Immo Sennewald: Abend

Kon­dy­lis hat, wäh­rend er Ma­te­ri­al für die So­zi­a­lon­to­lo­gie Band eins sam­mel­te, zu­gleich auch eine Zet­tel­samm­lung für die Bände zwei und drei be­gon­nen. Die Samm­lung um­fasst ins­ge­samt etwa 4000 Zet­tel, die grup­piert und ge­ord­net, aber so frag­men­ta­risch sind, dass sie kei­nen Auf­schluss über die Kon­zep­ti­on der bei­den ge­plan­ten Bände geben kön­nen. Es sind ein­zel­ne Re­fle­xio­nen fest­ge­hal­ten, die als fes­ter ge­dank­li­cher Grund gel­ten kön­nen, denn an­ders als bei an­de­ren Be­grif­fen stellt der Ver­fas­ser keine Fra­gen, deren Be­ant­wor­tung noch aus­steht. Diese Re­fle­xio­nen bil­den einen Teil für sich. Au­ßer­dem gibt es zu­sam­men­hän­gen­de No­ti­zen, die auf die Aus­ein­an­der­set­zung mit an­de­ren Au­to­ren be­zo­gen sind. Dabei geht es um die Über­prü­fung der ei­ge­nen The­sen, ihre Kom­plet­tie­rung und Schwä­chen der Abs­trak­tio­nen des Be­ob­ach­te­ten bei an­de­ren und deren Ar­gu­men­ta­ti­ons­feh­ler. Be­son­ders in­ten­siv ist die Aus­ein­an­der­set­zung mit Nietz­sche beim The­men­be­reich ›Macht‹.

Kon­dy­lis hat, wäh­rend er Ma­te­ri­al für die So­zi­a­lon­to­lo­gie Band eins sam­mel­te, zu­gleich auch eine Zet­tel­samm­lung für die Bände zwei und drei be­gon­nen. Die Samm­lung um­fasst ins­ge­samt etwa 4000 Zet­tel, die grup­piert und ge­ord­net, aber so frag­men­ta­risch sind, dass sie kei­nen Auf­schluss über die Kon­zep­ti­on der bei­den ge­plan­ten Bände geben kön­nen. Es sind ein­zel­ne Re­fle­xio­nen fest­ge­hal­ten, die als fes­ter ge­dank­li­cher Grund gel­ten kön­nen, denn an­ders als bei an­de­ren Be­grif­fen stellt der Ver­fas­ser keine Fra­gen, deren Be­ant­wor­tung noch aus­steht. Diese Re­fle­xio­nen bil­den einen Teil für sich. Au­ßer­dem gibt es zu­sam­men­hän­gen­de No­ti­zen, die auf die Aus­ein­an­der­set­zung mit an­de­ren Au­to­ren be­zo­gen sind. Dabei geht es um die Über­prü­fung der ei­ge­nen The­sen, ihre Kom­plet­tie­rung und Schwä­chen der Abs­trak­tio­nen des Be­ob­ach­te­ten bei an­de­ren und deren Ar­gu­men­ta­ti­ons­feh­ler. Be­son­ders in­ten­siv ist die Aus­ein­an­der­set­zung mit Nietz­sche beim The­men­be­reich ›Macht‹.

Die hier aus­ge­wähl­ten No­ti­zen grup­pie­ren sich um die Be­grif­fe ›Ge­walt‹, ›Herr­schaft‹, ›Macht‹. Mit ihnen sind be­ob­ach­te­te und ab­stra­hier­te Phä­no­me­ne ›auf den Be­griff ge­bracht‹. Es wird ihr in­ne­rer Zu­sam­men­hang, was sie trennt und ver­bin­det, ihre In­ter­ak­ti­on un­ter­sucht. So, wenn Ge­walt als Mit­tel zur Er­lan­gung von Macht be­schrie­ben wird. Ge­walt bzw. Ge­walt­an­dro­hung blei­ben für Herr­schaft not­wen­dig, damit Ge­sell­schaft funk­tio­nie­ren kann. Wenn es als Ziel der Macht ge­se­hen wird, sich zur Herr­schaft zu ver­dich­ten und Herr­schaft einen Rah­men bil­det, in dem Macht sich ent­fal­ten kann, wenn als Zweck der Ge­sell­schaft die Selbst­er­hal­tung fest­ge­stellt wird, dann wird die An­thro­po­lo­gie er­kenn­bar, die den be­griff­li­chen Ab­gren­zun­gen und Klä­run­gen zu­grun­de liegt bzw. die sich aus den Abs­trak­tio­nen des Be­ob­ach­te­ten her­aus­bil­det.

Kon­dy­lis be­zieht dabei auch Er­geb­nis­se der eth­no­lo­gi­schen Feld­for­schung bei ar­chai­schen Ge­mein­schaf­ten ein, wo er be­stim­me Phä­no­me­ne be­son­ders deut­lich, gleich­sam in ›Rein­form‹ zu er­ken­nen meint. Nicht zu­letzt er­in­nert diese Vor­ge­hens­wei­se an Clau­se­witz, der den ›rei­nen‹ Krieg bei den ein­fachs­ten mensch­li­chen Ge­mein­schaf­ten ge­ge­ben sah, näm­lich als spon­ta­nen, frik­ti­ons­lo­sen, also un­un­ter­bro­che­nen Kampf zwi­schen feind­li­chen Grup­pen und Mann gegen Mann. Die Vor­ge­hens­wei­se auf dem Weg von der be­ob­ach­te­ten Wirk­lich­keit zur Theo­rie bei Clau­se­witz hielt Kon­dy­lis für ge­ni­al; Clau­se­witz nahm sie nicht nur prak­tisch in sei­ner Ab­hand­lung Vom Krie­ge vor, son­dern be­schrieb sie auch theo­re­tisch. Diese Dar­stel­lung be­schreibt Kon­dy­lis in Theo­rie des Krie­ges im Ka­pi­tel über Clau­se­witz so, dass sie auch als seine ei­ge­ne Ver­fah­rens­wei­se ver­stan­den wird. Kon­stan­tin Ver­y­ki­os hat die für Kon­dy­lis vor­bild­li­che Be­schrei­bung der Theo­rie­bil­dung in Von der Wirk­lich­keit zur Theo­rie bei Kon­dy­lis dar­ge­legt.

(3850) Ge­walt ist das Mit­tel, Macht ist der Zweck; wer Ge­walt nicht als Mit­tel zur Macht ein­setzt, ist po­li­tisch be­lang­los (so z.B. ein Ver­bre­cher)

(3851) Au­to­ri­tät: Ge­hört zur Herr­schaft, bil­det das, was an der Herr­schaft Macht ist. Die Au­to­ri­tät ge­hört we­sens­ge­mäß zur Macht, nicht zur Herr­schaft

(3852) Macht = die Fä­hig­keit eines in­di­vi­du­el­len oder kol­lek­ti­ven Sub­jekts, das ei­ge­ne Selbst­ver­ständ­nis als ob­jek­tiv wahre Schil­de­rung durch­zu­set­zen. (So wird Ein­fluss ge­won­nen usw., vor­aus­ge­setzt im Selbst­ver­ständ­nis ist der An­spruch ent­hal­ten.)

(3853) In der Herr­schaft ist zu un­ter­schei­den zwi­schen Füh­rer von Men­schen und Be­sit­zer des Lan­des.

(3854) Die Ge­walt ist not­wen­dig für die Funk­ti­on der Ge­sell­schaft, aber diese Funk­ti­on ist bei stän­di­ger Ge­walt­aus­übung schwach. Diese grund­le­gen­de Dop­pel­na­tur in der so­zia­len An­we­sen­heit der Ge­walt be­stimmt den Cha­rak­ter der Herr­schaft, bei der die Ge­walt mo­no­po­li­siert und be­schränkt wird. Auf der Ebene der Macht kann die Ein­schrän­kung der Ge­walt bis zur ideo­lo­gi­schen Äch­tung rei­chen.

(3855) Herr­schaft
Dem Be­fehl wird ge­horcht, weil der Ge­hor­sa­me sich von vorn­her­ein ver­pflich­tet fühlt, zu ge­hor­chen (Le­via­than, XXVI) (3856) In jeder Herr­schafts­form muss das Dass vom Was des ge­setz­ten Rechts un­ter­schie­den wer­den. Das Dass (also die Exis­tenz des ge­setz­ten Rechts über­haupt) be­zieht sich auf ei­ni­ge for­ma­le Kon­stan­ten mensch­li­cher Natur, das Was (also der kon­kre­te In­halt des ge­setz­ten Rech­tes, so wie es der Herr­scher be­stimmt) ist un­end­lich plas­tisch, weil dies auch die mensch­li­che Natur ist: ihre Kon­stan­ten haben for­mal genau die Be­deu­tung, sich mit den ver­schie­dens­ten In­hal­ten ver­ei­ni­gen zu kön­nen.

(3857) Die Be­weg­lich­keit der so­zia­len Sys­te­me lässt sich durch den Un­ter­schied zwi­schen Macht und Herr­schaft er­klä­ren, die die Exis­tenz ei­ni­ger ver­schie­de­ner Macht­po­le er­laubt, die sich ge­gen­sei­tig be­kämp­fen und den so­zia­len Kör­per in dau­ern­der Span­nung hal­ten, teils mehr und teils we­ni­ger.

(3858) Die Herr­schaft ver­bin­det sich, we­nigs­tens wenn ihre Form ziem­lich dau­ert, mit be­stimm­ten äu­ßer­li­chen Sym­bo­len und Em­ble­men. Die Macht ist sehr per­sön­lich und hat viele Ge­sich­ter, weil jeder Macht her­vor­brin­gen und be­wah­ren kann, wäh­rend er seine ei­ge­nen Sym­bo­le und Em­ble­me aus­ar­bei­tet.

(3859) Die Au­to­ri­tät passt sich so­wohl der Macht als auch der Herr­schaft an. Doch Au­to­ri­tät, die sich mit Macht ver­bin­det, un­ter­schei­det sich von der, die sich mit Herr­schaft ver­bin­det; die, die sich mit Macht ver­bin­det, ist also um­fas­sen­der und un­be­stimm­ter, we­ni­ger ver­bun­den mit sicht­ba­ren Sym­bo­len und Em­ble­men, un­ab­hän­gig von ihren Trä­gern.

(3860) Jede Macht ver­sucht sich zur Herr­schaft zu ver­dich­ten, also sich vom all­ge­mei­nen Ein­fluss des Ver­hal­tens der an­de­ren hin zu ver­bind­li­chem Ein­fluss zu wan­deln. Aber es ist nicht mög­lich, dass alle vor­ge­stell­ten Macht- bzw. Herr­schafts­an­sprü­che dies er­rei­chen, son­dern nur einer von ihnen. Doch die­ser Er­folg hat einen Ge­gen­wert: der ver­bind­li­che Ein­fluss auf das Ver­hal­ten be­trifft nur einen Teil von ihm, die an­de­ren Teile blei­ben au­ßer­halb. Es ist auch noch kein Herr­schafts­sys­tem er­fun­den wor­den, das alle mög­li­chen Machtas­pek­te in einer Ge­sell­schaft um­fasst.

(3861) Die Tat­sa­che, dass all­ge­mei­ne Zwe­cke der Ge­mein­schaft – wie die Selbst­er­hal­tung – sich in all­ge­mei­nen Prin­zi­pi­en aus­drü­cken, vor denen alle ihre Mit­glie­der von Be­ginn an gleich sind, gibt den un­ter­ge­ord­ne­ten Mit­glie­dern die Mög­lich­keit ihre In­ter­es­sen zu ver­tre­ten, indem sie die oben ge­nann­ten Prin­zi­pi­en in ihrem Nenn­wert ein­for­dern (wäh­rend die über­ge­ord­ne­ten Mit­glie­der eine Teil­deu­tung ein­for­dern.)

(3862) Die ge­mein­sa­men Zwe­cke der Ge­mein­schaft oder viel­mehr die Tat­sa­che, dass die Ge­mein­schaft ge­mein­sa­me Zwe­cke hat, er­laubt es, in ihrem Namen, und nur in ihrem, be­son­de­re Macht­an­sprü­che auf­zu­stel­len; diese Tat­sa­che wird ge­prägt durch jene all­ge­mei­nen Prin­zi­pi­en, die für alle Mit­glie­der der Ge­mein­schaft gel­ten und denen ge­gen­über alle Mit­glie­der gleich sind: Das Prin­zip des Rechts­streits, des ge­mein­sa­men In­ter­es­ses usw. Die Un­ter­schei­dung der Mit­glie­der der Ge­mein­schaft drückt sich wie­der in der In­ter­pre­ta­ti­on der all­ge­mei­nen Prin­zi­pi­en aus.

(3863) In pri­mi­ti­ven Stäm­men: die Tu­gend, die Ehre und der Ruhm als Ge­gen­stän­de des Wi­der­streits, als Zei­chen von Macht, die die ent­spre­chen­de Macht an­de­rer Per­so­nen über­schat­tet. Es soll die früh­rei­fe Un­ter­schei­dung Herr­schaft-Macht in der Form der Tren­nung des He­ge­mon vom Pries­ter oder vom ›Wei­sen‹ un­ter­sucht wer­den.

(3864) In pri­mi­ti­ven Ge­sell­schaf­ten be­zwe­cken Riten den Er­werb der Macht über die Natur, also den Er­werb der Mög­lich­keit von Ein­fluss des phy­si­schen oder bio­lo­gi­schen Zy­klus. Noch ist diese Macht (die Ein­bil­dung bleibt, aber mit hand­fes­ten so­zia­len und psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen) keine Herr­schaft, also die Mög­lich­keit der di­rek­ten An­pas­sung der Natur an die Be­feh­le der Men­schen. Der Über­gang von der (ein­ge­bil­de­ten) Macht über die Natur in Herr­schaft über die Natur wird ge­ra­de in der Neu­zeit voll­endet.

(3865) Der Ver­such zur Be­herr­schung der Natur, als des ers­ten kol­lek­ti­ven Fein­des, ist ein kol­lek­ti­ver Macht­an­spruch. Im Rah­men des kol­lek­ti­ven Macht­an­spruchs er­scheint ein be­son­de­rer Macht­an­spruch in der Form eines An­spruchs einer Grup­pe oder eines In­di­vi­du­ums, die in der Lage sind, bes­ser als jeder an­de­re dem kol­lek­ti­ven Macht­an­spruch zu die­nen: das Pries­ter­tum sagt z.B., dass es die Natur zu­guns­ten der gan­zen Ge­mein­schaft ver­söhnt – und so er­wirbt es Macht über die Ge­mein­schaft – Macht, die sich in Herr­schaft ver­wan­deln kann. Auf die glei­che Weise wan­delt sich auch auf an­de­ren Ebe­nen der An­spruch, einem kol­lek­ti­ven Macht- oder Herr­schafts­an­spruch zu die­nen, in den be­son­de­ren An­spruch die­ser Art (z.B. wer bes­ser der Na­ti­on oder dem Staat im Kampf mit einem an­de­ren dient, wird auch des­sen Kopf.)

(3866) Wer Herr­schaft oder Macht aus­übt, muss sie räum­lich fest­le­gen, ein Stück Erde ab­gren­zen, wo sie er­scheint. Das gilt vom Pa­last des Kö­nigs und dem Land­sitz des Rei­chen bis zum be­son­de­ren Büro eines Ma­na­gers. Eben­so gilt das für Ze­re­mo­ni­en und Spiel.

(3867) Herr­schaft-Macht
Keine Form von Herr­schaft kann das ganze Macht­po­ten­ti­al, das in einer Ge­sell­schaft exis­tiert, auf­sau­gen und ver­brau­chen. Es wurde nie und es wird nie Herr­schaft ent­wi­ckelt, die dies er­rei­chen könn­te – ob­wohl jede Herr­schaft es an­strebt. Aber sie kann es nicht er­rei­chen, weil die Macht von ihrer Natur her etwas viel Um­fas­sen­de­res ist als die Herr­schaft.

(3868) Die Ge­walt kann nie­mals völ­lig ab­ge­schafft wer­den, aber an­de­rer­seits kann keine Ge­sell­schaft unter der dau­ern­den Ge­walt­aus­übung ge­schaf­fen wer­den und über­le­ben. Herr­schaft ist jene Lage, die einer sol­chen Aus­übung ein Ende setzt, ohne je­doch diese Ge­walt völ­lig ab­zu­schaf­fen: sie ver­sucht sie zu mo­no­po­li­sie­ren und auch le­gi­tim zu ma­chen, also in einer Art zu be­nut­zen, die durch be­stimm­te In­sti­tu­tio­nen be­re­chen­bar ist: dann ist be­kannt, wann je­mand die Ge­walt­aus­übung zu er­war­ten hat (wann also dies oder jenes ge­schieht.)

(3869) Ge­walt
Hier­her ge­hört die Un­ter­su­chung:
a)der ver­schie­de­nen Ver­fü­gungs­for­men über den Kör­per des an­de­ren
b)der Mo­ti­ve und Zwe­cke, die nicht ein­ge­schränkt sein kön­nen – weder im Um­fang noch in der Zeit.
c)Un­ter­schei­dung zwi­schen un­ge­re­gel­ter und in­sti­tu­tio­na­li­sier­ter Ge­walt. Nur die zwei­te ist ein Mit­tel der Herr­schafts­aus­übung (diese be­en­det die will­kür­li­che Ge­walt­aus­übung.)

(3870) Macht
= Macht kann auch die Ge­walt be­kämp­fen, wäh­rend es nicht not­wen­dig ist, Herr­schaft aus­zu­üben (doch kann sie auch mit der An­pas­sung an Be­feh­le enden, dann bil­det sie ein Herr­schafts­ele­ment, sei es in­sti­tu­tio­na­li­sier­ter oder dif­fu­ser Herr­schaft.)
= In den Be­reich der Macht ge­hört die Un­ter­su­chung so­wohl der um­fas­send-ideo­lo­gi­schen Ge­bil­de als auch die all­täg­li­chen zwi­schen­mensch­li­chen Be­zie­hun­gen (Bil­dung von in­di­vi­du­el­ler und kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät.)

(3871) Herr­schaft

Für die Herr­schaft ist die Ge­walt not­wen­dig, doch kommt Herr­schaft nicht al­lein mit von Ge­walt aus. Bzw. die Herr­schaft braucht außer Ge­walt auch Macht.Die Herr­schaft, im Ge­gen­satz zu Ge­walt und Macht, braucht In­sti­tu­tio­nen, die sie ent­wi­ckelt oder vor­fin­det und auf die sie sich stützt.Die Herr­schaft zeigt die grund­sätz­li­che Zwei­deu­tig­keit so­zia­len Le­bens: Zwar kann sie sich von der Ge­walt ab­kop­peln, aber sie kann auch nicht unter stän­di­ger Ge­walt­aus­übung leben.

 

(3872) Die Ge­walt kann sich nicht als nack­te Ge­walt zei­gen – und ge­nau­so wenig kann die Herr­schaft sich selbst ver­nei­nen; das Höchs­te, was sie ma­chen kann, ist, die Tat­sa­che zu ver­de­cken oder ab­zu­strei­ten, dass sie sich auf die Dro­hung von Ge­walt­aus­übung stützt.
Nur die Macht kann als Ver­nei­nung von sich selbst er­schei­nen, als Be­kennt­nis zur Ab­schaf­fung der Macht usw.

(3873) Es gibt nur eine Mög­lich­keit der Ge­walt aus­zu­wei­chen: dass Herr­schaft so mäch­tig ist, dass nie­mand daran denkt, Ge­walt auf ei­ge­ne Rech­nung an­zu­wen­den, au­ßer­halb jener also, die der Herr­schaft zu­kommt. Eben­falls kann Ge­walt von der Macht ver­neint wer­den, wenn sie tat­säch­lich all­mäch­tig und ver­in­ner­licht ist.

(3874) Für die Pre­di­ger der Ge­walt­lo­sig­keit à la Gan­dhi: der Ver­zicht auf Ge­walt kann nur Er­folg haben, wenn sie von Macht­de­mons­tra­ti­on be­glei­tet wird. Er­schei­nen zwei Men­schen und er­klä­ren, sie wür­den auf Ge­walt ver­zich­ten, rufen sie Ge­läch­ter her­vor, wenn auf der Stra­ße eine Mil­li­on mit der glei­chen Pa­ro­le er­scheint, ist die Sache grund­le­gend an­ders. Nur das Durch­ein­an­der­brin­gen von Macht und Ge­walt usw. er­laubt es, dass die Pre­di­ger der Ge­walt­lo­sig­keit als Engel er­schei­nen usw.

(3875) Es sol­len die Kämp­fe der Herr­schaft no­tiert wer­den, bei denen es um Mo­no­po­li­sie­rung der Ge­walt geht. Tat­säch­lich kann Herr­schaft als eine sol­che Mo­no­po­li­sie­rung ver­stan­den wer­den, die je­doch nie­mals völ­lig er­reicht wird.

(3876) Der äu­ßers­te Punkt der Macht ist, gegen den an­de­ren deine per­sön­li­che Auf­fas­sung durch­zu­set­zen. Wenn du König bist und alle glau­ben dir, dann bist du es tat­säch­lich.

(3877) Un­ter­schied zwi­schen Macht und Herr­schaft: Bei der zwei­ten kannst du die Un­ter­ord­nung unter deine Be­feh­le be­an­spru­chen, bei der ers­ten nicht – weil sie viel um­fas­sen­der und des­we­gen auch in­di­rekt ist. Herr­schaft be­inhal­tet Macht, das ist aber um­ge­kehrt nicht zwin­gend.

(3878) Im Ge­gen­satz zur Macht hat die Herr­schaft das Recht, kör­per­li­che Ge­walt zu ge­brau­chen, wel­che die di­rek­tes­te Form von Herr­schaft ist. Wäh­rend je­doch die Ge­walt aus­ge­schöpft wird, indem sie kör­per­li­che Ge­walt ge­braucht, ist Herr­schaft etwas mehr als das: das An­fas­sen des an­de­ren kann als Mög­lich­keit ge­se­hen wer­den, aber auch als Mög­lich­keit di­rekt und kon­sti­tu­tiv, wäh­rend um­ge­kehrt für die Macht diese Mög­lich­keit nicht exis­tiert.

(3879) Macht, Herr­schaft und Ge­walt kön­nen als drei ho­mo­zen­tri­sche Krei­se ge­se­hen wer­den, von denen Ge­walt der engs­te ist und Macht der wei­tes­te. Der Un­ter­schied Macht und Ge­walt ist sicht­bar. Die Un­ter­schei­dung Macht und Herr­schaft liegt wie­der darin, dass Herr­schaft immer Herr­schaft über Per­so­nen ist, wäh­rend Macht auch das Macht­ge­fühl eines Ein­sied­lers sein kann.

(3880) Würde der Au­to­ri­tät (= eine über­le­ge­ne Kraft, die zum Wohle des Un­ter­ge­be­nen oder sei­nem Wil­len gemäß aus­ge­übt, daher durch diese be­jaht wird). Drei Arten: a) des Al­ters b) der Stär­ke c) der Weis­heit
Tön­nies, Oem. u. Ges., 11

Die Zet­tel (3569-3577) be­zie­hen für die Fra­ge­stel­lung re­le­van­te Ge­dan­ken von Nietz­sche ein, an denen Kon­dy­lis seine ei­ge­nen Re­fle­xio­nen über­prüft – so wie es jeder Den­ker ma­chen muss und wie es Aris­to­te­les für die Me­ta­phy­sik bei­spiel­haft be­grün­de­te: »wir müs­sen zu­erst die An­sich­ten der an­de­ren Den­ker be­trach­ten, damit wir, falls sie etwas nicht rich­tig sagen, wir nicht in den­sel­ben An­sich­ten be­fan­gen blei­ben, und, falls eine Auf­fas­sung uns und ihnen ge­mein­sam ist, wir uns nicht für uns al­lein mit der Sache ab­mü­hen. Denn man muss zu­frie­den sein, wenn man ei­ni­ges bes­ser, an­de­res nicht schlech­ter dar­legt.« (Met. XIII 1,1076a 15-17)

(3569) In die An­thro­po­lo­gie der Macht muss auch eine Theo­rie über die Struk­tur des Wil­lens ein­ge­fügt wer­den, in dem Macht­stre­ben und In­tel­lekt sich ver­ei­ni­gen. (s. Ana­ly­se über das Ver­hält­nis ›Den­ken und Wol­len‹ in Macht und Ent­schei­dung.)

(3570) Wenn wir die Um­fän­ge fin­den, die sich zwi­schen der ab­so­lut amor­phen und der in­sti­tu­tio­nell kris­tal­li­sier­ten Macht (Herr­schaft) be­fin­den, dann be­wegt sich die Klas­si­fi­zie­rung oder Ka­te­go­ri­sie­rung auf einer lo­gi­schen Ebene. In Wirk­lich­keit ko­exis­tie­ren diese Grö­ßen so­zi­al mit der Herr­schaft- und die Um­fän­ge der Macht müs­sen the­ma­ti­siert wer­den, weil sie di­rekt mit der Aus­übung von Herr­schaft ver­knüpft sind. Sol­che Grö­ßen sind:
a) Er­folg
b) Ein­fluss
c) Zu­gang zum Macht­ha­ber

(3571) Eine Or­ga­ni­sa­ti­on si­chert die Er­hal­tung durch den ge­gen­sei­ti­gen Ant­ago­nis­mus ihrer Teile, das jedes für sich um Wachs­tum kämpft. Dies er­kennt man be­son­ders in der Phase des ex­pli­zi­ten Wachs­tums. Auch wenn ein Teil etwas für das Ganze bei­trägt, macht es dies für sein ei­ge­nes Macht­stre­ben. Er­hal­tung ist Folge von Über­mäch­ti­gungs- und Stei­ge­rungs­be­stre­ben. Wenn der Ant­ago­nis­mus er­lischt, haben wir keine me­cha­ni­sche Er­hal­tung son­dern Ab­sturz. Wenn die Er­hal­tung nicht Macht­stre­ben wäre, dann hät­ten wir nicht ein­mal in­ter­ne Ver­schie­bun­gen noch Min­de­rung bzw. Wachs­tum. Was ein Or­ga­nis­mus nach außen an­strebt, wird vom Aus­gang der in­ne­ren Aus­ein­an­der­set­zung be­stimmt. Das, was letzt­lich er­hal­ten bleibt, ist nicht der Or­ga­nis­mus als star­res Sub­jekt, son­dern das Kampf­ge­sche­hen, das ihn schafft. Sich im Leben er­hal­ten be­deu­tet sich »im Wil­len zur Macht, zum Wachs­tum der Macht er­hal­ten«, VIII 1,36,112, VII 2,121f.
Nietz­sche spricht über»Er­hal­tungs-Stei­ge­rungs-Be­din­gun­gen« (VIII2, 278) d.h. er iden­ti­fi­ziert Er­hal­tung und Stei­ge­rung.

(3572) Er un­ter­schei­det rich­tig zwi­schen zwei Ka­te­go­ri­en Lust-Un­lust
1) Un­lust als Reiz zur Macht­stei­ge­rung, Un­lust nach einer Ver­geu­dung von Macht
2) Lust als Sieg, Lust im Sinne des Ein­schla­fens nach der Er­schöp­fung. (KGW VIII 3, 153)

(3573) Nietz­sche sagt, das Wol­len sei ein Be­feh­len (KGW VIII 2, 296,123; VII 3,226). Rich­ti­ger wäre es zu sagen, das Wol­len ist nicht der Wunsch nach di­rek­tem Be­feh­len, son­dern der Wunsch, die Dinge so zu ge­stal­ten, als wären sie aus­schlie­ß­lich auf­grund un­se­rer Be­feh­le ge­re­gelt. Bzw. wenn ich will, mache ich nichts an­de­res, als dass ich mir eine Si­tua­ti­on vor­stel­le, die gemäß mei­ner Be­feh­le ge­stal­tet ist. Bzw.: Das Wol­len be­inhal­tet die Er­war­tung, dass die an­de­ren (die sich zu­fäl­lig zwi­schen mei­nen Wunsch und seine Rea­li­sie­rung stel­len) sich so ver­hiel­ten, als hätte ich ihnen be­foh­len.

(3574) Die Kau­sa­li­tät des Han­delns kann als Kraft­aus­lö­sung ver­stan­den wer­den (wie Nietz­sche meint), weil die man­gel­haf­te Dif­fe­ren­zie­rung des Trieb­po­ten­zi­als beim Men­schen nicht Ziele an­spricht, son­dern sie ist frei ver­füg­bar und war­tet auf den Aus­lö­ser (so wie das Pul­ver auf das Streich­holz war­tet).

(3575) Für Nietz­sche ist das Wol­len nur eine au­gen­blick­li­che und be­son­de­re Kris­tal­li­sie­rung oder Aus­druck der »Ex­plo­si­on von Kraft«, wo sich »das ei­gent­li­che Ge­sche­hen alles Füh­lens und Er­ken­nens« be­fin­det (KGW VII 2,60). Wenn es Be­gleit­erschei­nung des Aus­strö­mens von Kraft ist (VII 1,320), dann hat die »Mäch­tig­keit« der Ex­plo­si­on und nicht die Rich­tung ur­sprüng­li­che Be­deu­tung (VII 1, 532). Wir müs­sen also Hand­lungs­mo­ti­ve und Rich­tungs­mo­ti­ve un­ter­schei­den. Wenn ich etwas mache, dann zu­erst nicht, um das kon­kre­te Ziel zu er­rei­chen, son­dern um die En­er­gie, die sich in mir ver­sam­melt hat, los­zu­wer­den. Diese Auf­fas­sung passt zu der Theo­rie über den Trie­b­über­schuss und den ge­gen­sei­ti­gen Über­gang von einem Trieb in den an­de­ren.

(3576) Nietz­sche ver­bin­det (fälsch­lich) die me­ta­phy­si­sche Denk­wei­se mit der sta­ti­schen Selbst­er­hal­tung, da­ge­gen um­ge­kehrt den dy­na­mi­schen Wil­len zur Macht mit dem Wer­den. Vor­aus­ge­setzt, es gibt keine Sub­stanz, dann gibt es auch nicht etwas Be­har­ren­des, es exis­tiert nur »Etwas, was an sich nach Ver­stär­kung strebt; und das sich nur in­di­rekt ›er­hal­ten‹ will (es will sich über­bie­ten.)« KGW VIII 2, 55f.

(3577) Der Er­hal­tungs­trieb ist für Nietz­sche etwas Ab­ge­lei­te­tes, z.B. der Hun­ger als ein­fa­cher Ver­lus­ter­satz exis­tiert als Trieb zwi­schen an­de­ren, nach­dem schon die Ar­beits­tei­lung in­ner­halb des Or­ga­nis­mus er­folg­te und nach­dem der Wille zur Macht sich auf an­de­re Weise zu be­frie­di­gen be­ginnt.
KGW, VIII 3, 153, 300

Kon­dy­lis las bei der Ar­beit an der So­zi­a­lon­to­lo­gie u.a. auch wie­der Aris­to­te­les, er schätz­te ihn wegen sei­ner hohen Be­ob­ach­tungs- und Abs­trak­ti­ons­ga­be. So wie er Ein­zel­be­ob­ach­tun­gen zu einem zeit­über­grei­fend gül­ti­gen Bild ver­band, so soll­ten auch die no­tier­ten Punk­te sich ein­mal zu einem an­thro­po­lo­gi­schen Mo­dell fügen. Aris­to­te­les fin­det in der Po­li­tik die cha­rak­te­ris­ti­schen Züge der Ty­ran­nei bzw. Dik­ta­tur:
»Die Er­nied­ri­gung über­ra­gen­der und die Be­sei­ti­gung selbst­be­wuss­ter Men­schen; keine Tisch­ge­nos­sen­schaf­ten, kei­ner­lei po­li­ti­sche Grup­pie­rung, keine Bil­dung oder an­de­res Der­ar­ti­ges zu dul­den, son­dern alles zu ver­hin­dern, wo­durch Selbst­be­wusst­sein und Ver­trau­en ent­ste­hen könn­te, fer­ner keine Zu­sam­men­künf­te zu er­lau­ben, die der Bil­dung oder der Ge­sel­lig­keit die­nen, viel­mehr alles zu tun, dass die Men­schen sich mög­lichst nicht näher ken­nen­ler­nen; denn Be­kannt­schaft be­wirkt, dass sie eher zu­ein­an­der Zu­trau­en fas­sen; auch, dass sie sich stets in der Öf­fent­lich­keit und vor den Türen auf­hal­ten. So kön­nen sie ihr Tun am we­nigs­ten ver­heim­li­chen und ge­wöh­nen sich lang­sam daran, stets un­ter­wür­fig zu sein (...) Auch ge­hört es hier­her, dafür zu sor­gen, dass nichts ver­bor­gen bleibt, was ein Un­ter­tan sagt oder tut, son­dern dass es Spit­zel und Lau­scher gibt, wo immer eine Ver­samm­lung statt­fin­det. Denn aus Angst vor ihnen reden die Men­schen we­ni­ger frei, und wenn sie es tun, dann bleibt es we­ni­ger ver­bor­gen (...) Es ist auch ty­pisch für einen Ty­ran­nen, dass er kei­nen Ge­fal­len fin­den kann an Män­nern, die Würde und Frei­heit be­wah­ren; denn der Ty­rann be­an­sprucht diese Qua­li­tät al­lein für sich. Wer aber ihm ge­gen­über Würde und Frei­heit zeigt, der min­dert den über­le­ge­nen Rang und den ab­so­lu­ten An­spruch der Ty­ran­nis. Sol­che Leute wer­den von Ty­ran­nen mit Hass ver­folgt, als woll­ten sie ein Re­gime stür­zen.«
(Aris­to­te­les, Po­li­tik VII, 1313 a 40-1314 a 10 ge­kürzt)