Immo Sennewald: Abend

In der Deut­schen Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie (3, 2012, S. 365-385) ver­sucht Oli­ver Flü­gel-Martin­sen mit Apo­dik­ti­scher De­zi­sio­nis­mus? Kon­dy­lis’ Macht­den­ken eine Ein­schät­zung der wis­sen­schaft­li­chen Po­si­ti­on von Pa­na­jo­tis Kon­dy­lis vor­zu­neh­men. Dabei un­ter­lau­fen Ar­gu­men­ta­ti­ons­feh­ler, die sym­pto­ma­tisch sind für ideo­lo­gi­sche Po­si­tio­nen – hier be­tref­fen sie Ideo­lo­gi­en der Post­mo­der­ne. Ideo­lo­gi­sche Po­si­tio­nie­rung steht wis­sen­schaft­li­cher Wahr­heits­su­che im Wege. Ihr hat sich der ›de­skrip­ti­ve De­zi­sio­nis­mus‹ von Kon­dy­lis ver­schrie­ben, es ist die Ab­sa­ge an ideo­lo­gi­sche Ver­en­gung. Die zen­tra­len Schwä­chen der Ar­gu­men­ta­ti­on von Flü­gel-Martin­sen wer­den hier so aus­führ­lich dar­ge­stellt, dass die Kennt­nis von des­sen Dar­le­gun­gen nicht nötig ist. Die Wi­der­le­gung von Flü­gel-Martin­sen soll vor allem eine Ver­ste­hens­hil­fe für den Denk- und Ar­gu­men­ta­ti­ons­an­satz von Kon­dy­lis geben.

Ein be­deut­sa­mes Miss­ver­ste­hen zeigt sich be­reits in dem Satz: »Wenn Kon­dy­lis be­haup­tet, dass nor­ma­ti­ve Po­si­tio­nen des­halb falsch sind, weil sie die Wirk­lich­keit des Macht­stre­bens über­se­hen...« (Apo­dik­ti­scher De­zi­sio­nis­mus (=AD), S.373). Dabei be­zieht sich Flü­gel-Martin­sen auf Pa­na­jo­tis Kon­dy­lis, Macht und Ent­schei­dung (=MuE), S.74. Doch dort steht etwas an­de­res. Kon­dy­lis stellt sich näm­lich in­ten­siv der Frage nach der so­zia­len Funk­tio­na­li­tät der Werte. Werte und Nor­men sind für ihn nicht falsch, weil sie die Wirk­lich­keit des Macht­stre­bens über­se­hen, viel­mehr sind sie für seine Ar­gu­men­ta­ti­on so­zi­al ge­ra­de­zu un­ent­behr­lich, da ihre funk­tio­nel­le Stär­ke darin liegt, dass durch sie jedes ei­gen­nüt­zi­ge Macht­stre­ben und jeder Macht­an­spruch ab­ge­wie­sen und sie als das Ge­gen­teil ihrer Natur hin­ge­stellt wer­den – etwa weil sie dem Sub­jekt un­be­wusst blei­ben. Der Preis, den der Macht­an­spruch dafür ent­rich­ten muss, ist seine Ver­leug­nung. Er muss seine Durch­set­zung ge­ra­de auf dem Umweg ver­fol­gen, der sei­ner Ein­däm­mung die­nen soll, näm­lich als ethi­sche oder recht­li­che Norm oder als Dienst am Ge­mein­wohl. Auf der von Flü­gel-Martin­sen zi­tier­ten Seite (MuE, S.74) heißt es zur Be­deu­tung von Nor­men: »Wären Macht und Moral ur­sprüng­lich und we­sens­ge­mäß he­te­ro­gen, so hät­ten sich Nor­men und Werte nie in den Dienst von Herr­schaft, ge­schwei­ge denn von Ag­gres­si­on und Ver­nich­tung stel­len las­sen.« Auch fin­det sich im glei­chen DZfPh-Heft der Dar­le­gung von F.-M. im Ar­ti­kel Alte und neue Gott­heit von Kon­dy­lis die Be­mer­kung: »Die for­ma­le Be­griffs­struk­tur, die eine Welt­an­schau­ung oder Ideo­lo­gie kenn­zeich­net, ist in der Regel ihren Trä­gern nicht be­wusst, und sie kann ohne Wei­te­res zwei Welt­an­schau­un­gen ge­mein­sam sein, die sich auf Leben und Tod be­kämp­fen. (...) Diese Au­to­no­mie [der for­ma­len Struk­tur] spie­gelt in der Wirk­lich­keit die Vor­herr­schaft ihres un­be­wuss­ten Teils über den be­wuss­ten wider. (...) [Die for­ma­le struk­tu­rel­le Über­ein­stim­mung] muss sogar den Ideo­lo­gie­an­hän­gern weit­ge­hend un­be­wusst blei­ben, wenn sie ihren ent­schei­den­den psy­cho­lo­gi­schen Rück­halt, näm­lich das apos­to­li­sche, mis­sio­na­ri­sche Ge­fühl ihrer Ein­zig­ar­tig­keit, nicht ver­lie­ren wol­len.« (S.351)

Die ein­zig le­gi­ti­me Schluss­fol­ge­rung dar­aus ist, dass nor­ma­ti­ve Po­si­tio­nen ge­ra­de des­halb wir­kungs­voll sind, weil sie die Wirk­lich­keit des Macht­stre­bens ver­de­cken, aber sie sind kei­nes­wegs des­halb falsch, weil diese Wirk­lich­keit über­se­hen wird. Ihre so­zia­le Wirk­sam­keit bzw. Funk­tio­na­li­tät lässt sich auf die un­be­wuss­te (for­ma­le) Kom­po­nen­te der Welt­bil­der zu­rück­füh­ren, auf die Tat­sa­che also, dass im Zu­stand der Kul­tur der Macht­an­spruch nur als seine Ne­ga­ti­on und Selbst­ver­leug­nung auf­tre­ten darf, um seine Ziele durch die­je­ni­gen so­zia­len In­stan­zen er­rei­chen zu kön­nen, die zu sei­ner Ein­däm­mung auf­ge­türmt wur­den. Er darf bei Stra­fe des ei­ge­nen Un­ter­gangs nicht un­ge­hemmt als ›nack­te‹ Ent­schei­dung auf­tre­ten. In­ner­halb der Kul­tur prä­sen­tiert er sich not­ge­drun­gen als selbst­lo­ser Dienst am Ge­mein­wohl. Der so­zia­le Dis­zi­pli­nie­rungs­druck würde ihn frü­her oder spä­ter zer­schmet­tern, falls er sich als das zeig­te, was er ist und be­zweckt, näm­lich die Ver­fol­gung ei­ge­ner In­ter­es­sen.

Mit die­sen Fest­stel­lun­gen ist ein ar­gu­men­ta­ti­ver Kreis er­öff­net, des­sen Haupt­punk­te die Er­klä­rung ei­ni­ger theo­re­ti­scher Grund­po­si­tio­nen des ›de­skrip­ti­ven De­zi­sio­nis­mus‹ von Kon­dy­lis und zu­gleich eine Auf­klä­rung über die Miss­ver­ständ­nis­se von Flü­gel-Martin­sen dar­stel­len. So etwa ent­hält sein grund­sätz­lich ge­mein­tes Ur­teil einen wegen sei­ner Tri­via­li­tät all­seits be­kann­ten Ar­gu­men­ta­ti­ons­feh­ler: »ob­wohl er mit sei­ner be­fra­gen­den Re­kon­struk­ti­on der Kon­sti­tu­ti­on von Welt­bil­dern be­stimm­te ideo­lo­gie­kri­ti­sche Fäden wei­ter­zu­spin­nen scheint, die eben­falls zu einer ge­hö­ri­gen Skep­sis auch ge­gen­über der Si­cher­heit der ei­ge­nen Denk­mit­tel füh­ren soll­ten, wi­der­steht Kon­dy­lis of­fen­bar der Ver­su­chung nicht, sich in die Po­si­ti­on des­je­ni­gen zu be­ge­ben, der den Schlei­er zu lüf­ten ver­mag, ohne sich in die glei­chen Fall­stri­cke zu be­ge­ben, von denen er selbst ge­meint hat zei­gen zu kön­nen, dass sie für alle üb­ri­gen Theo­ri­en in ihrer Ei­gen­schaft als Welt­bil­der un­aus­weich­lich sind;« (AD, S.373) Die Er­ör­te­rung die­ses Sat­zes soll unter den As­pek­ten A und B er­fol­gen.

(A) Diese Aus­sa­ge be­schreibt den mehr­fach gegen Kon­dy­lis vor­ge­brach­ten Vor­wurf des Ver­zichts auf Wer­tung. Die Auf­stel­lung der (exis­ten­ti­el­len) Wer­te­frei­heit werde aus tak­ti­schen Op­por­tu­ni­täts­grün­den ein­ge­führt. Da­durch ver­schaf­fe sich der Theo­re­ti­ker das Vor­recht der wah­ren Theo­rie. Die­ser pri­vi­le­gier­te Sta­tus er­leich­te­re ihm die Ob­jek­ti­vie­rung der ei­ge­nen Ent­schei­dung und daher die Ver­leug­nung des ei­ge­nen Macht­an­spruchs. Doch damit ist im lo­gisch-struk­tu­rel­len Auf­bau nur das tri­via­le Ar­gu­ment gegen den Skep­ti­zis­mus wie­der­holt: Wor­aus wolle denn der Skep­ti­ker, da man doch nach sei­ner Mei­nung nichts Ge­wis­ses wis­sen kann, die Ge­wiss­heit sei­ner Po­si­ti­on ab­lei­ten? »Wo ist der Ort, von dem aus eine Me­ta­per­spek­ti­ve ein­ge­nom­men wer­den kann, die es, nimmt man die per­spek­ti­vis­ti­schen Hin­ter­grund­an­nah­men ernst, ja ei­gent­lich nicht geben dürf­te?« (AD, S.372) An­ge­nom­men, das Ar­gu­ment träfe zu. Was wäre damit be­wie­sen? Die lo­gisch rich­ti­ge Schluss­fol­ge­rung dar­aus wäre, dass alle, Kon­dy­lis ein­ge­schlos­sen, ihre Ent­schei­dun­gen ob­jek­ti­vie­ren und Macht an­stre­ben. Die­ser ein­zig le­gi­ti­me Schluss be­deu­tet aber die Be­stä­ti­gung der Kon­dy­li­schen Theo­rie. Man kann nicht eine Theo­rie wi­der­le­gen, indem man ihren Gel­tungs­be­reich er­wei­tert, d.h. einen Syl­lo­gis­mus be­müht, bei dem Ober­satz (»nimmt man die per­spek­ti­vis­ti­schen Hin­ter­grund­an­nah­men ernst«) und Kon­klu­si­on im Wi­der­spruch zu­ein­an­der ste­hen. Kon­dy­lis er­klärt in einem In­ter­view aus­führ­lich, »im Ober­satz wird also die Wahr­heit einer Po­si­ti­on, im Schluss ihre Falsch­heit an­ge­nom­men: ›Ihre Theo­rie, Welt­bil­der seien re­la­tiv, ist wahr, daher ist Ihre Theo­rie als Welt­bild re­la­tiv bzw. falsch.‹ Nein, so las­sen sich skep­ti­sche Po­si­tio­nen nicht wi­der­le­gen. Dass meine Theo­rie, wie jede an­de­re auch, ge­schicht­lich be­dingt ist, be­weist nicht ihre Re­la­ti­vi­tät, son­dern bil­det bloß eine Be­stä­ti­gung des Prin­zips der ge­schicht­li­chen Be­dingt­heit am ei­ge­nen Bei­spiel. (...) Nicht die ge­schicht­li­che, son­dern die nor­ma­ti­ve Bin­dung steht der Wahr­heit von Theo­ri­en über die mensch­li­chen Dinge im Wege.« (Kon­dy­lis, Macht­fra­gen, S.164)

(B) In der Be­mer­kung von F.-M. er­folgt die un­zu­läs­si­ge Gleich­set­zung der Ebene der Theo­rie (der Dar­stel­lung der Wirk­lich­keit) mit der Ebene der Wirk­lich­keit selbst, es be­steht also die Ver­wech­se­lung der Dar­stel­lungs­ebe­ne als theo­re­ti­scher Me­ta­ebe­ne und der the­ma­ti­schen, d.h. der Ebene der real exis­tie­ren­den Un­ter­su­chungs­ob­jek­te. Die ele­men­ta­re wis­sen­schaft­li­che Lehre un­ter­schei­det zwi­schen Form- sowie Funk­ti­ons­ana­ly­se der Werte in­ner­halb ihres an­thro­po­lo­gisch-kul­tu­rel­len Nexus und der An­wen­dung be­stimm­ter Nor­men als Richt­li­ni­en der Be­hand­lung des Un­ter­su­chungs­ge­gen­stan­des. Die Be­ach­tung des fun­da­men­ta­len Un­ter­schieds der bei­den Ebe­nen ist die ein­zig zu­läs­si­ge Weise, die Ein­fluss­nah­me der wer­ten­den De­skrip­ti­on auf die wert­freie zu ver­hin­dern. Das de­skrip­ti­ve Ver­fah­ren setzt die Werte nicht in Be­zie­hung zur Re­al­ebe­ne, es be­dient sich ihrer nicht als ana­ly­ti­scher Kom­pass bzw. theo­re­ti­sches Be­zugs­sys­tem, viel­mehr lässt es sie als gleich­be­rech­tig­te Un­ter­su­chungs­ge­gen­stän­de neben an­de­ren zahl­rei­chen so­zia­len Wir­kungs­fak­to­ren be­ste­hen. Durch ihr rest­lo­ses Auf­ge­hen in der Re­al­ebe­ne er­hal­ten die Werte ihren al­lein an­ge­mes­se­nen Platz neben den üb­ri­gen Ge­ge­ben­hei­ten. Somit wird ihnen jeder pri­vi­le­gier­te epis­te­mo­lo­gi­sche Sta­tus ge­nom­men, den sie in­ner­halb der ethisch-nor­ma­ti­ven Theo­ri­en be­sit­zen. Indem man sie auf der Ob­jekt­ebe­ne fest­zurrt, kann sich keine Los­lö­sung von ihr und kein Über­gang mehr zur theo­re­ti­schen Me­ta­ebe­ne voll­zie­hen, wo­durch sie sich von Ob­jek­ten der Be­trach­tung in Richt­li­ni­en des ana­ly­ti­schen Vor­ge­hens ver­wan­deln wür­den. Die Er­kennt­nis des So­zia­len ist also im Prin­zip mög­lich, wenn man die Werte als kon­sti­tu­ti­ve Ele­men­te der mensch­li­chen Si­tua­ti­on auf­fasst.

Die Ebene der Dar­stel­lung bzw. die theo­re­ti­sche Me­ta­ebe­ne

Es ist die Ebene, auf der sich die Frage der Ob­jek­ti­vi­tät (was gibt es wirk­lich?) stellt. Auf die­ser Ebene wird die Frage durch den so­zi­a­lon­to­lo­gi­schen Grund­satz be­ant­wor­tet. »Es gibt keine Ideen. Es gibt nur mensch­li­che Exis­ten­zen in kon­kre­ten Lagen, die auf je­weils spe­zi­fi­sche Weise agie­ren und re­agie­ren; eine die­ser spe­zi­fi­schen Ak­tio­nen und Re­ak­tio­nen be­steht nach der üb­li­chen Ter­mi­no­lo­gie darin, sich Ideen zu er­den­ken oder an­zu­eig­nen. Nicht Ideen kom­men in Be­rüh­rung mit­ein­an­der, son­dern nur mensch­li­che Exis­ten­zen, die in­ner­halb von or­ga­ni­sier­ten Ge­sell­schaf­ten im Namen von Ideen han­deln müs­sen; (...) und schlie­ß­lich wer­den Ideen weder be­siegt noch sie­gen sie, son­dern ihr Sieg oder ihre Nie­der­la­ge steht sym­bo­lisch für die Durch­set­zung oder Un­ter­wer­fung von be­stimm­ten mensch­li­chen Exis­ten­zen.« (MuE S.85f)

Die­sem Grund­satz gemäß ist die on­to­lo­gi­sche Prio­ri­tät der kon­kre­ten Men­schen vor­ge­ge­ben. Geht man von ihm aus, dann müs­sen die Ideen die­ser Men­schen als Funk­tio­nen oder De­ri­va­te des pri­mä­ren on­to­lo­gi­schen Ele­ments (des Men­schen) auf­ge­fasst wer­den, wie die­ses auf der Ebene der Dar­stel­lung de­fi­niert wird. Somit be­sitzt die Frage der Ob­jek­ti­vi­tät zwei ana­ly­tisch un­ter­scheid­ba­re Di­men­sio­nen: Die Ob­jek­ti­vi­tät oder der Ob­jek­ti­vi­täts­an­spruch der Ideen, wie sie im Lich­te des on­to­lo­gi­schen Prin­zips un­ter­sucht wird und die Ob­jek­ti­vi­tät oder der Ob­jek­ti­vi­täts­an­spruch der Ideen, wie sie in der Per­spek­ti­ve der the­ma­ti­schen Ebene, d.h. in der Per­spek­ti­ve der kon­kre­ten Men­schen er­scheint. Aus den on­to­lo­gi­schen Prin­zi­pi­en der Theo­rie folgt not­wen­dig, dass die Ideen der kon­kre­ten Sub­jek­te keine Ob­jek­ti­vi­tät im ab­so­lu­ten Sinne be­an­spru­chen kön­nen, in­so­fern jene eben exis­ten­ti­el­le Funk­tio­nen für die Men­schen haben, was diese nicht davon ab­hält, ihre Ideen für ob­jek­tiv ge­ge­ben und für rich­tig zu hal­ten. Dafür, dass die Men­schen ihre zwangs­läu­fig exis­ten­ti­el­len sub­jek­ti­ven Ent­schei­dun­gen mit dem Sie­gel der Ob­jek­ti­vi­tät ver­se­hen müs­sen, bie­tet der de­skrip­ti­ve De­zi­sio­nis­mus eine Er­klä­rung, näm­lich den Me­cha­nis­mus der Ob­jek­ti­vie­rung bzw. Ra­tio­na­li­sie­rung (Le­gi­ti­mi­tät durch Ra­tio­na­li­tät, psy­cho­lo­gi­sche Ra­tio­na­li­sie­rung etc.), der in sei­ner ge­samt­ge­sell­schaft­li­chen Di­men­si­on als die fun­da­men­ta­le Am­bi­va­lenz des So­zia­len um­schrie­ben wird. Die­ser ist die Grund­be­din­gung der Iden­ti­täts­bil­dung und der Kon­sti­tu­ti­on der Welt­bil­der.

Die Wer­tent­hal­tung des Theo­re­ti­kers

Diese wird aus­schlie­ß­lich auf der Ebene der Dar­stel­lung pos­tu­liert und sach­ge­recht ein­ge­setzt. Die Ab­sicht des Theo­rie­pro­du­zen­ten ist es, die Grund­le­gung der Me­ta­ebe­ne, sei­nes Ho­heits­ge­biets so­zu­sa­gen, in einer Weise vor­zu­neh­men, die in der Lage ist, Ver­zer­rung und Trü­bung sei­nes Modus der Er­fas­sung der the­ma­ti­schen Ebene im Keime zu er­sti­cken. Der exis­ten­ti­el­le Ver­zicht ist die con­di­tio sine qua non zur Ab­si­che­rung des ab­so­lu­ten Vor­rangs der Ebene der Wirk­lich­keit, d.h. des rea­len so­zia­len Ge­sche­hens. Wäre die Kon­sti­tu­ie­rung der Me­ta­ebe­ne ohne Zu­grun­de­le­gung des Pos­tu­lats der Wert­frei­heit, also ohne Au­ßer­kraft­set­zung der per­sön­li­chen Wün­sche und Prä­fe­ren­zen des Theo­rie­pro­du­zen­ten (des­we­gen exis­ten­ti­el­le Wert­frei­heit) im Hin­blick und mit Rück­sicht auf die ab­so­lu­te on­ti­sche Prio­ri­tät der rea­len Ebene er­folgt, dann wäre die Theo­rie au­ßer­stan­de, das gleich­zei­ti­ge Vor­han­den­sein meh­re­rer unter sich kon­kur­rie­ren­der Theo­ri­en unter Ach­tung des Prin­zips ihrer Gleich­wer­tig­keit (der grund­sätz­li­chen An­er­ken­nung der funk­tio­nel­len Gleich­be­rech­ti­gung aller nor­ma­ti­ven Po­si­tio­nen) zu er­klä­ren. Für den de­skrip­ti­ven De­zi­sio­nis­mus ver­fü­gen so­wohl der Got­tes­fürch­ti­ge als auch der Ra­tio­na­list, der ›Ir­ra­tio­na­list‹ sowie der Ni­hi­list über eben­bür­ti­ge Lo­gi­ken und Iden­ti­tä­ten. Die Rolle des ›Ra­tio­na­lis­mus‹ bei der Iden­ti­täts­kon­sti­tu­ie­rung über­nimmt bei den einen der re­li­giö­se Glau­be, bei den an­de­ren der ›Ir­ra­tio­na­lis­mus‹, der ›In­tui­tio­nis­mus‹, die An­be­tung des Ge­fühls etc.

Für die de­skrip­ti­ve Theo­rie ver­kör­pern diese Spiel­ar­ten der Iden­ti­täts­bil­dung ei­ni­ge der un­zäh­li­gen For­men der Ob­jek­ti­vie­rung einer Ent­schei­dung. Bei nor­ma­ti­vis­ti­schen Theo­ri­en da­ge­gen, die die Kon­sti­tu­ie­rung der Me­ta­ebe­ne ohne Be­ach­tung bzw. unter be­wuss­ter Ab­leh­nung des Wer­te­frei­heits­pos­tu­lats vor­neh­men, wird die Ana­ly­se der Re­al­ebe­ne an Hand von Kri­te­ri­en un­ter­nom­men, die durch die wert­haft-nor­ma­ti­ve Hier­ar­chi­sie­rung von kon­sti­tu­ti­ven Ele­men­ten die­ser Re­al­ebe­ne ent­stan­den sind. Das wäre einer Vor­ge­hens­wei­se ver­gleich­bar, die das Selbst­ver­ständ­nis der Ak­teu­re in ihrem No­mi­nal­wert nähme; »vor allem wird die sym­bo­li­sche und po­le­mi­sche Re­le­vanz der (Selbst-)Schil­de­rung kaum wahr­ge­nom­men und so ge­re­det, als ob letz­te­re ide­el­le Ko­pi­en von rea­lem Han­deln wären und nicht Aus­sa­gen von Men­schen, die in ihrer kon­kre­ten Lage ihr Han­deln so schil­dern bzw. ra­tio­na­li­sie­ren woll­ten oder muss­ten.« (So­zi­a­lon­to­lo­gie (= SO) S.22, Anm. 46)

Der be­griff­li­chen Ver­schmel­zung von Meta- und Re­al­ebe­ne, d.h. ihrer man­geln­den Dif­fe­ren­zie­rung, steht bei Flü­gel-Martin­sen eine zwei­te zur Seite: Die Kon­fu­si­on näm­lich von epis­te­mo­lo­gi­scher und wert­haft-nor­ma­ti­ver Be­deu­tung des Nor­ma­ti­ven (»Was an­de­res aber ist das wis­sen­schaft­li­che Ideal der Wert­frei­heit als eine selbst wer­ten­de Über­zeu­gung?« [AD S. 374]). Selbst­ver­ständ­lich setzt jede Er­kennt­nis Wer­tun­gen vor­aus, diese haben aber eine ganz an­de­re Struk­tur und Be­schaf­fen­heit als ethisch-nor­ma­ti­ve. Sie sind An­lei­tun­gen, Nor­men, Richt­li­ni­en wis­sen­schaft­li­chen me­tho­di­schen Vor­ge­hens. Ich be­wer­te wis­sen­schaft­lich, das heißt, ein­ge­denk des end­li­chen Cha­rak­ters des mensch­li­chen Denk­ver­mö­gens setze ich mir be­stimm­te Un­ter­su­chungs­zie­le und -prio­ri­tä­ten, be­vor­zu­ge die Un­ter­su­chung die­ses Ge­gen­stan­des ge­gen­über an­de­ren, habe ein be­son­de­res In­ter­es­se zur Be­leuch­tung die­ses As­pek­tes re­la­tiv zu an­de­ren des glei­chen Ge­gen­stan­des. Ich an­er­ken­ne die Gleich­be­rech­ti­gung ver­schie­de­ner Un­ter­su­chungs­per­spek­ti­ven und pro­fi­tie­re vom Er­kennt­nis­fort­schritt und den For­schungs­re­sul­ta­ten an­de­rer Wis­sen­schaft­ler. Der Ein­satz von Abs­trak­tio­nen, Ge­ne­ra­li­sie­run­gen, Re­duk­tio­nen, Ana­lo­gi­en, Se­lek­tio­nen, Sche­ma­ti­sie­run­gen, Hier­ar­chi­sie­run­gen, Ty­pi­sie­run­gen, Ver­glei­chen etc. bil­det eine reine Zweck­mä­ßig­keits­fra­ge. Das wis­sen­schaft­li­che Leis­tungs­kri­te­ri­um ist die her­me­neu­ti­sche oder er­klä­ren­de Frucht­bar­keit der Be­trach­tung: Wie viele und wel­che Phä­no­me­ne wer­den er­klärt und ver­stan­den?

All das hat M. Weber mit dem Ter­mi­nus ›Wert­be­zie­hung‹ be­legt. Es gibt keine on­tisch un­ab­hän­gi­gen Ge­gen­stän­de. Sie wer­den zu Ge­gen­stän­den der Be­trach­tung erst in der Per­spek­ti­ve des je­wei­li­gen For­schungs­in­ter­es­ses ( »durch eine per­spek­ti­vis­ti­sche Ent­schei­dung«, wie Flü­gel-Martin­sen sagt). Die­ses schnei­det aus dem on­ti­schen Kon­ti­nu­um dis­kre­te Seg­men­te aus und be­trach­tet sie als seine Un­ter­su­chungs­be­rei­che. Das On­ti­sche (πρωτον τη φυσει) wird mit­tels der theo­re­ti­schen Kon­struk­ti­on zum On­to­lo­gi­schen (πρωτον προς ημας). Die we­sent­li­che Frage ist: Wie wird der ab­so­lu­te Vor­rang der on­ti­schen Ebene (der Rea­li­tät) ge­si­chert? Durch die mit grö­ßt­mög­li­cher Klar­heit vor­ge­nom­me­ne An­ga­be der Be­schaf­fen­heit der on­to­lo­gi­schen Ebene.

Die ethisch-nor­ma­ti­vis­ti­sche Theo­rie da­ge­gen dul­det keine al­ter­na­ti­ven oder kom­ple­men­tä­ren Per­spek­ti­ven neben sich. Daher ist sie au­ßer­stan­de, den Per­spek­ti­ven­wech­sel in Bezug auf den glei­chen Ge­gen­stand vor­zu­neh­men. Zwar kann ich im ge­ge­be­nen Fall ab­wä­gen, ob diese oder jene Tat die für mich mo­ra­lisch an­ge­mes­se­ne ist, ich bin aber un­fä­hig, die Stand­punk­te zu wech­seln und, an­statt Hilfe an­zu­bie­ten, zu mor­den, wenn ich mei­nen mo­ra­li­schen Stand­punkt nicht auf­ge­ben will. Es hin­dert mich aber nichts daran, bei einer wis­sen­schaft­li­chen Un­ter­su­chung jen­seits jeder mo­ra­li­schen Wer­tung die Fol­gen der Hil­fe­leis­tung oder die Fol­gen der Mord­tat zu er­wä­gen. Ich muss dabei kei­nes­wegs meine per­sön­li­che Moral auf­ge­ben, ge­nau­so wie bei der Un­ter­su­chung eines phy­si­ka­li­schen Phä­no­mens mich nichts hin­dert, zu sei­ner Er­klä­rung ver­schie­de­ne Stand­punk­te ein­zu­neh­men, das Phä­no­men etwa auf der Basis des Kau­sa­li­täts­prin­zips oder auf der des In­de­ter­mi­nis­mus zu er­klä­ren.

Flü­gel-Martin­sen un­ter­zieht die An­sich­ten von Skin­ner, Fou­cault und Kon­dy­lis einer ver­glei­chen­den Prü­fung und kommt zum Er­geb­nis, die Theo­rie­vor­schlä­ge der ers­ten bei­den wie­sen ge­gen­über dem von Kon­dy­lis ent­schei­den­de Vor­zü­ge auf, die im Ver­zicht auf macht­an­thro­po­lo­gi­sche An­sät­ze be­grün­det seien; er spricht von der Dis­tanz, »die die ge­nea­lo­gisch-dis­kurs­theo­re­ti­sche An­näh­rung an Kon­flikt­si­tua­tio­nen vom macht­an­thro­po­lo­gi­schen An­satz Kon­dy­lis’ trennt. (..) Zwar mag Skin­ner wei­ter­hin die Rolle von Ak­teu­ren in Dis­kur­sen be­den­ken, aber auch er lie­fert kei­nes­wegs eine all­ge­mei­ne Theo­rie mensch­li­chen Seins, um von ihr auf die Kon­flikt­si­tua­ti­on zu schlie­ßen, wie es bei Kon­dy­lis der Fall ist.« (S. 378) Doch gleich dar­auf schwenkt Flü­gel-Martin­sen mit dem Ver­zicht auf die Ver­tei­di­gung der ei­ge­nen Po­si­ti­on und auf einen ernst­haf­ten Wi­der­le­gungs­ver­such sei­nes Fein­des das weiße Fah­nerl der Ka­pi­tu­la­ti­on: »So­wohl Skin­ner als auch Fou­cault kön­nen des­halb gleich­sam unter der be­grün­dungs­theo­re­ti­schen Hürde [also doch eine Hürde!], die Kon­dy­lis neh­men müss­te, hin­weg­tau­chen.« Die­ser habe also, wird ne­ben­bei be­haup­tet, seine Po­si­ti­on nicht be­grün­det; tat­säch­lich aber haben die Er­geb­nis­se sei­ner geis­tes­ge­schicht­li­chen und his­to­ri­schen Un­ter­su­chun­gen bis­lang un­wi­der­leg­te Be­wei­se für die Frucht­bar­keit sei­ner an­thro­po­lo­gi­schen Grund­an­nah­men ge­lie­fert. Zu­gleich wer­den Skin­ner und Fou­cault dafür ge­lobt, dass sie unter einer be­grün­dungs­theo­re­ti­schen Hürde hin­weg­tau­chen, also auf eine Po­si­ti­ons­be­grün­dung ver­zich­ten. Flü­gel-Martin­sen be­teu­ert ohne Be­grün­dung die Über­le­gen­heit des Ver­bleibs auf der Dis­kurs­ebe­ne, die Über­le­gen­heit einer prag­ma­ti­schen ge­gen­über einer ›fun­da­men­ta­lis­ti­schen‹ Hal­tung. Mit dem Plä­doy­er für ein Ver­schie­ben des »Un­ter­su­chungs­fo­cus von den Ei­gen­schaf­ten von Sub­jek­ten auf die Be­din­gun­gen der Sub­jek­ti­vi­tät« ( S.378f) spricht er sich ent­spre­chend der post­mo­der­nen So­zi­al­leh­re für die Auf­lö­sung des Sub­jekts in die Summe sei­ner in­ter­ak­ti­ven Funk­tio­nen aus. Er folgt der post­mo­der­nen So­zi­al­theo­rie, die – so die Ana­ly­se bei Kon­dy­lis (SO S.6) – als Denk­fi­gur die ide­el­le Er­gän­zung zum Funk­ti­ons­mo­dus der mas­sen­de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schafts­form bil­det. Mit der Ab­leh­nung der als ›fun­da­men­ta­lis­tisch‹ be­zeich­ne­ten Hal­tung wer­tet Flü­gel-Martin­sen eine abend­län­disch ver­trau­te Denk­tra­di­ti­on ab, die ihre Er­klä­rungs­ver­su­che mit an­thro­po­lo­gi­schen An­sät­zen un­ter­nahm, mit Thuky­di­des einen frü­hen Hö­he­punkt er­reich­te und dar­über hin­aus all­ge­mein allen Men­schen auf der Welt im Le­bens­all­tag selbst­ver­ständ­lich ist: Ihren Aus­gangs­punkt bil­det eine kon­kre­te Vor­stel­lung vom mensch­li­chen Wesen als Grund­la­ge der Ver­su­che, diese Wesen, ihre Hand­lun­gen und den Sinn, den sie mit die­sen Hand­lun­gen ver­ban­den, zu ver­ste­hen.

Wenn F.-M. Kon­dy­lis »Apo­dik­tik« (AD S.374) un­ter­stellt, ver­kennt er, dass »Macht und Ent­schei­dung« die knap­pe Theo­rie ent­hält, gleich­sam das Er­geb­nis der bis dahin vor­ge­leg­ten Be­weis­ma­te­ria­li­en für die Theo­rie, näm­lich die Ar­bei­ten »Die Ent­ste­hung der Dia­lek­tik« und »Die Auf­klä­rung«. Diese bis­lang nicht wi­der­leg­ten Ana­ly­sen sind er­gänzt wor­den durch wei­te­re geis­tes­ge­schicht­li­che Un­ter­su­chun­gen. Wer die Theo­rie von Kon­dy­lis wi­der­le­gen will, muss zei­gen, dass sein Be­wei­se un­zu­tref­fend sind.

Geis­tes­ge­schicht­li­che Dif­fe­ren­zie­rungs­pro­zes­se ver­lau­fen ana­log zu so­zia­len nicht ge­rad­li­nig und gleich­för­mig, wie sich am Bei­spiel von zwei kon­kur­rie­ren­den und um­fas­sen­de Macht­an­sprü­che er­he­ben­den Welt­bil­dern der eu­ro­päi­schen Geis­tes­ge­schich­te zei­gen lässt. (vgl. SO S.36ff) Auf der einen Seite steht die theo­lo­gi­sche Me­ta­phy­sik, die Ge­gen­po­si­ti­on bil­det der neu­zeit­li­che Ra­tio­na­lis­mus. Die­ser stell­te der aris­to­te­lisch-scho­las­ti­schen (gött­li­chen) Ver­nunft eine eben­so um­fas­sen­de Ver­nunft ge­gen­über, »die den po­le­misch ge­mein­ten und ver­wen­de­ten In­be­griff der an­ti­theo­lo­gi­schen Ein­stel­lung bil­de­te.« (SO S.49) Der tra­di­tio­nel­len Me­ta­phy­sik stell­te der neu­zeit­li­che Ra­tio­na­lis­mus Hy­postasen wie ›Natur‹, ›Mensch‹, ›Ge­schich­te‹ ge­gen­über. »Diese waren zwar vom In­halt her der theo­lo­gi­schen Welt­an­schau­ung ent­ge­gen­ge­setzt, struk­tu­rell stimm­ten sie aber mit ihr in der ent­schei­den­den Hin­sicht über­ein, dass sie eben­falls auf der di­rek­ten oder in­di­rek­ten Ver­flech­tung von Sein und Sol­len be­ruh­ten, also den Sieg von vor­schwe­ben­den ethi­schen Vor­stel­lun­gen durch den Ver­weis auf die Be­schaf­fen­heit eines on­to­lo­gi­schen oder an­thro­po­lo­gi­schen Ur­grun­des ab­si­chern woll­ten.« (SO S.49)

Weil sich der neu­zeit­li­che Ra­tio­na­lis­mus po­le­misch gegen die theo­lo­gi­sche Me­ta­phy­sik wen­den muss­te, ent­hielt er als Ge­gen­mo­dell eine lo­gi­sche Schwä­che, denn der Mensch muss­te als Teil der ge­setz­mä­ßi­gen Natur und zu­gleich als Herr über diese Natur auf­ge­fasst wer­den. Damit war ein lo­gisch nicht auf­lös­ba­rer Kon­flikt »zwi­schen Kau­sa­lem und Nor­ma­ti­vem oder zwi­schen Sein und Sol­len« ge­ge­ben, der dann, wenn er lo­gisch zu Ende ge­dacht wurde, zum ethi­schen Ni­hi­lis­mus füh­ren muss­te. Diese Ge­dan­ken­li­nie aber ist, wie be­reits er­klärt, ge­sell­schaft­lich un­brauch­bar und nicht ak­zep­ta­bel. Des­halb wur­den die ge­nann­ten Hy­postasen und my­thi­schen Kon­struk­te in der vor­herr­schen­den und ge­sell­schaft­lich ge­eig­ne­ten Haupt­strö­mung des neu­zeit­li­chen Ra­tio­na­lis­mus eben nicht nur gegen die theo­lo­gi­sche Me­ta­phy­sik ein­ge­setzt, »son­dern auch gegen die ra­di­ka­le Aus­mer­zung des Sol­lens aus dem Sein, die bei der völ­li­gen Auf­lö­sung des Sol­lens und par­al­lel dazu bei der schrof­fen Tren­nung von in­stru­men­tel­ler und ethi­scher Ra­tio­na­li­tät von­ein­an­der en­de­te.« (SO S.49) Dies ist in knap­per Zu­sam­men­fas­sung das Thema des Auf­klä­rungs­bu­ches. Die dort un­ter­such­ten geis­tes­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lungs­pro­zes­se wer­den im Zu­sam­men­hang mit ge­sell­schaft­li­chen ge­se­hen.

Macht­an­spruch und for­ma­le Struk­tur

Alle theo­lo­gisch-me­ta­phy­si­schen und pro­fa­nen ob­jek­ti­vier­ten Ent­schei­dun­gen haben die glei­chen Denk­struk­tu­ren, denn alle haben – wie er­wähnt – das glei­che an­thro­po­lo­gisch be­ding­te Pro­blem, »näm­lich Nor­men bzw. Macht­an­sprü­che durch letz­te on­to­lo­gi­sche oder an­thro­po­lo­gi­sche Ar­gu­men­te zu be­grün­den. (...) – wer in­ner­halb der or­ga­ni­sier­ten Ge­sell­schaft auf die Dauer Macht haben und Herr­schaft aus­üben will, der muss (al­ler­dings im Sinne der ei­ge­nen Macht und Herr­schaft) be­stimm­te

le­bens­er­hal­ten­de,

also norm­set­zen­de Funk­tio­nen er­folg­reich über­neh­men kön­nen, und zwar unter Be­ru­fung auf den uns be­kann­ten Grund­satz der so­zia­len Dis­zi­pli­nie­rung.« (meine Her­vor­heb. MuE S.67)

 

Dar­aus er­gibt sich die These: Die for­ma­le Struk­tur ist Aus­druck der all­seits und gleich­zei­tig er­ho­be­nen Macht­an­sprü­che.

Das Aus­ein­an­der­hal­ten von Denk­struk­tur und Denk­in­halt macht den Um­stand ver­ständ­lich, dass Fein­de ihren Kampf ge­gen­ein­an­der unter Auf­bie­tung des­sel­ben Denk­me­cha­nis­mus, also der glei­chen Denk­struk­tur bei gleich­zei­ti­ger Ab­wei­chung der Denk­in­halte der aus den Ent­schei­dun­gen her­vor­ge­gan­ge­nen welt­an­schau­li­chen Denk­bil­der aus­tra­gen. Der in­halt­li­che Un­ter­schied be­deu­tet, dass die am Kampf be­tei­lig­ten Fein­de das Dies­seits und das Jen­seits auf ihre ei­ge­ne be­son­de­re Weise er­fas­sen und de­fi­nie­ren und dass jede der geg­ne­ri­schen Sei­ten aus dem Jen­seits un­ter­schied­li­che Nor­men ab­lei­tet; »diese we­sent­li­chen in­halt­li­chen Un­ter­schie­de oder gar Ge­gen­sät­ze ste­hen aber der Iden­ti­tät ihrer for­ma­len Struk­tur kei­nes­wegs im Wege, ob­wohl die Iden­ti­tät den ent­spre­chen­den Ent­schei­dungs­sub­jek­ten un­be­wusst blei­ben muss, damit sie ihre prak­tisch be­flü­geln­den Glau­ben an die aus­schlie­ß­li­che Wahr­heit und Ob­jek­ti­vi­tät, also Ein­zig­ar­tig­keit des ei­ge­nen Welt­bil­des in­takt er­hal­ten kön­nen.« ( m. Herv. MuE S.67f) Also gilt für die for­ma­le Struk­tur: Der Macht­an­spruch er­folgt in Form der Un­ter­schei­dung von Jen­seits und Dies­seits bzw. Sein und Schein.

Unser Welt­ver­ständ­nis bzw. Welt­bild ist un­auf­heb­bar axio­ma­tisch, und des­halb kann ein Jen­seits auch ein Axiom oder eine Hy­po­the­se eines wis­sen­schaft­li­chen Sys­tems sein. Also gilt: »Die Bin­dung des Me­ta­phy­sik­be­griffs an die Tran­szen­denz im Sinne des alten Jen­seits oder ›des rei­nen Seins‹ ist nicht ob­li­ga­to­risch oder kon­sti­tu­tiv – ob­li­ga­to­risch und kon­sti­tu­tiv bleibt aber seine Bin­dung an das Über­em­pi­ri­sche, d.h. an das, was durch keine (sinn­li­che) Er­fah­rung di­rekt ge­fun­den und auch durch keine (sinn­li­che) Er­fah­rung di­rekt ein­wand­frei be­stä­tigt oder wi­der­legt wer­den kann. Gleich­viel, ob es sich hier um Gott, um eine Welt­for­mel oder um all­ge­mei­ne Theo­ri­en oder Hy­po­the­sen han­delt.« (m. Herv., Die neu­zeit­li­che Me­ta­phy­sik­kri­tik (= nM) S.559) Den Sub­jek­ten der Ent­schei­dung ist die Iden­ti­tät der for­ma­len Struk­tur nicht be­wusst, der Un­ter­schied oder Ge­gen­satz ihres In­halts ist ihnen da­ge­gen sehr wohl be­wusst.

Dar­aus er­gibt sich die auf den ers­ten Blick pa­ra­do­xe Lage: Die un­be­wuss­te Iden­ti­tät treibt zur Feind­schaft, der be­wuss­te Un­ter­schied wird zum Mit­tel von Recht­fer­ti­gung und Stei­ge­rung des Kamp­fes. Damit trägt die Iden­ti­tät der Denk­struk­tur zur Stei­ge­rung des in­halt­li­chen Ge­gen­sat­zes bei. Das be­deu­tet, dass der­je­ni­ge, der Macht­an­sprü­che er­hebt, auf be­stimm­te Denk­struk­tu­ren von Jen­seits und Dies­seits zu­rück­grei­fen muss; »und der in­halt­li­che Ge­gen­satz er­gibt sich, weil sich die je­wei­li­ge kon­kre­te Be­stim­mung von Jen­seits und Dies­seits von jener des Fein­des un­ter­schei­den muss, so dass sie als Waffe und zu­gleich Sym­bol des exis­ten­ti­el­len Ge­gen­sat­zes die­nen kann.« (MuE S.68) Es be­steht eine not­wen­di­ge Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit zwi­schen for­ma­ler Struk­tur und in­halt­li­chem Ge­gen­satz und nur wenn beide As­pek­te der Ent­schei­dungs­struk­tur zu­sam­men­wir­ken, wird die Er­fül­lung des Macht­an­spruchs mög­lich.

Ein theo­re­ti­scher Vor­zug der Ver­ein­heit­li­chung des So­zia­len

Das Spek­trum der so­zia­len Be­zie­hung ist durch die ex­tre­me Freund­schaft (Selbst­auf­op­fe­rung) und die ex­tre­me Feind­schaft (Fremd­tö­tung) be­stimmt. Die­ser As­pekt ist die Po­la­ri­tät, das zwei­te Merk­mal des Spek­trums ist die Kon­ti­nui­tät. Das Spek­trum der so­zia­len Be­zie­hung muss als ein Kon­ti­nu­um von Po­la­ri­tät und Kon­ti­nui­tät auf­ge­fasst wer­den. (vgl. SO S.264) Das Spek­trum gibt den Rah­men ab, in­ner­halb des­sen sich so­zia­les Leben ab­spielt. Die­ser Rah­men ist, so­zi­a­lon­to­lo­gisch be­trach­tet mit einem ein­zi­gen Stoff ge­füllt, näm­lich den so­zi­al le­ben­den Men­schen. Seine Gren­zen sind zu­gleich äu­ßers­te Hand­lungs­gren­zen der Spe­zi­es Mensch, jen­seits die­ser Gren­zen gibt es nur das ›Nichts‹. Wis­sen­schaft­lich be­trach­tet, bie­tet die Per­spek­ti­ve der Po­la­ri­tät von Freund­schaft und Feind­schaft »den um­fas­sends­ten und zu­gleich fle­xi­bels­ten, ja ei­gent­lich den ein­zig denk­ba­ren Ein­ord­nungs­rah­men aller his­to­risch be­zeug­ten so­zia­len Be­zie­hun­gen zwi­schen Men­schen.« (SO S.265)

Es würde hier zu weit füh­ren, den lo­gi­schen Auf­bau des Spek­trums zu schil­dern; es muss die all­ge­mei­ne Be­mer­kung ge­nü­gen, dass die Fun­da­men­tie­rung des Spek­trums un­ab­hän­gig von trie­b­an­thro­po­lo­gi­schen oder struk­tu­ra­lis­ti­schen, psy­cho­lo­gi­schen oder ethi­schen Ge­sichts­punk­ten er­folgt. Dies gilt für die Ebene der Grund­le­gung, denn auf der Ebene der Rea­li­tät trei­ben al­lein die rea­len In­hal­te – seien sie psy­cho­lo­gisch oder ethisch – die Men­schen zu ihren Be­zie­hun­gen. Doch die kon­kre­ten In­hal­te sind nicht Sache der So­zi­a­lon­to­lo­gie. Dies be­deu­tet: Die for­ma­le, von den je­wei­li­gen Ak­teu­ren los­ge­lös­te Be­trach­tung, auf die die So­zi­a­lon­to­lo­gie wegen ihres Ver­all­ge­mei­ne­rungs­an­spruchs be­schränkt ist, ge­währt zwar grund­le­gen­de Ein­sich­ten in die ele­men­ta­re Me­cha­nik der Kom­bi­na­ti­ons­spie­le von Freund­schaft und Feind­schaft, an­de­rer­seits ver­mag sie nicht die Tat­sa­che zu er­klä­ren, son­dern nur zu re­gis­trie­ren, dass die­sel­ben Ak­teu­re je­weils an­de­re Plät­ze im Spek­trum der so­zia­len Be­zie­hung ein­neh­men. Die kon­kre­te Ana­ly­se der kon­kre­ten Be­zie­hung zwi­schen Freund­schaft / Feind­schaft muss sich der His­to­ri­ker oder der So­zio­lo­ge vor­neh­men. Wäh­rend auf der Ebene der for­ma­len Schil­de­rung des Spek­trums die Rei­hen­fol­ge der Plät­ze sta­bil bleibt, be­we­gen sich die rea­len Ak­teu­re un­auf­hör­lich hin und her im Kon­ti­nu­um, das diese Plät­ze bil­den. Diese ver­schie­de­nen Plät­ze im Spek­trum haben keine exis­ten­ti­ell und we­sen­haft vor­be­stimm­ten In­ha­ber. Weder lässt sich Freund­schaft den ›guten‹ noch Feind­schaft den ›bösen‹ Ak­teu­ren zu­tei­len. Die Plät­ze des Spek­trums stel­len keine im Vor­aus be­ste­hen­den Leer­stel­len, die auf die ge­eig­ne­ten Ak­teu­re war­ten, um sich zu fül­len, son­dern ihr Ver­zeich­nis bil­det die ab­stra­hie­ren­de Zu­sam­men­fas­sung aller his­to­risch be­zeug­ten so­zia­len Be­zie­hun­gen zwi­schen den Men­schen.

Mit dem ge­nann­ten As­pekt der Po­la­ri­tät im Spek­trum der so­zia­len Be­zie­hung lässt sich zur These zu­rück­keh­ren, dass jede Ethik, jede Mo­ral­leh­re, jede ethisch-nor­ma­ti­vis­ti­sche Po­si­ti­on, all­ge­mein jedes Welt­bild der Freund-Feind-Di­cho­to­mie ent­springt; zu­sam­men mit dem Fak­tum der zu allen Zei­ten kon­ti­nu­ier­lich be­ste­hen­den Viel­falt der Denk­bil­der führt dies auf die These: Der de­skrip­ti­ve De­zi­sio­nis­mus geht (..) von der ele­men­ta­ren, durch nichts weg­zu­in­ter­pre­tie­ren­den Tat­sa­che der his­to­risch über­lie­fer­ten Viel­falt aus, er­blickt ihre Ur­sa­che im Ent­schei­dungs- bzw. Ab­son­de­rungs­akt oder -vor­gang und sucht den­sel­ben unter Hin­weis auf die not­wen­di­ge Ver­wand­lung des Selbst­er­hal­tungs­be­stre­bens in Macht­an­spruch be­greif­lich zu ma­chen. (m. Herv. MuE S.39) Dies soll an­hand der an­thro­po­lo­gi­schen Fra­ge­stel­lung er­ör­tert wer­den, wobei den Aus­gangs­punkt die Tat­sa­che der Viel­falt der ge­schicht­li­chen Phä­no­me­ne bil­det. Diese führt zur Frage nach der Be­schaf­fen­heit des We­sens, das sie her­vor­ge­bracht hat. Die so­zi­a­lon­to­lo­gisch ori­en­tier­te An­thro­po­lo­gie soll also nicht den Men­schen, son­dern die un­er­mess­li­che Viel­falt der ge­schicht­li­chen und so­zia­len Phä­no­me­ne zum Aus­gangs­punkt neh­men und zu sei­nem Men­schen­bild als dem End­punkt der Un­ter­su­chung ge­lan­gen, nach­dem sie die Frage be­ant­wor­tet hat: Wie muss der Mensch be­schaf­fen sein, dass er sich mit die­ser Viel­falt ver­trägt? »Der beste Rat­ge­ber ist auch hier, so banal dies auch klin­gen mag, das im wei­tes­ten Sinne his­to­risch ge­bil­de­te und ge­prüf­te Ur­teil, dem ›hu­ma­ni nihil ali­e­num‹ ist. Der Mensch wird uns nicht in sei­ner sta­bi­len Sub­stanz, son­dern in sei­nen un­end­li­chen Me­ta­mor­pho­sen zum ver­trau­ten Wesen. Erst dann, wenn man mit Mon­tai­gne ge­sagt hat, man könne sich tau­send ge­gen­sätz­li­che Le­bens­wei­sen vor­stel­len, wird man auch mit der glei­chen Selbst­ver­ständ­lich­keit wie De­mo­krit mei­nen dür­fen: Der Mensch ist das, was wir alle ken­nen.« (SO S.217)

Es ist die Auf­ga­be der So­zi­a­lon­to­lo­gie, die bio­lo­gisch-psy­cho­lo­gi­sche und die kul­tu­rell-so­zia­le Di­men­si­on in einer Syn­the­se zu fas­sen, ist doch die Kul­tur des Men­schen eben­so Natur, wie seine Natur Kul­tur ist. (vgl. SO S.218) Es gibt nur ein ein­zi­ges Raum-Zeit-Kon­ti­nu­um, das nach so­zio­lo­gi­schen, his­to­ri­schen, bio­lo­gi­schen etc. Ge­sichts­punk­ten ge­trennt oder ge­glie­dert wird. Schon die Ver­tie­fung in einen kon­kre­ten Fall – gleich­gül­tig wel­che Dis­zi­plin sich für ihn zu­stän­dig fühlt – lässt das Kon­ti­nu­um er­ra­ten, wobei das Kon­ti­nu­um des Stof­fes die Viel­sei­tig­keit be­dingt oder er­zwingt. Die Viel­sei­tig­keit ist keine bloße Form son­dern ge­ra­de­zu eine Not­wen­dig­keit der For­schungs­pra­xis. Die Grund­le­gung be­deu­tet Abs­trak­ti­on, Ent­frem­dung von der Pra­xis. Der Druck des Kon­ti­nu­ums je­doch durch­bricht in der For­schungs­pra­xis die Gren­zen, es fin­det eine epis­te­mo­lo­gi­sche Os­mo­se zwi­schen den Dis­zi­pli­nen statt. Kon­dy­lis spricht von der Not­wen­dig­keit der Grund­le­gung und der Un­ge­bun­den­heit der For­schungs­pra­xis. Je kon­sis­ten­ter die Grund­le­gung, desto ge­rin­ger die Ge­fahr, dass die Er­geb­nis­se weder Fisch noch Fleisch sind.

Die Durch­füh­rung wird hier in der an­thro­po­lo­gi­schen Per­spek­ti­ve er­ör­tert, doch sie ließe sich ge­nau­so gut vom Po­li­ti­schen her oder von der so­zia­len Be­zie­hung her dar­le­gen. Der Mensch ist auch ein Tier, aber ›Tiere han­deln nicht‹ (Aris­to­te­les). Vom Bio­lo­gisch-Ver­hal­tens­mä­ßi­gen her gilt: Der Mensch ist ein Tier, die Ab­sicht ist es, die die spe­zi­fi­sche Dif­fe­renz aus­macht; vom Kul­tu­rell-So­zia­len her gilt: Der Mensch ist ein han­deln­des Wesen, Ver­hal­ten und Han­deln ste­hen sich ge­gen­über. Als han­deln­des Wesen ist der Mensch ein ani­mal ra­tio­na­le, aber eben ani­mal und ra­tio­nal, denn das spe­zi­fisch Mensch­li­che wur­zelt in einer be­son­de­ren Bio­struk­tur als einer ab­so­lu­ten phy­si­schen (und ge­ne­ti­schen) Vor­aus­set­zung. (vgl. SO S.446) Weder ist der Mensch ein Fak­to­tum der Trie­be, noch ab­so­lu­ter Herr­scher über diese mit­tels sei­ner ratio.

Die Syn­the­sis er­folgt auf so­zi­a­lon­to­lo­gi­scher Ebene ganz all­ge­mein. Jedes Han­deln und sogar jede ein­zel­ne Hand­lung stellt ein je­weils an­de­res Mi­schungs­ver­hält­nis von ani­mal und ratio dar.

Das so­zi­a­lon­to­lo­gi­sche Vor­ge­hen

Die So­zi­a­lon­to­lo­gie geht vom Ur­fak­tum einer be­reits kon­sti­tu­ier­ten Ge­sell­schaft aus, sie ope­riert vor dem Hin­ter­grund des Ge­sell­schaft­li­chen und ver­tritt me­tho­disch das Gebot der Rein­heit. Auf den ers­ten Ge­sichts­punkt be­zieht sich die Fest­stel­lung: alles, was so­zi­al be­deut­sam sein will, »muss sich so oder so in Ratio ver­wan­deln bzw. als Ratio im ele­men­ta­ren Sinne der hier ge­mein­ten Ge­stalt der Ra­tio­na­li­tät auf­tre­ten. (..) So ge­se­hen gibt es im so­zia­len Zu­sam­men­le­ben für ›ir­ra­tio­na­les‹ oder ›trieb­haf­tes‹ rei­nen Was­sers kaum Platz.« (m. Herv., SO S.576) Reine Aus­brü­che ›blin­der‹ Trie­be sind also eher bio­lo­gi­sche als so­zia­le Phä­no­me­ne. Der zwei­te Ge­sichts­punkt, der die me­tho­di­sche Um­set­zung des ers­ten ist, be­trifft das Gebot der mi­ni­ma­len Re­fle­xi­vi­tät aller so­zi­a­lon­to­lo­gisch be­schrie­be­nen Me­cha­nis­men.

Das me­tho­di­sche Vor­ge­hen, will die So­zi­a­lon­to­lo­gie ihrer Rede vom gan­zen Men­schen und zu­gleich ihrer Rein­heit ge­recht wer­den, muss das Psy­cho­lo­gi­sche ei­ner­seits in sich auf­neh­men und an­de­rer­seits be­griff­lich um­ar­bei­ten, rei­ni­gen, for­ma­li­sie­ren, es un­ab­hän­gig von den In­hal­ten ma­chen. Die­ser dop­pel­ge­rich­te­te Pro­zess der Auf­nah­me und der For­ma­li­sie­rung wird in den ver­schie­de­nen the­ma­ti­schen Be­rei­chen der So­zi­a­lon­to­lo­gie vor­ge­führt.

(a) Bei der Be­schrei­bung des in­ne­ren Me­cha­nis­mus (oder des Ver­ste­hens in der Spra­che der So­zi­al­wis­sen­schaft) fin­det der Vor­gang des Sich­hin­ein­ver­set­zens in die Lage des An­de­ren in den Be­grif­fen ›Per­spek­ti­ven­über­nah­me‹ und ›Per­spek­ti­ve der Per­spek­ti­ven­über­nah­me‹ ihren Nie­der­schlag – und zwar mit dem ers­ten als Aus­druck des In­ter­ak­tio­nel­len und dem zwei­ten als Aus­druck des Psy­cho­lo­gisch-Per­sön­li­chen (= Ein­fluss der Iden­ti­tät).

(b) Bei der Be­schrei­bung der Ra­tio­na­li­sie­rungs­me­cha­nis­men z.B. der psy­cho­lo­gi­schen Ra­tio­na­li­sie­rung durch ihre Auf­spal­tung in zwei psy­cho­lo­gi­sche Ra­tio­na­li­sie­rungs­for­men, als Le­gi­ti­mie­rung und als ele­men­ta­re re­fle­xi­ve Ver­ar­bei­tung des psy­chi­schen ›Roh­stof­fes‹.

»Of­fen­bar er­lan­gen die Re­gun­gen, die in der kaum er­forsch­ba­ren grau­en Zone zwi­schen Bio­lo­gi­schem und Psy­cho­lo­gi­schem statt­fin­den, erst durch jene Ver­ar­bei­tung pra­xeo­lo­gi­sche und sons­ti­ge Re­le­vanz.« (SO S.576). Die psy­cho­lo­gi­sche Ra­tio­na­li­sie­rung im Sinne der ele­men­ta­ren Ver­ar­bei­tung un­ter­zieht den rohen Stoff der exis­ten­ti­el­len Tie­fen­schich­ten einem ele­men­ta­ren Ver­ede­lungs­pro­zess (re­fle­xi­ve Ver­ar­bei­tung), auf den jeder Mensch erst dann als han­deln­des Sub­jekt zu­rück­grei­fen kann. Die­ser ele­men­ta­re Ver­ede­lungs- bzw. Ver­ar­bei­tungs­pro­zess stellt einen wich­ti­gen psy­cho­lo­gi­schen Ent­las­tungs­me­cha­nis­mus gegen den Druck der trieb­haf­ten Schich­ten dar, die als rein ›Ir­ra­tio­na­les‹ bzw. ›Trieb­haf­tes‹ kei­nen Platz in der Ge­sell­schaft fin­den kön­nen. (vgl. SO S.576) »Der psy­cho­lo­gi­sche Ra­tio­na­li­sie­rungs­vor­gang, der diese ele­men­ta­re Ra­tio­na­li­tät er­gibt, ver­schafft den an sich stum­men in­ne­ren Schich­ten der Exis­tenz Ven­ti­le und Ar­ti­ku­la­ti­on in einer Ge­sell­schaft, die dem völ­li­gen Man­gel an Ra­tio­na­li­sie­rung nur mit dem völ­li­gen Man­gel an so­zia­ler Auf­merk­sam­keit be­geg­nen kann.« (SO S.576)

Die re­fle­xi­ve Ver­ar­bei­tung ist prä­sent, auch wenn das re­fle­xi­ve Mo­ment auf die re­fle­xi­ve Kom­po­nen­te der Af­fek­te re­du­ziert wird. Trie­be und Af­fek­te als ›pri­mä­re Pro­zes­se‹ im Sinne Freuds sind Re­ser­voi­re von Hand­lungs­mo­ti­ven und er­lan­gen die­sen Sta­tus erst, nach­dem sie der ele­men­ta­ren psy­chi­schen Ra­tio­na­li­sie­rung un­ter­wor­fen wur­den.

Von den Hand­lungs­mo­ti­ven her ge­se­hen, er­ge­ben sich ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten, je nach­dem, ob sie sich den re­flek­tier­ten ›pri­mä­ren‹ Pro­zes­sen ent­ge­gen­stel­len oder nicht.

a) Stel­len sie sich ihnen ent­ge­gen, dann lässt der Re­fle­xi­ons­fil­ter der ratio sie nicht durch, sie wer­den ins Re­ser­voir der pri­mä­ren Pro­zes­se zu­rück­ge­schickt. (vgl. SO S.576)

b) Der Re­fle­xi­ons­fil­ter leis­tet den Trie­b­im­pul­sen kei­nen oder ge­rin­gen Wi­der­stand. Dann er­lan­gen sie nach Über­schrei­ten der Be­wusst­seins­schwel­le den Sta­tus des Hand­lungs­mo­tivs. Im Zu­stand töd­li­chen Has­ses wird z.B. zum Kü­chen­mes­ser ge­grif­fen und nicht zum Staub­we­del. Das Af­fek­tu­el­le selbst ge­hört hand­lungs­theo­re­tisch nicht zur Hand­lungs­ket­te, es wird, wie ge­sagt, zum Hand­lungs­mo­tiv erst nach Über­schrei­ten der Be­wusst­seins­schwel­le. Die Ver­let­zung des Ge­bo­tes der (auch mi­ni­mals­ten) Re­fle­xi­vi­tät würde die So­zio­lo­gie grund­le­gungs­lo­gisch in­kon­sis­tent ma­chen. Bis­her wurde die Do­mä­ne des Bio­lo­gisch-Psy­cho­lo­gi­schen nicht ver­las­sen, doch be­reits hier fin­den Ver­mi­schun­gen zwi­schen den bei­den Arten der psy­cho­lo­gi­schen Ra­tio­na­li­sie­rung statt. Der Weg aber kann auch an­ders herum gehen und der Grund dafür ist, dass der Mensch Ge­sell­schafts­we­sen ist. Der Ein­fluss des So­zia­len macht sich als Ra­tio­na­li­sie­rungs­druck be­merk­bar. Denn die­ser ver­wan­delt sich in einen Ob­jek­ti­vie­rungs­zwang, weil Fra­gen nach den Mo­ti­ven des Han­delns ge­stellt wer­den. – Ra­tio­na­li­sie­run­gen kön­nen ihre Nah­rung nicht nur aus den pri­mä­ren Pro­zes­sen be­zie­hen, sie kön­nen sich mit Hand­lungs­mo­ti­ven ver­bin­den, die sich auf hö­he­ren Re­fle­xi­ons­stu­fen und im Ge­gen­satz zum Drang der pri­mä­ren Pro­zes­se bil­den. Psy­cho­lo­gi­sche Ra­tio­na­li­sie­run­gen kön­nen also sehr viel­fäl­tig und viel­schich­tig sein. (vgl. SO S.577)

c) Für den Be­griff des Mo­tivs gilt Ana­lo­ges; das Motiv wird eben­falls ana­ly­tisch auf­ge­spal­ten, was sich als sinn­voll bei der Be­hand­lung des Ver­hält­nis­ses von Zweck und Motiv er­weist. Die An­triebs­funk­tio­nen ver­blei­ben beim Motiv im en­ge­ren Sinn, da­ge­gen geht die Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on auf den Zweck über. »Triebtheo­ri­en, die Trie­be wie Mo­ti­ve be­han­deln, kon­zen­trie­ren sich ein­deu­tig auf die An­triebs­funk­ti­on und ver­nach­läs­si­gen die so­zi­a­lon­to­lo­gisch ent­schei­den­de Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on, also eben jene Di­men­si­on, die den di­rek­ten Über­gang des Mo­tivs in den Zweck er­zwingt.« (m. Herv., SO S.462) Zweck ist der (teil­wei­se) von außen kom­men­de und sich nach außen ori­en­tie­ren­de Be­weg­grund; das Motiv im ei­gent­li­chen Sinn be­steht dann in den in­ne­ren Grün­den, die den Ak­teur dazu brin­gen, sich aus­ge­rech­net die­sen Zweck zu set­zen. Die Auf­spal­tung bzw. Ein­tei­lung der Mo­ti­ve in äu­ße­re und in­ne­re lässt sich auch als Un­ter­schied zwi­schen Weil-Mo­tiv und Um-Zu-Mo­tiv um­schrei­ben.

Der syn­the­ti­sche Geist der So­zi­a­lon­to­lo­gie er­weist seine me­tho­di­sche Frucht­bar­keit in einer Reihe von Teil­syn­the­sen in­ner­halb der ent­spre­chen­den Haupt­syn­the­sis. Im Rah­men der Ex­pli­ka­ti­on des so­zi­a­lon­to­lo­gi­schen Be­griffs der Iden­ti­tät und unter ihrer Obhut fin­det z.B. eine ›Teil­syn­the­se‹ vom sym­bo­lisch–ex­pres­si­ven und in­stru­men­tel­len As­pekt einer Hand­lung statt. Ohne ge­ord­ne­te Welt gibt es keine Iden­ti­tät. Die Ent­schei­dung schafft Ord­nung; dar­aus ent­steht zu­gleich der Platz des Sub­jekts der Ent­schei­dung in­ner­halb des welt­bild­li­chen Rah­mens; die Raum­ko­or­di­na­ten, bild­lich ge­spro­chen, die­ser durch die Ent­schei­dung ent­stan­de­nen Stel­le bil­den zu­gleich die Ant­wort der Iden­ti­tät auf die Sinn­fra­ge. Es ist so, dass dann, wenn es um die Be­schaf­fen­heit (um die in­halt­li­che Be­stim­mung der Ra­tio­na­li­tät) der Zwe­cke geht, sich die Iden­ti­tät (in Ge­stalt ihrer ge­ra­de herr­schen­den Logik) mel­det. Somit fin­den Sinn- und Iden­ti­täts­fra­ge – über die Fest­le­gung der (letz­ten) Hand­lungs­zwe­cke – Ein­gang in die Ra­tio­na­li­täts­pro­ble­ma­tik, d.h. sie über­neh­men die Be­stim­mung des­sen, was als Ra­tio­na­les oder Ir­ra­tio­na­les gel­ten soll. »Die ge­bie­te­ri­sche Logik der Iden­ti­tät kann (sie muss es nicht) so­wohl bei ›Ir­ra­tio­na­lis­ten‹ als auch bei ›Ra­tio­na­lis­ten‹ auf der Hand­lungs­ebe­ne ›Ir­ra­tio­na­li­tä­ten‹ in Form des Über­hand­neh­mens von sym­bo­lisch-ex­pres­si­ven ge­gen­über in­stru­men­tel­len Fak­to­ren bzw. ge­gen­über der Logik der Si­tua­ti­on her­vor­ru­fen.« (m. Herv. SO S. 586) Den ex­pres­si­ven Hand­lungs­kom­po­nen­ten kann man eher »die At­tri­bu­te des Spon­ta­nen, weit­ge­hend bi­o­psy­chisch De­ter­mi­nier­ten, Un­kon­trol­lier­ten oder Un­kon­trol­lier­ba­ren und des Selbst­zwe­ckes,« den in­stru­men­tel­len »eher die At­tri­bu­te des Zweck­mä­ßig-Ge­plan­ten, weit­ge­hend kul­tu­rell be­ding­ten, leich­ter Kon­trol­lier­ten oder Kon­trol­lier­ba­ren und des Mit­tels zu­schrei­ben.« (m. Herv. SO S.587) Wenn hier der Be­griff des Zwe­ckes pro­vi­so­risch und als Ver­ständ­nis­hil­fe durch den Be­griff des In­ter­es­ses er­setzt wird, um den An­teil des In­stru­men­tel­len zu un­ter­strei­chen, dann sind die fol­gen­den Phä­no­me­ne, die auf die Über­macht der Iden­ti­tät ver­wei­sen, leich­ter ver­ständ­lich.

Die­sel­be Miss­ach­tung des In­ter­es­ses wie z.B. bei Rache oder wegen Ehr­ver­let­zung kann eben­so gut zu al­tru­is­ti­schen Hand­lun­gen und per­sön­li­chen Op­fern mo­ti­vie­ren. Auch hier ver­bin­det die Iden­ti­tät ihre Selbst­be­stä­ti­gung mit dem Ver­zicht auf Wah­rung des ei­ge­nen In­ter­es­ses: wenn je­mand aus Re­spekt vor sich selbst nicht an­ders han­deln kann, etwa ein ent­beh­rungs­rei­ches Leben im Diens­te der Armen führt oder aus ei­ge­nem Ent­schluss sich für etwas op­fert. (vgl. SO S.587) Die Her­vor­he­bun­gen der Be­grif­fe Selbst­zweck oder In­ter­es­se sol­len auf den Ein­fluss der Iden­ti­tät zur Be­stim­mung des­sen, was je­weils als Zweck, Wert oder In­ter­es­se zu gel­ten hat, auf­merk­sam ma­chen.

Auf den Ein­fluss der Iden­ti­tät auf sol­che Phä­no­me­ne wird, außer im Rah­men ihrer abs­trakt-all­ge­mei­nen Be­hand­lung, kon­kret am Bei­spiel von M. We­bers In­kon­sis­ten­zen bei der De­fi­ni­ti­on die­ser Be­grif­fe ein­ge­gan­gen, die dar­auf zu­rück­zu­füh­ren sind, dass er die Be­grif­fe der Zweck- bzw. Wer­tra­tio­na­li­tät auf der Grund­la­ge einer Hand­lungs­ty­po­lo­gie zu ent­wi­ckeln ver­sucht, die, auf­grund der Wir­kung kul­tur­kri­ti­scher Mo­ti­ve (z.B. ide­al­ty­pi­sche Ge­gen­über­stel­lung von Pro­phet (Wert-) und Ka­pi­ta­list (Zweck­ra­tio­na­li­tät bzw. ka­pi­ta­lis­tisch ver­stan­de­nes In­ter­es­se), dar­un­ter lei­det, dass sie mit­hil­fe von he­te­ro­ge­nen Kri­te­ri­en er­stellt wird, die ei­ner­seits dem His­to­risch-So­zia­len und an­de­rer­seits dem On­to­lo­gi­schen ent­sprin­gen. Zu die­sem letz­te­ren ge­hö­ren die Be­grif­fe zweck- und wer­tra­tio­na­les Han­deln. Durch die Ho­mo­ge­ni­sie­rung der We­ber­schen Hand­lungs­ty­po­lo­gie auf der Grund­la­ge eines ein­zi­gen Ein­tei­lungs­kri­te­ri­ums ge­lingt Kon­dy­lis die Ver­wi­schung der Gren­ze (also ›Auf­he­bung‹ durch Syn­the­se) zwi­schen Wert- oder Zweck­ra­tio­na­li­tät und ihre Sub­su­mie­rung unter einem hö­he­ren und for­ma­len Ra­tio­na­li­täts­be­griff, so dass er der Di­cho­to­mie Vor­mo­der­ne-Mo­der­ne (his­to­risch-so­zia­len Be­grif­fen) ent­kom­men kann. Deren Auf­he­bung erst macht einen un­be­fan­ge­nen Blick auf die Ge­schich­te der Mensch­heit mög­lich. Er ist kei­nes­wegs ge­zwun­gen, das So­zia­le unter Zu­grun­de­le­gung von Be­grif­fen zu be­schrei­ben, die dem Funk­ti­ons­mo­dus einer be­stimm­ten Ge­sell­schafts­for­ma­ti­on ent­spre­chen, im Hin­blick z.B. auf die mas­sen­de­mo­kra­ti­sche So­zi­al­theo­rie dem in­di­vi­dua­lis­ti­schen Aus­gangs­punkt (so­zio­lo­gisch, so­zi­al: Ato­mi­sie­rung) oder Evo­lu­ti­on, Kom­ple­xi­tät oder Dif­fe­ren­zie­rung als Be­grif­fe, die an die ge­schichts­phi­lo­so­phi­sche Auf­fas­sung von Ge­schich­te als eines stu­fen­wei­sen Ent­wick­lungs­pro­zes­ses von ›nie­de­ren‹ zu ›hö­he­ren‹ For­men der Ge­sell­schaft er­in­nern, wäh­rend die Sehn­sucht der Be­für­wor­ter der ›Ge­mein­schaft‹ und ver­schie­de­ner Kom­mu­ni­ta­ris­men auf der Basis genau der glei­chen Di­cho­to­mie die­sen Pro­zess mit ne­ga­ti­vem Vor­zei­chen ver­sieht, um ihre Über­zeu­gung zu be­stä­ti­gen, dass die Ge­schich­te vom Schlech­ten zum noch Schlech­te­ren un­auf­halt­sam fort­schrei­tet. Wie­der könn­te man auch hier die Not­wen­dig­keit einer Ein­füh­rung der So­zi­a­lon­to­lo­gie sehen.

Nach M. Weber kön­nen nur be­stimm­te Zwe­cke, nicht alle, Zwe­cke im Sinne der Zweck­ra­tio­na­li­tät sein; es kann kei­nen ethi­schen Zweck geben. Den­noch kann die Rea­li­sie­rung eines Wer­tes (hier der Hei­lig­keit) eben­so gut Hand­lungs­zweck sein, wie die Rea­li­sie­rung ir­gend­ei­nes Zwe­ckes. Denn jede Hand­lung ist de­fi­ni­ti­ons­ge­mäß ra­tio­nal, alle Men­schen ver­fol­gen be­stimm­te Zwe­cke, die sie durch den Ein­satz von zweck­dien­li­chen Mit­teln zu er­rei­chen su­chen. Das glei­che gilt für den Wert­be­griff, denn ›Wert‹ im Sinne der We­ber­schen ›Wer­tra­tio­na­li­tät‹ ver­weist nur auf ide­el­le, d.h. ethi­sche oder re­li­giö­se Werte. Was ist aber im Falle von Zie­len, die eben des­halb an­ge­strebt wer­den, weil man ihnen einen psy­cho­lo­gi­schen, ma­te­ri­el­len Wert zu­schreibt? Hand­lungs­mo­ti­ve, kom­men­tiert Kon­dy­lis, wer­den durch Werte, Wer­tun­gen bzw. Be­wer­tun­gen ge­bil­det.

Es ist prak­tisch un­mög­lich nicht zweck­be­zo­gen zu han­deln. Nur ein Be­ob­ach­ter könn­te die Hand­lung von außen und nur vor dem Hin­ter­grund einer be­reits vor­han­den (in­halt­li­chen) Wer­te­ta­fel als ra­tio­nal oder ir­ra­tio­nal ein­stu­fen. Das Kri­te­ri­um der Er­reich­bar­keit der Zwe­cke nach Aris­to­te­les oder Pare­to z.B. führt auf die Frage, wer dar­über ent­schei­det.

Der Mensch als Summe in­ter­ak­ti­ver oder in­ter­sub­jek­ti­ver Funk­tio­nen

Die rest­lo­se Auf­lö­sung der Sub­stanz bil­det das zen­tra­le Er­eig­nis der geis­tes- und phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­chen Wen­dung vom syn­the­tisch-har­mo­ni­sie­ren­den (bür­ger­li­chen) Den­ken zum ana­ly­tisch-kom­bi­na­to­ri­schen (mas­sen­de­mo­kra­ti­schen oder mo­der­nen und post­mo­der­nen). Die­ser to­ta­len Auf­lö­sung stand (theo­re­tisch) wenig im Wege, nach­dem die ma­the­ma­ti­sche Na­tur­wis­sen­schaft den Be­griff der Funk­ti­on aus­ge­ar­bei­tet und durch die funk­tio­na­le Auf­fas­sung vom Na­tur­ge­setz die scho­las­tisch-aris­to­te­li­sche Hier­ar­chie der Sub­stan­zen selbst zer­trüm­mert hatte. Die Auf­lö­sung der mensch­li­chen Sub­stanz war die not­wen­di­ge Folge der Auf­lö­sung aller an­de­ren Sub­stan­zen. Nach­dem die äu­ße­re Natur funk­tio­na­li­siert bzw. ato­mi­siert (in Ein­drü­cke und Sin­nes­emp­fin­dun­gen auf­ge­löst wurde), wurde auch der Mensch in ähn­li­cher Weise auf­ge­löst, bis er nicht mehr als sub­stan­ti­el­le Ein­heit er­kenn­bar war. Er er­scheint nun­mehr als blo­ßes Bün­del von Sin­nes­emp­fin­dun­gen, As­so­zia­tio­nen, ohne fes­ten sub­stan­ti­el­len Kern und ohne blei­ben­de durch ver­nünf­tig-in­tel­lek­tu­el­le Kräf­te ge­lenk­te Iden­ti­tät. (vgl. Der Nie­der­gang der bür­ger­li­chen Denk- und Le­bens­form S.134ff, 267ff) Die funk­tio­na­lis­ti­sche Sys­tem­theo­rie möch­te uns durch rest­lo­se Auf­lö­sung der Sub­jek­te in die Funk­tio­nen in­ter­sub­jek­ti­ver In­ter­ak­ti­on, vom Di­lem­ma zwi­schen dem Pri­mat des In­di­vi­du­ums und dem der Kul­tur wäh­len zu müs­sen, be­frei­en. (vgl. SO S.63) Gegen das sub­stan­tia­lis­ti­sche Wesen der Hand­lungs­sub­jek­te bie­tet sie die These auf, diese Sub­jek­te gin­gen nicht dem Sys­tem vor­aus, son­dern bil­de­ten sich erst in ihm her­aus. Das aber scheint selbst­ver­ständ­lich, denn »nie­mand hat je die Theo­rie auf­ge­stellt, dass die Men­schen erst in der Iso­lie­rung als In­di­vi­du­en her­aus­ge­bil­det wer­den und dann an der so­zia­len In­ter­ak­ti­on teil­neh­men. Schon der an­ti­ke Topos vom Men­schen als so­zia­lem Wesen im­pli­zier­te die an­thro­po­lo­gisch kon­sti­tu­ti­ve Be­deu­tung der In­ter­sub­jek­ti­vi­tät und der In­ter­ak­ti­on,« (SO S.64) der Topos ver­stand aber unter In­ter­ak­ti­on und In­ter­sub­jek­ti­vi­tät nicht die to­ta­le Auf­lö­sung bzw. Re­duk­ti­on des Men­schen in eine Summe in­ter­ak­tio­nell be­ding­ter Funk­tio­nen.

Die Gren­zen der Funk­tio­na­li­sie­rung der ›Sub­stanz‹ Mensch

»Man stößt un­wei­ger­lich auf die bio­lo­gi­sche Be­schaf­fen­heit des Men­schen und eine Viel­falt damit zu­sam­men­hän­gen­der psy­chi­scher und sons­ti­ger Fak­to­ren, die sich zwar durch In­ter­ak­ti­on ent­fal­ten müs­sen, aber kei­nes­wegs Funk­tio­nen von In­ter­ak­tio­nen sind. Das jen­seits der In­ter­ak­ti­on lie­gen­de kann zwar sel­ber ›sub­stan­zia­lis­tisch‹ oder›funk­tio­na­lis­tisch‹ ge­deu­tet wer­den, es hört des­halb nicht auf, die Gren­zen des Funk­tio­na­len als In­ter­ak­ti­vem an­zu­zei­gen.« (SO S.64) Die Aus­schal­tung des Sub­jekts, des schlech­ten »sub­jekt­zen­trier­ten Fun­da­men­ta­lis­mus« (Flü­gel-Martin­sen), also die ra­di­ka­le Ab­leh­nung der Sub­jekt­phi­lo­so­phie be­dingt Ge­mein­sam­kei­ten zwi­schen an­sons­ten theo­re­ti­schen Ri­va­len, wel­che dar­auf zu­rück­zu­füh­ren sind, dass sie zum glei­chen mas­sen­de­mo­kra­ti­schen Pa­ra­dig­ma bzw. Denk­stil ge­hö­ren. Die Sys­tem­theo­rie si­chert die Ra­tio­na­li­tät des Sys­tems, indem sie den un­be­re­chen­ba­ren Men­schen in die ›Um­welt des Sys­tems‹ ver­drängt; die nor­ma­ti­ve Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie ver­drängt ihn in die Um­welt der Kom­mu­ni­ka­ti­on, »wäh­rend am Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­tem nur jener Teil oder As­pekt des Men­schen teil­nimmt, der den men­ta­len und vor allem den ethisch-nor­ma­ti­ven For­de­run­gen der Kom­mu­ni­ka­ti­on am ehes­ten ge­nü­gen dürf­te. Beide Auf­fas­sun­gen neh­men also eine Zwei­tei­lung des kon­kre­ten Men­schen vor, um jenen Teil theo­re­tisch zu pri­vi­le­gie­ren, der die Ein­ord­nung in ein glatt funk­tio­nie­ren­des so­zia­les Ganze er­mög­licht.« (SO S.65)

Im Ge­gen­satz zur Sys­tem­theo­rie hat frei­lich die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie ethi­sche Sor­gen, die­ser Un­ter­schied je­doch hebt sich selbst auf. Die ›uni­ver­sel­le Ver­nunft‹ ist von allen Zu­fäl­lig­kei­ten und Un­wäg­bar­kei­ten ent­las­tet (Kants, Hus­serls tran­szen­den­ta­les Sub­jekt), sie er­gibt sich aus der Struk­tur ›wah­rer‹ Kom­mu­ni­ka­ti­on. (Kan­ti­sche Re­mi­nis­zen­zen ohne Sub­jekt­phi­lo­so­phie!) Die ›Sys­tem­ra­tio­na­li­tät‹ löst die ethisch-nor­ma­ti­ve Di­men­si­on der ›Per­so­nal­sys­te­me‹ in Funk­tio­nen auf. Da sie keine ethi­schen Sor­gen hat, redet sie offen vom In­stru­men­tel­len, wobei das In­halt­li­che auf der gan­zen Linie vom For­mal-Ver­fah­rens­mä­ßi­gen er­setzt wird. (vgl. SO S.26) Die ›Sys­tem­ra­tio­na­li­tät‹ ist also eine Art He­gel­scher ›List der Ge­schich­te‹.

Nun be­deu­tet die Ab­leh­nung des tra­di­tio­nel­len on­to­lo­gi­schen oder an­thro­po­lo­gi­schen Sub­stan­tia­lis­mus gleich­zei­tig die Wei­ge­rung, die ethisch-nor­ma­ti­ven In­hal­te aus als Sub­stan­zen ver­stan­de­nen Grö­ßen zu ge­win­nen; dann blei­ben nur noch Ver­fah­ren übrig. Bei aller Be­schwö­rung der Ver­nunft las­sen sich keine An­ga­ben über kon­kre­te In­hal­te des je­weils durch Dis­kurs zu er­rei­chen­den Kon­sen­ses ma­chen. Wahr­heit ist bloß Funk­ti­on oder Er­geb­nis des auf­grund der Ein­hal­tung von be­stimm­ten Ver­fah­rens­re­geln sich ein­stel­len­den Kon­sen­ses, Le­gi­ti­ma­ti­on er­folgt durch Ver­fah­ren. »Ech­ter Kon­sens wird da er­zielt, wo die Re­geln ech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on an­ge­wandt wer­den, aber zwi­schen so ver­stan­de­nem ech­tem Kon­sens und wah­ren In­hal­ten kann keine lo­gisch zwin­gen­de Be­zie­hung her­ge­stellt wer­den.« (SO S.27)

So­zio­lo­gisch fin­det das seine Er­klä­rung darin, dass nur in­ner­halb eines be­reits voll­stän­dig ato­mi­sier­ten Gan­zen und eines sol­chen ent­sub­stan­zia­li­sier­ten Gan­zen Funk­tio­nen zur Er­schaf­fung von kom­ple­xen Sys­te­men und von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­netz­wer­ken eine con­di­tio sine qua non sind. (Da die letz­ten Be­stand­tei­le bzw. Atome un­ter­ein­an­der gleich sind, sind auch keine sub­stan­zi­el­len Un­ter­schie­de mög­lich.) Dies ist der Sinn der Wen­dung der so­zi­al­theo­re­ti­schen Be­trach­tung vom bür­ger­li­chen Sub­stan­tia­lis­mus zum kon­se­quen­ten mas­sen­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­na­lis­mus.

Die ethi­sche Ab­sicht ge­winnt hier Vor­rang ge­gen­über dem Me­tho­di­schen. Auf­fäl­lig ist die Ähn­lich­keit fun­da­men­ta­ler Be­grif­fe von geis­tes­ge­schicht­li­chen Rich­tun­gen wie der Kan­ti­schen, der Hus­serl­schen und der nor­ma­ti­ven Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie. »Die tran­szen­den­ta­le Aus­rich­tung ist schlie­ß­lich ma­ß­geb­li­cher als das for­mel­le Aus­ge­hen von der Sub­jek­ti­vi­tät oder der In­ter­sub­jek­ti­vi­tät, wenn oh­ne­hin har­mo­ni­sie­rend-kom­mu­ni­ka­ti­ve Ziele vor­schwe­ben, zu deren Rea­li­sie­rung ver­nunft­be­gab­te Men­schen auf­ge­ru­fen wur­den.« Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie »muss sich glei­cher­ma­ßen der tran­szen­den­ta­len Epo­che zu­min­dest in der Form be­die­nen, dass sie von den ir­re­du­zier­ba­ren (in­di­vi­du­el­len, ak­zi­den­ti­el­len etc.) Dif­fe­ren­zen der Sub­jek­te von­ein­an­der a li­mi­ne ab­sieht, um der allen ge­mein­sa­men und bei allen glei­chen kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­nunft den Boden zu be­rei­ten.« (SO S.409) Die Dif­fe­ren­zen im Me­tho­di­schen wer­den vom Vor­rang der ethi­schen Ab­sicht über­schat­tet: Kants, Hus­serls und Ha­ber­mas’ Sub­jekt ist ein ge­mein­sa­mes tran­szen­den­tal ge­rei­nig­tes Ego, ohne Rea­li­täts­ge­halt, d. h. kein em­pi­ri­sches Ego. »Die tran­szen­den­ta­len Brü­cken zwi­schen Sub­jekt­phi­lo­so­phie und Theo­ri­en über Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaf­ten ver­nünf­ti­ger Sub­jek­te sind üb­ri­gens sehr alt: Die klas­si­sche Sub­jekt­phi­lo­so­phie hat die ei­ge­nen Sä­ku­la­ri­sie­run­gen des ›re­li­giö­sen Mo­tivs der Bun­des­ge­nos­sen­schaft‹ pro­du­ziert, z.B. durch den jun­gen Hegel in der Phase sei­nes ra­di­ka­len Kan­tia­nis­mus und im An­schluss an weg­wei­sen­de Auf­fas­sun­gen Fich­tes.« (SO S.410)

Die Ver­flech­tung von Sein und Sol­len oder
die On­to­lo­gi­sie­rung ge­nu­in an­thro­po­lo­gi­scher At­tri­bu­te, die ver­hüll­te An­thro­po­lo­gie

Sys­tem- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie ver­zich­ten auf die kon­kre­te An­ga­be an­thro­po­lo­gi­scher In­hal­te, und wo sol­che zum Ein­satz kom­men, wer­den sie einem abs­trak­ten Bild vom Men­schen ent­nom­men. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie redet aber dar­über hin­aus von Selbst­ver­wirk­li­chung. Mit der An­mel­dung von Selbst­ver­wirk­li­chungs­an­sprü­chen fällt das letz­te Fei­gen­blatt der ver­meint­li­chen an­thro­po­lo­gi­schen Neu­tra­li­tät, denn Selbst­ver­wirk­li­chung ist ein so­zi­al­ethi­sches Ideal. Doch es ist die Frage, wel­ches Wesen – ob ein gutes oder böses – hier zur Ver­wirk­li­chung kom­men soll. Der aus­drück­li­che Ver­zicht auf an­thro­po­lo­gi­sche Fra­ge­stel­lun­gen dient der Ver­schleie­rung der ei­ge­nen An­schau­ung über das echte Wesen der am Dis­kurs Be­tei­lig­ten. »Die Ba­na­li­tät der an­thro­po­lo­gi­schen An­nah­men, auf denen die Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns still­schwei­gend be­ruht, lässt sich üb­ri­gens schlecht hin­ter dem be­haup­te­ten Pri­mat der Sprach­struk­tu­ren und -akte ver­ber­gen. Diese wer­den ja nach spe­zi­fisch mensch­li­chen Ver­hal­tens­wei­sen (stra­te­gi­sches etc. Han­deln) un­ter­teilt und sogar aus­drück­lich mit guten oder schlech­ten Ab­sich­ten auf­ge­la­den. Dies ist z.B. der Fall, wenn unter den Merk­ma­len, die die Sprech­ak­te des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns aus­zeich­nen sol­len, die Wahr­haf­tig­keit ge­nannt wird. Wahr­haf­tig­keit ist aber die be­wuss­te mo­ra­li­sche Ei­gen­schaft eines Sub­jekts, ein Sprech­akt, der sich als Satz for­miert hat und nun un­ab­hän­gig vom Sub­jekt exis­tiert, ist weder wahr­haf­tig noch un­wahr­haf­tig, son­dern ein­fach wahr oder falsch.« ( m. Herv., SO S.66) Wahr und falsch, gut und böse sind mo­ra­li­sche Ei­gen­schaf­ten eines Sub­jekts. Folg­lich wird hier eine Ver­flech­tung von Sein und Sol­len vor­ge­nom­men. »Aus dem At­tri­but der Per­fek­ti­on muss die Rea­li­tät bzw. Rea­li­sier­bar­keit als von der Per­fek­ti­on un­trenn­ba­re Ei­gen­schaft ab­ge­lei­tet wer­den.« (SO S.418) Das echte und wahre Sein ist der Ori­gi­nal­mo­dus der Kom­mu­ni­ka­ti­on, der sich aus dem Ori­gi­nal­mo­dus der Spra­che er­gibt; hier liegt eine On­to­lo­gi­sie­rung an­thro­po­lo­gi­scher At­tri­bu­te vor: Was oder wer steht also hin­ter der Spra­che? »Auf der Folie der (..) Ver­flech­tung von Sein und Sol­len geht dann eine Ver­wech­se­lung der Ebene des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns mit der Ebene der kom­mu­ni­ka­ti­ven Hand­lungs­theo­rie von­stat­ten. Da die Theo­rie kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln tref­fend schil­dert und da sol­ches Han­deln ethisch-nor­ma­ti­ve An­sprü­che ent­hält, so will die Theo­rie aus dem ethisch-nor­ma­ti­ven Wesen des­sen, wovon sie spricht [frü­her: Gott, jetzt: echte Kom­mu­ni­ka­ti­on], ein ei­ge­nes Recht ab­lei­ten, ethisch-nor­ma­ti­ve An­wei­sun­gen zu for­mu­lie­ren. Aber die Ebene der Schil­de­rung und jene der Rea­li­tät, in der sich sol­che An­wei­sun­gen zu be­wäh­ren haben, sind of­fen­bar zwei­er­lei. Wir keh­ren somit auf einem neuen Umweg zu den alten Apo­ri­en des on­to­lo­gi­schen Got­tes­be­wei­ses zu­rück.« (m. Herv., SO S.418)

Es stellt sich die Frage nach den Vor­be­din­gun­gen, auf die der Ver­lauf des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns an­ge­wie­sen ist. Denn diese Frage taucht auf, wenn man zwi­schen Me­ta­kom­mu­ni­ka­ti­vem und Kom­mu­ni­ka­ti­vem un­ter­schei­det. Die ein­zi­ge Be­stim­mungs­in­stanz der An­nah­me der (me­ta­kom­mu­ni­ka­ti­ven) Vor­be­din­gun­gen kann nur das Sub­jekt bzw. die Ent­schei­dung des Ak­teurs sein, die näm­lich, dass er sich kom­mu­ni­ka­tiv ver­hal­ten will und zwar kom­mu­ni­ka­tiv im ethisch-nor­ma­ti­ven Sinn. Damit ist er an Nor­men ge­bun­den, »keine Norm schreibt aber vor, dass man über­haupt kom­mu­ni­ka­tiv han­deln soll. Die Auf­stel­lung von Nor­men, die der­lei ge­bie­ten, läuft auf die Kon­struk­ti­on einer Ethik hin­aus, und der Ap­pell die Nor­men die­ser Ethik zu ach­ten, muss sich an die Ein­sicht und das Ge­wis­sen des Ein­zel­nen rich­ten, um die­sen zur Ent­schei­dung zu be­we­gen, kom­mu­ni­ka­tiv und nicht stra­te­gisch zu han­deln.(..) Lässt sich der Fak­tor ›Ent­schei­dung‹ und ›mo­ra­li­sches Be­wusst­sein‹ nicht um­ge­hen, so er­weist sich die an­geb­li­che Über­win­dung der Sub­jekt­phi­lo­so­phie als Fik­ti­on.« (SO S.419)

Es war der Neo­po­si­ti­vis­mus, der sich mit der ›lin­gu­is­ti­schen Wende‹ be­müht hat, den Ein­fluss der Spra­che und die Un­wäg­bar­kei­ten des ›sub­jek­ti­ven‹ Fak­tors durch die Schaf­fung eines kom­mu­ni­ka­tiv ver­bind­li­chen sprach­li­chen Or­gans aus­zu­räu­men. »Es mag pa­ra­dox klin­gen und den­noch ist es wahr: Wenn die Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns der Be­wusstseins­phi­lo­so­phie und der An­thro­po­lo­gie aus­weicht, um die Ver­bind­lich­keit des Ethisch-Nor­ma­ti­ven mit der Ver­bind­lich­keit sprach­lich/kom­mu­ni­ka­ti­ver Re­geln zu­sam­men­zu­füh­ren und zu den­ken, dann ver­sucht sie auf dem Ge­biet der So­zi­al­theo­rie das­sel­be, was der Neo­po­si­ti­vis­mus auf dem Ge­biet der Er­kennt­nis­theo­rie und der Epis­te­mo­lo­gie ver­geb­lich un­ter­nom­men hat, näm­lich Hand­lun­gen aus dem rich­ti­gen Sprach­ge­brauch her­zu­lei­ten.« (SO S.28)

Mit Blick auf die Geis­tes­ge­schich­te lässt sich daran er­in­nern und zu­sam­men­fas­send fest­stel­len, dass der Theo­zen­tris­mus nicht die per­sön­li­che Herr­schaft Got­tes be­deu­tet, son­dern dass Men­schen wal­ten, die ihre Taten unter Be­ru­fung auf Gott le­gi­ti­mie­ren. Ent­spre­chend be­deu­tet der An­thro­po­zen­tris­mus, dass be­stimm­te Men­schen unter Be­ru­fung auf den Men­schen jene ver­drän­gen, die bis dahin Gott in An­spruch nah­men. Und der Un­ter­gang des An­thro­po­zen­tris­mus be­sagt nicht, dass es keine Men­schen (im bis­he­ri­gen Sinne) mehr gibt, son­dern dass Men­schen, die die ge­schicht­li­che Bühne be­tre­ten haben, die An­hän­ger des An­thro­po­zen­tris­mus bzw. die­je­ni­gen Men­schen be­siegt haben, die ihre Herr­schaft unter Be­ru­fung auf dem nach ihren ideo­lo­gisch-le­gi­ti­ma­to­ri­schen Be­dürf­nis­sen zu­recht­ge­mach­ten Bild vom Men­schen grün­de­ten (die ›Idee des Men­schen‹).

Die on­to­lo­gi­sche Frage, was gibt es wirk­lich?, wird durch die So­zi­a­lon­to­lo­gie klar be­ant­wor­tet: Auf der ge­schicht­li­chen Bühne stan­den immer nur Men­schen und nichts an­de­res. Das ist die nicht mehr hin­ter­frag­ba­re Grund­hy­po­the­se, die axio­ma­ti­sche Grund­la­ge, die theo­re­ti­sche Grund­ent­schei­dung bzw. der Macht­an­spruch des Wis­sen­schaft­lers Kon­dy­lis. Diese Grund­la­ge bil­det den Aus­gangs­punkt der Un­ter­su­chun­gen, die zu be­stimm­ten Re­sul­ta­ten ge­lan­gen. Die Kri­tik da­ge­gen, will sie wis­sen­schaft­lich sein, müss­te ent­we­der diese axio­ma­ti­sche Grund­la­ge um­sto­ßen, einen an­de­ren Aus­gangs­punkt als die Kon­stan­te ›Selbst­er­hal­tung‹ neh­men, (ohne ir­gend­ei­ner Art von Pla­to­nis­mus zum Opfer zu fal­len) oder durch die kon­kre­te Ana­ly­se eines geis­tes­ge­schicht­li­chen Denk­bil­des, das auf an­de­re Art und Weise ent­stan­den ist und sich ent­fal­te­te oder an­de­re Funk­tio­nen er­füll­te, als die durch den de­skrip­ti­ven De­zi­sio­nis­mus be­schrie­be­nen. Die wei­te­re Mög­lich­keit be­steht im Nach­weis lo­gi­scher Wi­der­sprü­che, von Lü­cken, in­kon­sis­tent de­fi­nier­ter Be­grif­fe etc.

Die Be­zeich­nung ›falsch‹ (vgl. ers­tes Zitat zu Flü­gel-Martin­sen) be­trifft im Sprach­ge­brauch von Kon­dy­lis die Kenn­zeich­nung von lo­gi­schen Feh­lern, er sieht seine Po­si­ti­on, wie er­wähnt, als eine his­to­risch be­ding­te an und be­haup­tet nicht – wie Flü­gel-Martin­sen un­ter­stellt – im Be­sitz der ›wah­ren‹ Ob­jek­ti­vi­täts­er­kennt­nis zu sein. Sein Ziel ist der Ent­wurf einer in sich wi­der­spruchs­frei­en Theo­rie, die ihre Stär­ke in der Er­klä­rungs­kraft der Phä­no­me­ne be­wei­sen soll. Der An­spruch nach einer in sich schlüs­si­gen Theo­rie schlie­ßt aus, dass die Denk­mo­del­le an­de­rer Theo­re­ti­ker mit Leim und Sche­re ein­ge­fügt wer­den – was F.-M. kühn kon­sta­tiert: »Im Grun­de lässt sich der in Macht und Ent­schei­dung dar­ge­leg­te Theo­rie­r­ah­men als eine Kom­bi­na­ti­on be­stimm­ter Denk­li­ni­en Nietz­sches und Schmitts ver­ste­hen.« (AD S.371)

Nietz­sches Frage nach der Mög­lich­keit der Über­win­dung von Me­ta­phy­sik und seine For­de­rung nach Ein­sicht in die Fik­ti­vi­tät und Kon­ven­tio­na­li­tät der be­griff­li­chen Schöp­fun­gen hebt Kon­dy­lis her­aus. Doch zu die­ser schät­zens­wer­ten Skep­sis, die er mit ihm teilt, gerät die­ser für Kon­dy­lis in Wi­der­spruch, wenn Nietz­sche er­klärt, dass »jeder skep­ti­sche Hang eine große Ge­fahr für das Leben« be­deu­te und wenn er ent­ge­gen sei­nem Skep­ti­zis­mus aus rein po­le­mi­schen Grün­den zur tra­di­tio­nel­len Me­ta­phy­sik ein Ge­gen­ide­al ent­wirft. (vgl. nM 542f)

Das Freund-Feind-Phä­no­men wird bei Kon­dy­lis in einem an­de­ren Rah­men als bei Schmitt ge­se­hen. »Der lo­gi­sche Feh­ler C. Schmitts, der das Po­li­ti­sche – al­ler­dings in Un­kennt­nis sei­ner so­zi­a­lon­to­lo­gi­schen Di­men­si­on – an Hand des ›Freund-Feind‹-Kri­te­ri­ums hat de­fi­nie­ren wol­len, be­stand in der Ver­wech­se­lung der so­zia­len Be­zie­hung über­haupt mit dem Po­li­ti­schen. Ge­wiss, das Po­li­ti­sche ist so­zia­le Be­zie­hung und als sol­che um­spannt es das ganze Spek­trum der so­zia­len Be­zie­hung über­haupt, ein­schlie­ß­lich sei­ner bei­den äu­ßers­ten Gren­zen, nicht alle so­zia­le Be­zie­hun­gen sind aber po­li­tisch, ob­wohl sie das­sel­be Spek­trum auf­wei­sen wie die po­li­ti­schen auch; die spe­zi­fi­sche Dif­fe­renz der um­fang­rei­che­ren Gat­tung fällt nicht mit jener der we­ni­ger um­fang­rei­chen zu­sam­men, ergo ist die spe­zi­fi­sche Dif­fe­renz des Po­li­ti­schen nicht in der Mar­kie­rung des po­li­ti­schen Spek­trums durch die Ex­tre­me der Freund­schaft und der Feind­schaft zu su­chen. Mit an­de­ren Wor­ten: Das Pferd ist in der Tat ein vier­bei­ni­ges Wesen, de­fi­niert man es aber auf der Basis die­ser rea­len Ei­gen­schaft, so ver­wischt man sei­nen Un­ter­schied mit einem Hund.« (SO S.209, Anm.242)