Zitat

Wichtig wäre es auch, nicht wieder in den geistig-praktischen Grundwahn der DDR zu verfallen und zu versuchen, alles Restrisiko beim Denken sozusagen volkserzieherisch (oder gar ,bürgerkriegerischAufstand-der-Anständigen –) zu vermeiden.

Dagegen muß robust immer wieder das erste Recht des freien Bürgers eingefordert und selber praktiziert werden: nämlich den denkfreiheitlichen Imperativ Spinozas (1632-1677) praktisch werden zu lassen: „In einem freien Staat ist jedem erlaubt zu denken, was er will und zu sagen, was er denkt.

Mit der Denkfreiheit als der Freiheit eines Einzelnen, sich-selbst-verantwortlichen Subjekts war nun nicht nur eine moralisch neue Norm gesetzt – was man jetzt neu dürfen darf –, sondern damit wurde sofort für einen Einzelnen, jenseits seiner (alten) Bindungen in Familie, Clan, Religion oder Zunft, eine neue Praxis selbstbestimmten Lebens begründet. Damit aber wurde damals schon der althergebrachte Rahmen in der Polis (als Gemeinschaft!) zerbrochen und eine andere, alle Gemeinschaft transzendierende, Polis begründet: die nennen wir – modern – mit einem neuen Namen: Gesellschaft. – Warum aber ist daran für unsere Gegenwart zu erinnern? Weil wieder die Denk- und Meinungsfreiheit ganz häufig nicht mehr als oberster Wert gesehen wird.

Weil wieder, gerade auch in demokratischen Gemeinwesen, die – politische, religiöse, erzieherische, kulinarische oder weltanschauliche – Meinung anderer öffentlich (auf der Strasse) und veröffentlicht (in Medien und [a]sozialen Netzwerken) niedergeschrieen, tribunalisiert und aus der Welt gebracht werden soll. Das was früher als vertikale Repression des Denkens (,von oben nach unten‘) praktiziert wurde, verlagert sich heute sozusagen in die Horizontale: meine Denk- und Sprechgewohnheiten, meine Lektüre und meine Recherchen werden zunehmend von meinem Nachbarn, Kollegen, Hörern, Bekannten, Mitreisenden etc. zensiert und korrigiert (political correctness). Das muß als dunkle Seite von Demokratie begriffen und überwunden werden!

Steffen Dietzsch, Denkfreiheit. Über Deutsche und von Deutschen, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2016, 332 Seiten

 (Zitat S. 290f.)