Das Schandmaul ist ca. 3 Meter breit. Es kann sich bis zu einer Höhe von 5,24 Metern öffnen, damit hat es die Obergrenze erreicht. Ein Millimeter mehr und es würde sich unweigerlich zerreißen. Das wäre schlimm; kein Arzt der Welt könnte eine solche Wunde pflegen, so dass alles wieder seine Richtigkeit bekommt. Daher hütet sich das Schandmaul, sich allzusehr aufzureißen, denn es will keinen wirklichen Ärger. Lieber handelt es nach der Devise: Besser ein vorsichtiges Schandmaul als ein zerrissenes. Schließlich ist es auch so groß genug. Ein Mensch zum Beispiel passt hinein wie nichts, man könnte auch ein Pferd durchtreiben, aber dabei käme nichts heraus und so lässt man es auf der Weide. Pferde haben große Ohren.
Das Schandmaul steht an einem geheimen Ort und niemand kann es sehen (jedenfalls denkt es das), doch eine weise Frau, die Bescheid weiß, zeigt dir den Weg, und wenn du über fünfzig Wurzeln gestolpert bist und dir fast den großen Zeh gebrochen hast, brauchst du nur die Hand auszustrecken und fühlst gleich: das ist das Schandmaul. Eigentlich sieht man nichts, denn es ist dunkel, die Bäume stehen ganz dicht in den Himmel, und weil der Boden etwas matschig ist, muss man sowieso aufpassen, wo man seine Augen hat, kaum hebt man sie, um das scheußliche Loch zu mustern, aus dem unappetitliche Dünste hervorströmen, liegt man schon mit den Knien im Dreck. So kommt es, dass man eigentlich nie sieht, wo es aufhört, und man denkt, es hört überhaupt nicht auf, aber das ist ein Irrtum. Nur stopfen kann man es nicht.
Im Schandmaul, rechts hinter den Backenzähnen, liegt die Quelle der üblen Nachrede. Vor dem Rinnsal, das aus ihr fließt, muss man sich in Acht nehmen, es sieht aus wie Wasser und eigentlich fällt es einem kaum auf, aber wenn man hineintritt oder gar hineinfällt, klebt es an einem und man zieht es hinter sich her, egal, wo man hinwill. Dann lacht das Schandmaul und man hört seine Stimme kilometerweit. Diese Stimme erinnert an eine Geschichte, die ich einmal gehört habe. Es ist die Geschichte von einer Stimme, die sich verirrt hat und nicht zurückkommen kann, der Mund lockt sie und spricht: »Stimme, liebe, komm doch zurück!« Aber natürlich kommt kein Laut über seine Lippen, der Mund wölbt sich vor und zurück, man sieht, wie die Kiefer arbeiten und die Zunge, die Zunge hüpft in ihm über Stock und Stein. Die Stimme, sie klingt, als sei sie nicht ganz bei Trost, heiser ist sie überdies, und da sie aus keinem Mund kommt, kann sie auch niemand verstehen. Natürlich verstehen die Leute, was sie sagen will, das verstehen sie immer, und um ihr zu helfen, sprechen sie es ihr vor und nach und nach und vor, so dass die verirrte Stimme im Gerede der Leute sich selbst nicht mehr hört. So ungefähr ist es auch mit der Stimme des Schandmauls, man hört sie zwar, aber man versteht sie nicht und man weiß auch nicht, woher sie kommt und was sie bezweckt, aber man versteht, was sie sagen will, und wenn man nicht aufpasst, geschieht es ganz schnell, dass man ihr dabei hilft, so dass man am Ende nicht mehr weiß, wer das alles gesagt hat, das Schandmaul oder man selbst oder ein anderer oder alle.
Wenn das Schandmaul bebt, dann tanzen die Bäume. Es tanzen aber nicht nur die Bäume, sondern auch die Äste und Zweige und Blätter, und auf den Blättern die Spinnen, die Marienkäfer und die Blattläuse. Es tanzen die Eier in den Nestern der Häher, es tanzen die Spechte, die Löcher in die Baumrinde hämmern, so dass ihr Klopfen klingt, als hämmerten sie im Sambatakt, es tanzen die Engerlinge in ihren Kokons. Das Beben geht unter der Erde fort und schüttelt die Würmer, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Einer, der es von ferne hört, will am liebsten in zwei Richtungen davonlaufen, man findet ihn tot. Aber wenn einer den Kopf in den Nacken wirft und lässig die Worte ausspuckt: »Ich weiß, das Schandmaul!«, dann hört das Beben augenblicklich auf und irgendwo im Wald fällt ein Specht vom Ast.