Monika Estermann / Frieder Schmidt: Deutsche Buchkultur im 19. Jahrhundert, Bd. 2,1: Zeitalter, Materialität, Gestaltung. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 2016, 501 S.
Zwei einleitende Kapitel machen den Horizont des langen 19. Jahrhunderts und der Buchkultur sichtbar. Dazu gehört die Darstellung der großen Welt- und Gewerbeausstellungen, die das Konkurrenzdenken förderten. In ihrer Folge wurden zahlreiche Reformen der beruflichen Ausbildung der Drucker und Setzer und im Kunstgewerbe angestoßen.
In vertikaler Anordnung wird dann untersucht, wie das Innere des Buches sich in charakteristischer Weise veränderte. Es geht zunächst um die Fragen wie den Aufbau des Titelbogens, die Positionierung des Autorennamens, die Verwendung von Signeten usw. Im Inneren des Buches sind es die unterschiedlichen Satzformen, die an historischen Drucken untersucht werden. Als wichtige Quelle werden die Lehrbücher der Buchdruckerkunst herangezogen. Erstmals wird schwerpunktmäßig die Entwicklung der Typographie im 19. Jahrhundert dargestellt. Die typographischen Form selbst waren ja Sinnträger, sie wurde mit bestimmten Inhalten konnotiert, so beim Dramensatz. Für den Satz einzelner Gattungen gab es feststehende Muster, die sich bis zum frühen 20. Jahrhundert stark veränderten. Die Setzer passten die Typographie den jeweiligen stilistischen oder wissenschaftlichen Entwicklungen an. Die Neuerungen ergaben sich oft im Zusammenwirken von Autor, Verleger, Drucker und Setzer, etwa bei Goethe und Unger, Stefan George und Bondi.
Beim Satz von Kants »Kritik der reinen Vernunft« von 1781 z.B. richteten sich die Setzer nach der üblichen Anordnung, garnierten ihn aber mit Putten und Röschen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als Reaktion auf die zunehmende Verwissenschaftlichung, entfaltete sich die komplizierte Satzform einer historisch-kritischen Ausgabe mit doppelter Fußnotenzählung, Noten am Rand, Zeilenzählung und Apparat. Die Ausdifferenzierung fand auch bei den literarischen Gattungen statt, so bei den lyrischen Texten mit ihrer verdichteten Sprache. Die Form des mittigen Satzes hatte sich erst seit der Klassik, mit der subjektiven Ausdrucksweise der Erlebnislyrik entwickelt. Am Jahrhundertende, als sich die dichterische Wahrnehmung und ihre Ausdrucksweise verändert hatten, vollzog sich dies auch in der Typographie, etwa bei Stefan George oder Arno Holz, der für seine neue Lyrik den mittelachsialen Satz bevorzugte.
Auch beim Satz von Dramen wurden in der Typographie die literarischen Veränderungen nachvollzogen. Nach den langen, die ganze Seite füllenden Versen des Barock dominierte in der Klassik der leichte Blankvers mit den Sprechern auf der Mittelachse. Es gab auch die platzsparende typographische Form, das Lesedrama. Für Reclams »Universal-Bibliothek« (1867 gegr.), eine geradezu industrielle Publikationsform, wurde dieser Satz charakteristisch. Der Text wurde hier auf seinen Informationscharakter reduziert. Beim Satz von Prosatexten vollzog sich ein ähnlicher Prozess. Goethe entwickelte für seine Erzählformen, die weit über seine Zeit hinaus wiesen, eigene Vorstellungen. Charakteristisch war, wie individuell die großen Autoren die tradierten typographischen Muster verwendeten. Daneben aber gab es auch Verfallsformen, denen die Buchkunstbegegung entgegen zu wirken versuchte.
Zwei weitere Kapitel zur Materialität des Buches, über Papier und Buntpapier, stammen von Frieder Schmidt. Dieser Band erscheint erstmals in der neuen, lockeren Gestaltung von Claudia Rupp. Zu den meisten Kapiteln gibt es auch farbige Abbildungen, die den Text erläutern.
Zitat
»Die in ihrer Art einmalige Ausstellung, an der 2.300 Aussteller aus 22 Ländern teilnahmen und die bis Juli 1914 etwa 2,3 Millionen Gäste anzog, wurde ausgerechnet bei der Feier zu Ehren Johannes Gutenbergs am 28. Juni jäh gestört. Ludwig Volkmann schrieb später darüber: »Das Denkmal des großen Wohltäters der Menschheit war feierlich enthüllt worden und die Vertreter aller Staaten hatten Kränze mit großen Schleifen in ihren Landesfarben huldigend daran niedergelegt, als der Leiter des Ausstellungspostamtes in tiefer Erregung zu mir kam und mir leise die Kunde von der entsetzlichen Mordtat in Serajewo [!] mitteilte. Und bald, als am österreichischen Hause die Fahnen auf Halbmast sanken, wußten alle, was geschehen war.« Die Ereignisse folgten rasch aufeinander, und am 1. August war der große Krieg da. Die Bugra mit dem Anspruch auf Internationalität ging zwar weiter, wenn auch mit Einschränkungen, denn die kriegführenden Mächte schlossen ihre Ausstellungshäuser, viele Vertreter der neutralen Staaten reisten ab, andere wurden interniert. Am 18. Oktober, dem Tag der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813, schloss die Ausstellung ihre Tore.«
Monika Estermann, Das Buch im Zentrum: Die Bugra 1914 (S. 69)