Teilen der Fläche, zu den anderen Farben des Bildes folgen oder zu den anderen, subdominanten Rhythmen.
Als ich selbst meinen ersten »Tierney« erwarb, zögerte ich lange mit der Entscheidung zwischen zwei um meine Gunst buhlenden Bildern, das eine zog mich spontan in seinen überwältigenden Bann, das andere wirkte langsamer und anhaltender. Ich habe mich für das zweite entschieden. Wegen seines überwältigenden Eindrucks bewirkte das erste zugleich eine Blockade, immer wieder dasselbe in ihm sehen zu müssen, bzw. immer wieder den gleichen Linien und Spuren folgen zu müssen. Das zweite wirkte und wirkt bis heute verhaltener und erzeugt in den wiederholten Seh-Erfahrungen immer neue Ereignisse. Es ist wie mit erotischen Erfahrungen: einige wirken so stark und überwältigend, daß man ihnen nicht oder nur schwer widerstehen kann. Aber diese Erfahrungen lassen sich nicht differenzierend wiederholen. Sie fixieren und blockieren; deshalb kann man mit solchen Erfahrungen nicht »verheiratet« sein; und es gibt jene subtileren Erfahrungen, die es erlauben, mit dem Partner stets neue Ereignisse zu schaffen und Erfahrungen zu machen. Es ist gewiß eine sehr persönliche Einstellung, mit welchem von Johns Bildern jemand einen »Bund fürs Leben« eingehen möchte. Schließlich sind die erwähnten Seh-Blockaden eher Unfähigkeiten und Defizite des Betrachters als solche der Werke selbst, die sich in ihrer Offenheit für sehr verschiedene Erfahrungen und Erkenntnisse eignen.
Zwei Dinge charakterisieren das Werk von John Tierney in hervorragender Weise: die Farbe und der Rhythmus. Unter Rhythmus ist dabei zu verstehen die Begegnung zweier Zeiten. In den Bildern Tierneys sind es auf der Hauptebene des Gestalteten folgende zwei Zeiten: erstens die Verführung des Sehens in eine bestimmte Bewegung hinein, also eine rein sinnliche, quasi musikalische Zeit; zweitens ist es die erkennende Entdeckung der Zeit des Gemalten, also eine rationale Zeit eines identifizierende Cogito. Die erste Zeit ist die im Sehen sich stets neu errichtende in im gesehenen Bild sich einrichtende Zeit, eine gelebte Zeit (temps vécu), die sich in der Bewegung der bemalten Fläche, d.h. im zweidimensionalen Raum realisiert. Die zweite Zeit dagegen wird lesbar wie ein Palimpsest. Die erste Zeit ist mehr die des Malers während des Schaffens, die zweite mehr die des Betrachters, wenn er die Distanz des wiederholten Sehens gewonnen hat. Aber tatsächlich überkreuzen sich beide Zeiten permanent und geben den Bildern ihren spezifischen Rhythmus. Die erste Zeit ist nur scheinbar diejenige, die mit einer weißen Leinwand beginnt, mit den Grundierungen und den ersten Farbschichten fortfährt bis hin zu jener letzten Bemalung, in der dann die zweite Zeit beginnen könnte. Aber in doppelter Weise ist es nicht so. Denn der Maler malt »sehenden Auges«, was nichts anderes heißt, und das wird in Tierneys Bildern überaus deutlich, daß das Bild von den ersten Pinselstrichen an rhythmisch, d.h. als die Begegnung mehrerer Zeiten und Bewegungen verfaßt ist, und zweitens ist natürlich der Beginn nicht die weiße Leinwand. Jeder Beginn löscht einen anderen aus (andere schon vorhandene Bilder oder andere Möglichkeiten), jedes Bild löscht aus, übermalt und negiert andere Möglichkeiten und gewinnt genau dadurch seine spezifische Gestalt, Und das heißt in Tierneys Bildern vor allem seinen spezifischen Rhythmus und seine spezifische Farbgebung. Über die Farbgebung ließe sich auch vieles sagen, und man wird wieder verleitet, von musikalischer Metaphorik Gebrauch zu machen und zu sagen, daß es im Werk Tierneys wiederkehrende Harmoniken oder »Zwölfton-Reihen« gibt. Mir selbst sind auffällig geworden eine Reihe von Bildern, in denen Blau und Weiß dominant sind, und andere in denen es eher um eine Begegnung von Rot und Schwarz geht. Aber insgesamt gibt es eine solche Vielfalt singulärer Farb-Begegnungen, daß jede Verallgemeinerung der gerade geäußerten Art eher etwas über die Attraktionen, denen ich als Betrachter ausgesetzt war, aussagt als daß es als einer objektiver Befund über das Gesamtwerk zu sein beanspruchen könnte. Die zweite der genannten Zeiten doch auch nur scheinbar der unbeschwerte und unbefangene Eingang in das Bild, sozusagen nur scheinbar die Verführung einer naiven Unschuld des Sehens durch die sinnliche Gewalt des Bildes. So wie jede Verführung zugleich ein Begehren ist zu verführen und verführt zu werden, so stellt sich der Zugang zu Tierneys Bildern auch in dieser Doppelheit dar, nämlich sich durch die kraftvolle Rhythmik in das Bild hineinziehen zu lassen und zugleich als Begehren, etwas darin zu sehen. Was ist dieses Etwas, was wir in John Tierneys Bildern sehen (wollen)? Die nur scheinbar triviale Antwort muß lauten: Farben.
Ich möchte im folgenden zwei der Werke gemäß meinen Seh-Erfahrungen exemplarisch beschreiben. Das erste ist ein Gemälde, das keinen Titel trägt und sich im Hause des Künstlers befindet. Wir sehen hier ein sich von rechts unten nach links oben erhebendes Weiß, folgen wir ihm, so erscheint sofort ein zweites Weiß, das das erste in der Mitte des Bildes zu unterbrechen scheint, ohne daß es jedoch zu einer Berührung kommt: zwei sich begegnende Bewegungen, durch die Begegnung erzeugt sich in der ersten Bewegung nach oben hin ein komplexerer Rhythmus. Die effektvolle Nichtberührung läßt an dieser Stelle einen Zwischenraum in Rot entstehen. Aber sofort wird klar, daß dieses Rot, dieses Zwischen eher da war und die komplexe Rhythmik der zwei Weiß überhaupt erst ermöglichte. So erhält das Bild eine weitere rhythmische Schicht, nämlich des Früher und Später, das die spontane Bewegung des Auges durch das Bild erkennend überlagert. Einerseits ist dieses Früher in Rot im Vergleich zu der enormen Dynamik des ersten Weiß ruhiger, unaufdringlicher, sozusagen der Welthintergrund, vor dem sich die Seh-Ereignisse auftürmen. Andererseits aberbleibt nun der Hintergrund nicht, was er gewesen sein mag, bevor es im Malprozeß das Weiß gab, d.h. nur als Vergangenheit des Bildes ist es präsent, nicht als vergangene Gegenwart, es wird daher von der exzessiven Dynamik des Weiß mitgestaltet, sozusagen mitgerissen. Es erscheint hier das Nichtmehr-Sichtbare des Vergangenen als die Rückseite der Gegenwart. Das gilt auch für unterbrechende zweite Weiß, in seinem obersten, endenden Teil aufgebrochen ist. Folgen wir nun aber dem Zwischen zum Grund, so erscheint plötzlich, kaum jemals sofort wahrnehmbar, eine in sich ruhende geometrische Figur. Ist diese jedoch erst einmal entdeckt, so erschließt sich plötzlich, als plötzlich Ereignis der Ruhe, eine regelrechte Kette weiterer ruhiger Elemente, die aufsteigt bis zu jener Stelle, an der die Kraft des ersten Weiß, nunmehr in sich geteilt, mit der Ruhe eine Quasi-Synthese einzugehen scheint. Das zweite ist 2007 entstanden, trägt den Titel »Merciful« und wurde auf der Ausstellung in der Moschee von Xania gezeigt. Wie viele der Bilder Tierneys hat auch dieses ein Kraftzentrum genau in der Mitte des Bildes. Um dieses Zentrum herum bilden sich auch Rhythmen. Auch hier ist eine von unten ausgehende Bewegung von Weiß und Gelb in der Mitte gebrochen, hier durch ein Schwarzblau, welches hier ebenfalls von unten ausgeht und sich ebenfalls in die linke obere Ecke hineinbewegt. Was also sowohl im Anfang (unten) als auch am Ende ein harmonisches Nebeneinander sein könnte, entfaltet in der Mitte des Bildes um das Zentrum herum enorme Spannungen. Auch dieses Bild vereinigt so eine strenge Grundstruktur mit einer explosiven Rhythmik. Während das minoische Labyrinth mit seiner Begegnung, bzw. Überlagerung zweier Bewegungsformen schon Archèiker wie z. B. Griechen in Verwirrung versetzen konnte, so sind die Bildes Tierneys, die z. T. auf Kreta entstanden sind, vieldimensionale Labyrinthe. Tierney selbst sagt, daß seine Bilder Landkarten seien. Aber man wird sofort hinzufügen müssen: es sind Karten ohne Referenz, d.h. in ihnen fehlt jene berüchtigte Markierung von Informationstafeln, auf denen dann steht: »Und hier bist du«, und alle Indizien, die es ermöglichen würden eine solche Selbstlokalisierung des Betrachters zu vollziehen. Und so sind es Karten, in denen man wandern kann, Medien also als Mitten, und nicht Mittel, mit deren Hilfe man anderswo wandern könnte.
Abstrakte Malerei lebt in ihrer Wirkung davon, daß sie nicht ein Etwas außerhalb ihrer selbst repräsentierend oder referierend zeigt, sondern daß sie sich selbst zeigt. Sie repräsentiert nicht ein Etwas (Ding oder Phantasma), sondern sie präsentiert sich. Aber natürlich werden auch Betrachter, die im Sehen abstrakter Gemälde geschult sind, immer wieder davon heimgesucht, innerhalb des Bildes einen repräsentierten Gegenstand der »wirklichen Welt« wiederzufinden. Das ist mir auch in John Tierneys Bildern wiederholt so gegangen. Das betrachte ich aber nicht als eine Verfehlung oder Schwäche, sondern als ein Gesetz, dem unser Sehen unterliegt, nämlich Dinge wiederzuerkennen und Ähnlichkeiten zwischen Dingen zu bemerken. So kann man auch in den abstrakten Bildern Tierneys »Augen« »sehen« oder eine »Dornenkrone« und dgl. Spätestens aber an einer solchen Stelle müssen wir mit dem genannten Verführungsprozeß neu beginnen können. Und große Kunst der abstrakten Malerei bewährt sich meiner Ansicht nach genau darin, dieses immer wieder und immer wieder neu zu ermöglichen, d.h. jene erste Seh-Erfahrung auszulöschen und zu übermalen. Auch die Seh-Erfahrungen mit großer Kunst wie der von John Tierney begründen Palimpseste. Wenn wir aber nicht ein Etwas, das wir von außerhalb der Bilder schon kennen, in den Bildern sehen, wenn die Bilder also nicht etwas repräsentieren, sondern sich präsentieren, was ist dann dieses Etwas? Es sind wie gesagt die Farben, sie verweisen aufeinander, und ihr Kontrast, ihre Harmonie oder ihre Differenzen konstituieren den Sinn der Bilder. In John Tierneys Bildern wiederholen sich, wie gesagt, bestimmte Farbbegegnungen. Farben, im Miteinander können verschiedene Wirkungen erzeugen, sie können sie abschatten, relativieren, sie können im Kontakt zueinander Allo-Colores bilden, wenn man dieses Kunstwort einführen darf, um eine Analogie zu den Allophonen der Phoneme in der Linguistik zu kreieren (Nb.: John Tierney ist studierter Linguist, ich vermute, daß die in der strukturalistischen Linguistik gepflegte Abstraktion von den gemeinten Welt-Dingen und die Konzentration auf die Regularitäten eines in sich geschlossenen Sprachsystems auch die Immanenz der Bildlichkeit Tierneys beeinflußt hat). Farben verbinden sich aber, und das macht ihr eigentliches Leben in diesen Werken aus, mit der großartigen Rhythmik.