Das vom Sujet her schwierige Vorhaben, eine bedrückende Vergangenheit, die mit dem Signum ›Zivilisationsbruch‹ belegt ist, in historischer Konkretion zu vergegenwärtigen, unterliegt gemeinhin der Tendenz zu historisch-moralischer Belehrung. Fragwürdig erscheinen diesbezüglich Filmwerke aus amerikanischer Produktion, insofern sie über das fassungslose Entsetzen hinaus kaum geeignet sind, unter jüngeren Zeitgenossen Nachdenklichkeit und Sensibilität für menschliches Handeln in extremis, unter grauenvollen Umständen, zu schärfen. Genannt sei etwa der Film »Schindlers Liste« – ein makabres Heldenlied, selbst wenn der Held nicht ohne charakterliche Schwächen gezeichnet wird.
Was für mediale Erzeugnisse kennzeichnend ist, gilt leider auch für die Geschichtsschreibung, die als Geschichtswissenschaft ein Höchstmaß an Objektivität beansprucht, andererseits ohne Werturteile nicht zu denken ist. Nicht von ungefähr herrscht hinsichtlich der NS-Ära ein reduktionistisches Schema: Schwarz / Weiß, dazwischen eine große Fläche Grau. Das dominante Schwarz steht, für die hohe Zahl der Regimeträger und Täter, Weiß für die – je nach Perspektive – geringe oder höhere Zahl von Widerstandskämpfern mitsamt der numerisch schwer zu fixierenden unbefleckten Widerständigen. Das aus Gerhard Richters Gemälden bekannte bedrückende Grau steht sodann symbolhaft für die große Masse der Mitläufer und Angepassten, zugespitzt in der perfiden Formel der ›willigen Vollstrecker‹. Unverkennbar ist die Tendenz, selbst bei Biographien von Widerständlern blinde Flecken aufzuspüren, so bei Carl Goerdeler, dem von einigen Historikern ›dissimilatorischer Antisemitismus‹ unterstellt wurde.
Das Gesamtbild verschiebt sich immer weiter in die düstere Grauzone der Kollaboration und der Teilhabe am Verbrechen, etwa in den Arbeiten von Götz Aly, der großen Teilen der deutschen Bevölkerung die direkte oder auch nur indirekte Vorteilnahme bei der Judenverfolgung und -vernichtung nachzuweisen bestrebt ist. Ähnlich wurde jüngst durch die Biographie der jungen Historikerin Teresa Nentwig der niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Kopf (1883-1961) post mortem zum Komplizen der NS-Verbrechen gemacht, obgleich die Beweislage über dessen Tätigkeit bei der oberschlesischen Haupttreuhandstelle OST (HTO), wo Kopf mit den nach dem 20. Juli hingerichteten Widerständlern Peter Graf Yorck von Wartenburg sowie Michael Graf von Matuschka zusammenarbeitete, keineswegs eindeutig scheint (s. Weber).
Kritik an solcherlei Tendenz, die letztlich stets auf moralische Verdammnis einer ganzen Generation zielt, ist von der Sache selbst geboten: Wo alles in düsterem Grau erscheint, verschwinden alle Unterschiede, das reale Verhalten und Handeln von Menschen in ihrer Zeit wird nicht mehr erkennbar. Demgegenüber gilt es gerade in Bezug auf die NS-Ära an die Maximen historischer Empathie und Differenzierung zu erinnern. Wo und wie verliefen in einer ideologisch aufgeladenen Gesellschaft die Grenzen zwischen fanatischer und/oder naiver NS-Gläubigkeit, zwischen ideologischer Verblendung, inneren Vorbehalten, schlichtem Desinteresse und geistiger Immunität, wo und unter welchen Handlungsbedingungen kam es zu Überschneidungen von Konformismus und Nonkonformismus, von opportunistischem Eigeninteresse und widerständigem Verhalten, kurz: Wo und unter welchen Umständen waren unter einem Regime, das unter rassenideologischen Vorzeichen die Verachtung der Humanität proklamierte, Menschen imstande, sich den Suggestionen zu entziehen – oder sich davon zu ›emanzipieren‹? Zuletzt: Aus welchen Quellen erwuchs moralische Selbstbehauptung, Immunität gegen Komplizität sowie risikobereite Fähigkeit zu elementarer humaner Praxis? Festzustellen, dass die Nachgeborenen es sich mit der Beantwortung von derlei Fragen oft zu einfach machen, hat nichts mit ›Revisionismus‹ zu tun.
Das Lebenszeugnis eines unbekannten Sudetendeutschen
Nach derlei Vorrede verdient das schmale Buch eines verstorbenen ›Zeitzeugen‹ eine eingehende Betrachtung. Wenngleich unter ›Lebenserinnerungen eines Sudetendeutschen‹ zu rubrizieren, geht es darin weder um Apologetik noch um Klage oder Anklage. Vielmehr bietet es, angereichert mit allerlei minder bedeutsamen Anekdoten, als Selbstzeugnis eines Mannes, der sich dem Verbrechen auf spezifische Weise widersetzte, einen außergewöhnlichen Beitrag zur Erhellung der Unheilsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts.
Friedrich Linhart: Ein Mann aus Zwittau. Leben zwischen slawischen Völkern in Frieden und Krieg, Obertshausen: context-Verlag – Deutscher Hochschulverlag 1995, 167 Seiten, 4 Karten, 17 Abbildungen.
Bereits anno 1995 in bescheidener Auflage erschienen, hat der Text kaum Beachtung gefunden, abgesehen von einer in der Zeitschrift »Bohemia« veröffentlichten Kritik der aus dem Sudetenland gebürtigen deutsch-jüdisch-amerikanischen Germanistin Wilma A. Iggers, der 1938 vor den Nationalsozialisten geflohenen Gattin des im selben Jahr aus Hamburg emigrierten Historikers Georg Iggers. Die Rezensentin las aus dem schmalen Buch wenig mehr als opportunistisches Verhalten gegenüber rachsüchtigen Tschechen nach Kriegsende heraus.
Anders im Nachbarland Polen: Dort erschien anno 2002 eine vierseitige Rezension in der Forstzeitschrift »Sylvan« aus der Feder von Professor Józef Broda, dem Nestor der polnischen Forsthistoriker, der wiederum Erinnerungen des Journalisten Dr. Stanislaw Kasprzyk in seinen Text einarbeitete (Broda II). Als Redakteur einer polnischen Fachzeitschrift war Kasprzyk im Jahre 1968 in der deutschen »Allgemeinen Forstzeitschrift« auf den Namen des in Regensburg tätigen Oberforstdirektors Friedrich Linhart gestoßen. Er nahm Kontakt zu dem Forstwissenschaftler Dr. Buchholz auf, einem Russlanddeutschen, der »1918 nach Deutschland gekommen und eine in forstlichen Kreisen sehr geschätzte Persönlichkeit geworden war« (Linhart, S.148). Im 2. Weltkrieg hatte Buchholz als »Reichsbeauftragter für die Forstwirtschaft in den besetzen Ostgebieten« fungiert (Ibid.). Kaspzryk bat den Adressaten, die Verbindung zu »Herrn Linhart« herzustellen, der »damals viel für polnische Forst-beamten (sic) und -arbeiter gemacht [hat].« (Brief im Facsimile-Abdruck auf S. 149). Im Jahre 1978 richtete Kasprzyk an den Staatsratsvorsitzenden der damaligen Volksrepublik Polen Henryk Jabłonski – unter Hinweis auf Präzedenzfälle wie den »des bekannten westdeutschen Industriellen Berthold Beitz« – den Antrag, den Forstmeister Friedrich Linhart »in irgend einer Form offiziell zu würdigen« (im polnischen Text ›honorieren‹) (Kasprzyk an Jabłonski).
In dem Brief an Jabłonski heißt es: »In der Zeit der berüchtigten Umsiedlungs- und Befriedungsaktionen der Okkupanten im Zamojski Gebiet in den Jahre 1943/44 habe ich als Sekretär im staatlichen Forstamt Josefow (sic) gearbeitet, Leiter dieses Forstaufsichtsamtes in der Endphase der Okkupation war der Forstmeister Dipl.Ing. Friedrich Linhart, ein Mann, der ein überaus freundschaftliches Verhältnis zu dem polnischen Forstpersonal hatte und darüber hinaus auch viel Gutes für die polnische Bevölkerung getan hat. – Er rettete Hunderte von Menschen aus den Sammellagern für die Umsiedlung in Zamosc, Zwerzyniec und Bilgoraj, vor allem aber aus dem Konzentrationslager Majdanek bei Lublin. Alle diese Vorgänge habe ich selbst miterlebt, als ich als Sekretär des Forstamtes Jozefow auf die Bitten von festgenommenen Personen über 500 fingierte Zeugnisse ausstellte, in denen ich den Festgenommenen bescheinigte, dass sie beim Forstamt als Waldarbeiter beschäftigt waren« (Ibid).
Einige notwendige historische Ergänzungen
Die Zitate belegen, dass mit dem Lebensbericht von Friedrich Linhart (1903-1987) ein zeithistorisches Dokument ersten Ranges vorliegt. Bei dem Text handelt sich um eine von den drei Söhnen Linharts – ein Jurist, ein Mediziner und ein Chemiker – nach dessen Tod vorgenommene Edition von Aufzeichnungen, die ihr Vater nicht für Publikationszwecke bestimmt, sondern als eine Art summa vitae für die Nachgeborenen hinterlassen hatte. Was die Rekonstruktion der Zeit im besetzten Polen betrifft, so konnte sich der Verfasser auf sein Kriegstagebuch sowie auf eine gleichfalls aufbewahrte Aktennotiz stützen. Den betreffenden Buchseiten ist somit hohe Authentizität zuzusprechen. Der Text wurde von den Söhnen im Original belassen und nur dort mit Überleitungen versehen, wo dies unumgänglich schien. Zudem wurden die Kapitel mit Überschriften versehen, welche die Distanz des Autors zum nazistischen Rassenwahn pointieren sollen.
Fachhistoriker werden auf allerlei faktische Ungenauigkeiten stoßen. Ein fehlerhafter Begriff wie »Armada Krajowa« (S. 91) statt Armija Kraiova für die im Untergrund kämpfende polnische Heimatarmee blieb unkorrigiert stehen. Ebenso wird im Vorwort als Adressat des Kasprzyk-Briefs irrtümlich »Staatspräsident Gomulka« genannt (S.8). Als Manko erweist sich der Verzicht auf historisch erhellende Fußnoten, beispielsweise bei Begriffen wie Vlajka (= ›Flagge‹) für eine kollaborationistische tschechische faschistische Formation. Linhart nennt den tschechischen Forstkontrolleur Steinbach, verheiratet mit einer Deutschen, »Führer der von den Deutschen aufgezogenen Organisation Vlajka« (S. 42) – eine ungenaue Information, insofern als Führungsfigur der Vlajka bis 1942 der Journalist Jan Rys-Rozsévač (1901-1946) fungierte und sodann die Nationalsozialisten im Protektorat den nach dem Münchner Abkommen auf die deutsche Seite übergewechselten Offizier Emanuel Moravec bevorzugten (Oschlies).
Zur Skizzierung des Hintergrunds des Nationalitätenkonflikts verweist der Verfasser auf die von Václav Klofáč 1897 von den tschechischen Sozialdemokraten abgespaltene »Nationalsozialistische Partei«, in deren Gründungsaufruf es »nur so von Beschimpfungen der deutsch-jüdischen Fremdlinge [hagelte]« (S.16). Das ist fraglos eine von tschechischen Nationalisten bis heute gerne ignorierte Tatsache. Allerdings ist der Parteiname unscharf. Klofáč nannte seine Partei Česká strana národně sociální, was oft unterschiedlich mit ›National-Soziale‹, ›Nationale Sozialisten‹ oder ›Volkssozialisten‹ übersetzt wird. Unerwähnt lässt der Autor Linhart das deutsche Pendant, die als Deutsche Arbeiterpartei (DAP) erstmals 1904 mit einem »Trautenauer Programm« hervortrat, aus der »jene krakeelende Partei« (Urzidil, S. 199) hervorging, die 1918 umbenannt in DNSAP, den Kern der sudetendeutschen Nationalsozialisten bildete und deren Rolle für die Frühgeschichte der NSDAP nicht geringzuschätzen ist. Es fehlen die entsprechenden Namen Rudolf Jung, Hans Krebs, Hans Knirsch und Walter Riehl (Whiteside).
Hilfreich wären Erläuterungen zu den zwei maßgeblichen tschechischen nationalistischen Parteien, zu den erwähnten ›Nationalen Sozialisten‹ sowie zu der von Karel Kramář (1860-1937), dem russophilen Mitstreiter des Staatsgründers Thomáš G. Masaryk (1850-19137), als jungtschechischer Ableger gegründeten Nationaldemokratischen Partei gewesen. Verwirrung entsteht, wo bezüglich der Nachkriegswahlen im Mai 1946, aus denen die Kommunisten als Sieger hervorgingen, die Nationaldemokraten als eine der vier zugelassenen Parteien genannt werden. Im nächsten Satz heißt es, die »bürgerlich-konservativen« Nationaldemokraten seien auf einen Wink aus Moskau hin verboten worden (S. 146). Der Autor meinte offenbar die ›Nationalen Sozialisten‹ des ob der »Benesch-Dekrete« berüchtigten, nach dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948 entmachteten Staatspräsidenten Edvard Beneš (1884-1948).
Im Blick auf das zentrale Thema – Linharts menschenrettende Aktionen – hätte insbesondere der Name »Sturmbannführer Höfle«, bei dem Linhart bereits am vierten Tag nach seiner Ankunft in Lublin am 16. Juli 1943 »zwecks Freigabe der Forstbeamten und der dringend benötigten Fachkräfte der Holzindustrie« vorsprach, einer Anmerkung bedurft (S. 94). Es handelte sich um den aus Salzburg stammenden SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, der ab 1940 im Auftrag Himmlers von der Zentrale in Lublin aus den Ausbau von Konzentrationslagern betrieb und als rechte Hand von Odilo Globocnik, dem Leiter der »Aktion Reinhardt« 1942-43, den Massenmord an Juden im Generalgouvernement organisierte. Nach dem Krieg zusammen mit Globocnik und anderen SS-Chargen auf einer Almhütte am Kärntner Weißensee verhaftet und zwei Jahre interniert, konnte sich Höfle – nach einem Zwischenspiel als CIC-Informant – lange der Strafe entziehen Während des Eichmann-Prozesses verhaftet, nahm er sich 1962 im Wiener Polizeigefängnis das Leben (Garscha). (Von dem sogenannten Höfle-Bericht, der per Funk verschlüsselte Opferzahlen der Mordaktionen – mit Angaben bis zum 32.12.1942 – nach Berlin übermittelte, konnten die Herausgeber natürlich noch nichts wissen. Der Funkspruch wurde erst 2001 in britischen Akten entdeckt und entschlüsselt.) (Witte-Petry).
1918-1938: Zwischen völkischem Aktivismus und politischem Realismus
Im Klappentext des Buches heißt es, Friedrich Linhart habe »von Jugend an daran [geglaubt], daß ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Völker in den neu entstandenen Staaten [der einstigen der Donaumonarchie], insbesondere der Tschechoslowakei, möglich wäre. Er glaubte unterschiedliche nationale Eigenschaften wahrnehmen zu können: die kleinbürgerlich-skeptischen Tschechen, die aristokratisch-romantischen Polen (deren Partisanen er auch sein Leben verdankt), die selbst gegen bessere Einsicht pflichttreuen Preußen und die traditionelle Verbindlichkeit der durch das alte Österreich geprägten Menschen jedweder Nationalität. Im Einzelfall versagten jedoch derartige Klischees.«
Diese Interpretation bedarf zumindest bezüglich der Jugendjahre Linharts einer Einschränkung. Einer mittelständischen Familie mit Küfnerwerkstatt und Landwirtschaft in der nordmährischen Stadt Zwittau entstammend, erlebte Linhart als elfjähriger Knabe die vaterländische Begeisterung am Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914. »Niemand konnte damals ahnen, daß an diesem Tag eine Entwicklung eingeleitet worden war, die in unheimlicher Konsequenz bis zum Mai 1945 führen sollte« (S.12).
Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie bewegte sich der junge Linhart in ›völkischen‹ Kreisen, denen ein verträgliches Auskommen mit den seit 1848 politisierten, nicht minder nationalistischen Tschechen, die 1919 dank Versailles und Saint-Germain sowie 1920 durch Trianon in der am 28.Oktober 1918 proklamierten ČSR zur dominanten Staatsnation avanciert waren, keineswegs am Herzen lag. Immerhin hatte er bereits – eine Frucht des sog. ›Mährischen Ausgleichs‹ von 1905 – an der Zwittauer Staatsrealschule Tschechisch (die ›Böhmische Sprache‹) als Pflichtsprache erlernt. Zu Schulzeiten schloss er sich dem sowohl antisemitisch wie vegetarisch-lebensreformerisch eingefärbten »Wandervogel« an, danach den österreichischen deutsch-nationalen Turnern (die der reichsdeutsche Verband der »Deutschen Turnerschaft« 1904 wegen ihres antisemitischen Statuts ausgeschlossen hatte). Während seines 1921 aufgenommenen Studiums an der Wiener Hochschule für Bodenkultur, die »als die reaktionärste und judenfeindlichste Wiener Hochschule bekannt war« (S.22), wurde er Mitglied bei der »Akademischen Freischar«, zudem beim Wiener Ableger des »Freikorps Oberland«.
Die Funktionäre der studentischen Korporationen waren vor allem Sudetendeutsche. Den unter seinen Landsleuten verbreiteten Antisemitismus fand der Autor im nachhinein »unbegreiflich«, nicht zuletzt, da die »von den Tschechen doppelt gehassten« Juden in den nationalen Rivalitäten auf der deutschen Seite standen. »Bei den slawischen Völkern« sah er – anders als bei den Deutschen – den Antisemitismus »echt und tief im Volk verwurzelt.« (S. 16f.). Was den von Linhart beklagten Antisemitismus unter Sudetendeutschen betrifft, so liegt eine Erklärung bei Georg Ritter von Schönerer (1842-1921). Der ehedem liberale Schönerer trat nach der Reichsgründung als Führer der österreichischen Deutschnationalen hervor und tränkte seinen Pangermanismus mit immer schärferem Antisemitismus. Unter den Deutschen in Böhmen und Mähren wurde er zum politischen Heros, als er 1897 im Wiener Reichsrat gegen die vom österreichischen Ministerpräsidenten Casimir von Badeni betriebene Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen für Beamte zu Felde zog. (Pulzer, S.123-134, 169-171; Höbelt) Der Name Schönerer – ebenso wenig wie der des mit antisemitischen Parolen in Wien erfolgreichen christ-sozialen Bürgermeisters Karl Lueger – taucht in Linharts Erinnerungen nicht auf.
Linhart verschweigt nicht, sich als Student an seiner Wiener Hochschule an einer nächtlichen Klebeaktion mit antisemitischen Plakaten beteiligt zu haben. »Eigentlich lehnte ich instinktiv immer diesen Antisemitismus ab.. […] Aber man war nun einmal aus Tradition bei den nationalen Organisationen und da hielt man es halt für seine Pflicht, mit den Kameraden auch bei den Demonstrationen mitzumachen« (S.21f.). Für den »von München her« aufkommenden Nationalsozialismus hegte er, so die Erinnerung, indes »niemals die geringste Sympathie«. Er schreibt diese Distanz schlicht seiner bürgerlichen Herkunft von »Arbeitgebern« zu, weshalb er am Wortteil »Sozialismus« im NS-Parteinamen keinen Geschmack finden mochte (S.24).
Vor weiterem politischen Aktivismus schützte den ›national‹ gesinnten Linhart lebenspraktischer Realismus. Da sich für deutsche Hochschulabsolventen mit einem Wiener Diplom in der böhmisch-mährischen Heimat, d.h. in dem nunmehr unter tschechisch-nationaler Ägide stehenden Staat, kaum Berufschancen eröffneten, wechselte er 1922 an die tschechische Hochschule für Bodenkultur in Brünn, um dort Forstwirtschaft zu studieren. Hier kam er mit aus Russland emigrierten ›weißrussischen‹ Studenten in Kontakt, was ihn zum Erwerb von Russisch-Kenntnissen inspirierte. An der Brünner Hochschule traf Linhart auf mehrheitlich vorurteilsfreie Professoren. Auf den Studienabschluss folgte der Militärdienst, einschließlich des Besuchs einer Offiziersschule. Ende 1928 meldete sich Linhart unter den Beamtenanwärtern als einziger zum Staatsdienst in der ungeliebten, da weit im äußersten Osten gelegenen Region des 1920 annektierten, formal autonomen Karpatenrussland (Podkarpadská Rus) im mittleren Teil des Karpatenbogens. Bestimmte Beobachtungen, etwa der gänzlich separaten Lebensweise von einheimischen Ruthenen und um 1775 angesiedelten deutschen Holzfällern und Flößern aus dem Salzkammergut (»150 Jahre nichts von einander gelernt«, S.33, 35) sowie der Streitigkeiten zwischen Exilrussen und Exilukrainern, bestärkten Linhart in seinen kultur-nationalen Deutungsmustern.
1932 erreichte Linhart seine Versetzung an die Forstdirektion in Brandeis an der Elbe (Brandýs nad Labem) nordöstlich von Prag. Zu seinen dortigen Erfahrungen – eigentlich im Widerspruch zu seiner Sichtweise – gehörte die von einigen Kollegen betriebene nationale Mimikry: Ein deutschsprachiger Diplomingenieur Rößler gebärdete sich als ›Tschechoslowake‹, der erwähnte Steinbach – bei Kriegsende rettete ihn die rechtzeitige Flucht nach Deutschland vor dem Galgen – als tschechischer Patriot.
Während des sich zuspitzenden Nationalitätenkonflikts hielt sich Linhart selbst von nationalem Aktivismus fern. Erst relativ spät, im Mai 1938, trat er in Plan (südlich von Marienbad), dem Wohnort seines Schwiegervaters, der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henleins bei. Nichtsdestoweniger leistete er, inzwischen im Rang eines Leutnants der Artillerie, am 21. September 1938 dem Mobilmachungsbefehl Folge, um in Brünn den Befehl einer Batterie (»40 % Tschechen, 40 % Deutsche, der Rest Slowaken, Madjaren und Ruthenen«, S. 50) zu übernehmen. Das Münchner Abkommen (am 30.9.1939, »wohl der interessanteste Tage meines Lebens«, ibid) begrüßte er anscheinend aus vollem Herzen. Zugleich fand er in seinem Abteilungskommandeur einen verständnisvollen Vorgesetzten, der ihm unter Verweis auf das bestehende Standrecht nahelegte, das Kommando besser niederzulegen. Am 3. Oktober hielt der Stabskapitän, ehedem als junger Patriot zu den Russen übergelaufen und Kämpfer in der Tschechoslowakischen Legion, vor den Offizieren eine Ansprache, in dem er an alle appellierte, nicht als Feinde auseinanderzugehen. Am nächsten Tag verabschiedete sich Linhart von seiner Batterie mit einer Rede in Tschechisch und Deutsch, »was nicht dem Reglement entsprach« (S. 52).
Nach der Inkorporation des Sudetenlands fand Linhart eine Stelle beim Forstamt Neudek im Erzgebirge unweit von Karlsbad. Voraussetzung war der Parteieintritt, der wegen seines späten Beitritt zur Henlein-Partei zunächst abgelehnt wurde. Es reichte vorerst die Mitgliedschaft im NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps) und der SA.
Fortan hatte es der Forstmeister Linhart überwiegend mit überzeugten Nazis zu tun, darunter nicht wenige ›Reichsdeutsche‹. Sein zeitweiliger Vorgesetzter in Neudek ließ seinem Judenhass freien Lauf. Zudem glaubte er als »leidenschaftlicher SA-Mann« an eine spätere Abrechnung mit der »Konkurrenz, der SS« (S. 61). Er gehörte zu der in Linharts beruflichem Umfeld beachtlichen Zahl von NS-Gläubigen und Karrieristen, die sich bei Kriegsende erschossen.
1941-1943: Kriegserfahrungen statt Karriere
Von dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion erfuhr Linhart im Mai 1941 im Zug von einem beurlaubten ›reichsdeutschen‹ Kollegen, der großspurig von einem leichten Sieg in drei Wochen schwadronierte. Anfang Juli 1941 offerierte ihm der aus Sachsen stammende Personalchef der Forstbehörde in Prag eine Führungsposition in Prag. Linhart lehnte auf der Stelle ab. Der Grund: Den deutschen Einmarsch in Prag, (»den Überfall auf die Resttschechei«, S. 62 ) am 15. März 1939 und die Errichtung des Protektorats empfand er als Rechtsbruch. Es empörte ihn, daraus Gewinn zu ziehen.
Die unmittelbare – und vorhersehbare – Folge des Verzichts auf eine kriegsferne zivile Position war die Einberufung zur Wehrmacht am 5. September 1941. Bereits Mitte Juli hatte ihn ein Wiener Holzhändler, »ein Edler von Sowieso«, gewarnt, der Krieg sei verloren. Aus dem OKH hatte dieser persönlich vernommen, dass »alle Voraussetzungen, unter denen der Krieg geplant und begonnen wurde, sich als falsch erwiesen [hätten]« (S.63). Zu Linharts ersten Kriegseindrücken gehörte bei Ankunft in Odessa (7.12.1941) ein Auflauf, dessen Ursache ein aufgeregter ukrainischer Junge erklärte: der Mord an einem Juden (»Rezali sida« – sie haben einen Juden geschlachtet, S. 65).
Linhart zählte zu den Hellsichtigen. Die Erkenntnis, dass aufgrund des Umgangs der deutschen Besatzer mit der Bevölkerung der Krieg verloren sei, eröffnete er seiner Frau bereits beim ersten Heimaturlaub Anfang Januar 1942 (S.68). Demgegenüber stieß er in seinem Umfeld, etwa ein paar Monate später bei einem Zwischenstop im heimatlichen Zwittau, auf nichts als Siegesgläubigkeit. Sein bester Jugendfreund, ein Diplomingenieur, empörte sich, dass der Pfarrer bei einer Beerdigung »für einen ehrenvollen Frieden gebetet« hatte. »Daraufhin wagte ich es nicht mehr, offen zu reden.« (S. 70).
Linhart war inzwischen zu einer für die Kontrolle von Urlaubern zuständige ›Sammelkompanie‹ versetzt worden. Im Sommer 1942 bezog er in Brest-Litowsk Quartier in einem Offiziersheim, wo die Offiziere aus sprachlichen Gründen jüdische Bedienungen bevorzugten. »Trotz des energischen Protestes der Wehrmacht kamen jetzt alle Juden weg« (S.77) – ein erläuterungsbedürftiger Satz: Was erfuhr Linhart zu jenem Zeitpunkt von der »Aktion Reinhardt«, dem im Juli 1942 einsetzenden Massenmord an Juden, was suchte er zu diesem Zeitpunkt – wenn überhaupt – in Erfahrung zu bringen?
Wenig später wurde Linhart weiter östlich in Wjasma bei einem weltgewandten russischen Agraringenieur einquartiert. Obgleich dieser »in Rußland«, d.h. offenbar unter den Sowjets, einige Jahre inhaftiert war, hielt er es mit den Partisanen, wie Linhart aus einem mitangehörten Gespräch des Gastgebers schließen konnte. Der Mann – Linhart bezeichnet ihn als seinen »Schutzengel« – wurde wenig später von den Deutschen erschossen (S.79).
An die Front geriet Linhart Ende November 1942 nördlich von Wjasma an der oberen Wolga. Während die Stimmung unter Offizieren, »zumindest bei den Herren, die redeten, noch ganz auf Sieg ausgerichtet war« (S. 83), machten sich Leute wie Linhart keine Illusionen. Ein Durchbruch der sowjetischen Truppen wurde allein dadurch vermieden, dass diese nach Süden zur Einkesselung von Stalingrad verlegt wurden. Stand Linhart der Sinn nach Überleben und nicht auf Sieg, so zog er es vor, sich zum Forstdienst in den besetzten Ostgebieten zu melden. Er begründete dies mit seinen Sprachkenntnissen sowie der wesentlich stärkeren Gefährdung in Partisanengebieten als bei der Urlauberüberwachung.
1943-1945: Als Besatzer und Retter im Bezirk Lublin
Die Region um Zamośź war von Himmler und den mit Germanisierungskonzepten (»Generalplan Ost«) befassten SS-Dienststellen zur Räumung von Einheimischen und zur Ansiedlung von Deutschen – »Volksdeutsche« aus Bessarabien, der Bukowina und Wolhynien – vorgesehen. Ab November 1942 setzte – parallel zur »Aktion Reinhardt« – die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus ca. 300 Dörfern ein. Das Kommando der von SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten durchgeführten Operationen lag bei Globocnik (DHM: Kolonisierung). Als Reaktion wurde das Gebiet zu einem Schwerpunkt der Partisanenbewegung, die wiederum aus unterschiedlichen Gruppen – nationalpolnische, kommunistische, jüdische, ab 1943 auch sowjetische, »bis hinunter zu bloßen Räuberbanden« (S. 92) – bestand (Jozefow Bilgorajski).
Linhart traf im Bezirk Lublin ein, als dort im Juni/Juli 1943 eine große Polizeiaktion zur ›Säuberung‹ von Partisanen im Gange war. Von Verbindungsleuten gewarnt, waren die Partisanen längst ausgewichen oder untergetaucht. Um irgendeinen ›Erfolg‹ vorweisen zu können, erschossen die mit dem ›Bandenkampf‹ befassten Einheiten wahllos aufgegriffene Waldarbeiter als ›Partisanen‹, brachten ›Partisanenverdächtige‹ ins KZ Majdanek (zu Majdanek siehe Tagungsbericht Wien 29.10.2010) und verhafteten andere, um sie in diverse Lager sowie als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu deportieren. Wie erwähnt, bestand Linharts erste Amtshandlung – in Begleitung des Forstkollegen v. Taeuffenbach sowie eines Regierungsrats Raum – darin, den SS-Führer Höfle zur Freigabe von Verhafteten zu bewegen. Danach führte er eine Unterredung mit einem Sturmbannführer Lerch, in der es um »Neubesiedlung des evakuierten Gebiets« ging. »Alle diesbezüglichen Planungen der SS und Polizei waren absolute Hirngespinste.« (S.94)
Über den Verlauf der Aktion gegen Partisanen unterrichtete den Neuankömmling mit naivem Stolz ein gewisser Forstmann Nüßlein. Nach dessen Abgang stutzte der Kollege Herbst, bei dem sich Linhart gemeldet hatte, den Bericht ironisch distanziert zurecht. Herbst, dem die Brutalität – und die Folgen – der deutschen Okkupation deutlich vor Augen standen, gehörte alsbald zu Linharts Vertrauten. Nüßlein traf er später als Kollegen in Würzburg wieder.
Die Partisanen ließen mit Gegenschlägen nicht auf sich warten und töteten Führungsfiguren der Besatzer, darunter den Amtsvorstand des Forstaufsichtsamtes Bilgoraj, den Fm. (=Forstmann) Knießling. Zu dessen Nachfolger avancierte am 6. August 1943 Linhart. Ihm unterstanden zwölf Forstämter mit ca. 350 polnischen Beamten und Angestellten. Die Zahl der Waldarbeiter war offiziell mit 5000 gemeldet, was über Bezugsscheine für Wodka – als ›Tauschware‹ – die Versorgung der Untergebenen auf dem Schwarzmarkt ermöglichte. In allen Bereichen des Generalgouvernements, nicht zuletzt im Organisationsbereich der Wehrmacht, herrschte unverhohlene Korruption.
Das Besatzungsregime stellte sich wie folgt dar: »Kreishauptmannschaft (Landratsamt) mit allen dazugehörenden Abteilungen, Gendarmerie, Gestapo, eine Kompanie Schutzpolizei, eine Kompanie Landesschützen, Landwirtschaftsamt, Arbeitsamt, Postamt, Liegenschaftsamt (für die Güter), Kasino, eine deutsche Gaststätte und zwei deutsche Geschäfte«, dazu eine deutsche Schule (S.99).
Als leitender Forstbeamter, der Umgang mit der ›Prominenz‹ der Besatzer pflegte, sah sich Linhart alsbald mit der Realität – und Banalität – des Verbrechens konfrontiert. Im Nachlass seines Vorgängers entdeckte er einen Koffer mit 23.000 Złoty (umgerechnet 11.500 RM). Von seiner Haushälterin – eine mit Mann und Sohn aus Gdingen vertriebene Polin – erfuhr er, dass Fm. Knießling das Geld von einem Juden erbeutet hatte (S.99).
Zu Linharts Jagdgenossen gehörte der örtliche Gestapochef Robert Kolb, auf dessen Konto unter anderem im August 1942 zusammen mit dem aus »Schindlers Liste« bekannten Amon Göth eine große Mordaktion in Zamośź geht (Fischer, S.36). Er wurde nach dem Krieg an Polen ausgeliefert und hingerichtet. Aus ihren Mordtaten machten Kolb und seine Gestapoleute keinerlei Hehl. Mit Amüsement erzählten sie, wie ein gebildetes jüdisches Mädchen, das ihnen den Haushalt geführt hatte, ›liquidiert‹ wurde. Sie bat sich aus, selbst das Pferdegespann zu lenken, mit dem sie ihre eigenen Henker zur Hinrichtung fuhr (S.100). Mit den Polen in Linharts Büro pflegten die Gestapoleute freundlichen Umgang. Einer von ihnen, ein Forstsekretär Nowak, wurde von höherer Stelle als Jude denunziert. Kolb erzählte, wie Nowak beim bloßen Anblick der Foltergeräte zusammenbrach und danach getötet wurde (S.102). In alkoholisierter Runde überkam die Mordgesellen abwechselnd Selbstmitleid oder Angst vor absehbarer Strafe. Darüber, ob Linhart zu jener Zeit bereits das Ausmaß der Massenmorde erkannte, gibt sein Buch keinen Aufschluss. Begriffe wie ›Aktion Reinhardt‹ oder ›Erntefest‹, die von Himmler ausgegebene Chiffre, unter der im November 1943 in Majdanek und anderen Konzentrationslagern erneut in wenigen Tagen 43 000 Juden ermordet wurden, drangen offenbar nicht an seine Ohren (Erntefest).
Linharts Rettungsaktionen bestanden hauptsächlich darin, Forstleute vor dem Zugriff der Gestapo und der Polizei zu schützen, für verhaftete Polen Unschuldsaussagen vorzulegen sowie sie mit teilweise fingierten Papieren aus den Lagern als unverzichtbare, qualifizierte Arbeitskräfte herauszuholen (s.o. Kasprzyk an Jabłonski). Allein an einem Tag, am 3. August 1943, gelang es ihm, 172 Waldarbeiter aus einem Lager freizubekommen (S.27). Danach die folgende Notiz: »Mit Graf Zamojski (zweit-grösster Grundbesitzer in Polen nach Fürst Radziwill...) gesprochen.« (Tagebuch, S. 27; s.a. Eintrag zum 12.-18.7.1944: »Bemühungen um die Freilassung von Arbeitern, die bei der Wehrmachtsaktion festgenommen worden waren«, S.47).
Vor Verdacht schützte sich Linhart nicht zuletzt dadurch, dass er der von ihren V-Leuten gewöhnlich getäuschten Gestapo aus seinem Büro zuweilen Hinweise auf – von seinen eigenen Vertrauensleuten wiederum bereits vorgewarnte – Partisanen zukommen ließ. Die Partisanen im Raum Bilgoraj waren über seine Rolle im Bilde. Während sich tödliche Überfälle auf Sägewerke und Außenposten häuften, entging Linhart am 1. April 1944 auf einer einsamen Waldstraße einem Anschlag auf seinen Dienst-Mercedes. Das in kritischer Position aufgestellte Maschinengewehr hatte plötzlich Ladehemmung. Der Überfall wurde von einer polnischen Zeugin bei der Gestapo als Anschlag einer russischen Partisanengruppe dargestellt. Erst später wurde Linhart klar, dass es sich um eine polnische Gruppe handelte und dass der Schütze den Wagen auf Signal der Frau, ebenfalls Partisanin, erkannte und das Feuer einstellte. (S.106-108; Linhart: Bemerkung).
Am 20. Juli 1944, nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, kam für Bilgoraj der Befehl zur ›vorübergehenden‹ Räumung. Unter MG-Beschuss aus einem vorgestoßenen russischen Panzer gelangten Linhart und das Forstpersonal – in langen Kolonnen von Besatzern, von Wolhynien- und Bessarabiendeutschen – nach Radom. Von dort wurde er am 12.August zum Forstamt Jedrzejow abgeordnet. Dort, in dem nordöstlich von Krakau und südwestlich von Kielce gelegenen Ort, waren inzwischen auch die Gestapo-Leute von Bilgaroj eingetroffen.
Den in dem Forsthaus in Überzahl untergebrachten polnischen Flüchtlinge begegnete Linhart wiederum als rettender Nothelfer, indem er Schreiben an deutsche Dienststellen verfasste, insbesondere seinen Namen unter Postkarten und Pakete mit Lebensmitteln, die ins KZ Buchenwald abgingen, setzte. »Eine andere häufige Adresse war Namslau, Schlesien, Pfarrhauslager« (S.113). Zudem suchten aus Bilgoraj gekommene Polen bei Linhart Rat und Hilfe. Erneut entging er bei einem Jagdunternehmen tödlicher Gefahr, als ihn ein aus Angst vor Rache der Partisanen zitternder Heger – offenbar aus Dankbarkeit – vor einer im Waldgebiet von Jedrzejow operierenden Partisanengruppe warnte und zur Umkehr bewegte.
1945-1946: Szenen des Überlebens und der ›Aussiedlung‹
Im Februar 1945 wurde Linhart an das Forstamt Neudek zurückversetzt. Dort erlebte er das Kriegsende, ohne jedoch noch – zuletzt als Kompanieführer beim ›Volkssturm‹ – in irgendwelche absurden Abwehrkämpfe hineinzugeraten. Eine grauenvolle Episode erhellt das Finale des Großdeutschen Reiches: Anfang Mai wurde im Nachbarort Frühbuß ein junger, mit EK I dekorierter Leutnant von einem Standgericht – unter einem später von den Amerikanern zu Rechenschaft gezogenen Major der Wehrmacht (!) – zum Tode verurteilt und an einem Baum gehenkt. Sein ›Vergehen‹: Er hatte seiner völlig erschöpften Truppe befehlswidrig gestattet, Nachtquartier zu nehmen (S.122).
Von den tschechischen Racheakten und Mordexzessen der ›wilden Vertreibungen‹ im Sommer 1945 berichtet Linhart nur in knappen Worten. Einem deutschen Kollaborateur, Gelegenheitsarbeiter und örtlichen Kommunistenführer, der sich mit üblen Repressalien hervor tat, konnte er unter Verweis auf seine Funktion im Forstamt entgegentreten. Der als Denunziant und beflissener ›Organisator‹ der Abschubtransporte unter Sudetendeutschen berüchtigte Franz Ebert ging danach ebenfalls nach Bayern. Er wurde Jahre später in der Wertach bei Augsburg ertränkt aufgefunden (S.126, Fn. 2).
Linhart führte das Forstamt noch zwei Monate in eigener Regie. Dann wurde er beauftragt, als ›technische Kraft‹ zwei ihm noch von der Hochschule her bekannte tschechische Forstmeister in die Amtsführung einzuarbeiten. Mit einigem Erstaunen liest man, dass er das die ›Aussiedlungen‹ – »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« – besiegelnde Potsdamer Abkommen (02.08.1945) mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. Im Unterschied zu zahllosen Flüchtlingen und Ostvertriebenen stellte sich Linharts Familie frühzeitig auf den endgültigen Verlust der Heimat ein. In der Absicht, zu gegebener Zeit den Antrag zur ›geordneten‹ Aussiedlung zu stellen, wurden er und seine Ehefrau, eine Ärztin, vom Ausgang der erwähnten Wahlen 1946 bestärkt. Am 22. Juni 1946 nahmen sie »im Grunde froh gestimmt« freundschaftlichen Abschied von den Tschechen im Forsthaus Neudek (S.146). Seine Uniform schenkte er einem zunächst anmaßend auftretenden tschechischen Soldaten, der danach beglückt war, sie gegen seine schwarzgefärbte SA-Uniform zu tauschen.
Die Familie landete zunächst im Allgäu. Nach Wiederholung der Staatsprüfung machte Linhart im bayerischen Forstdienst Karriere, zuletzt als Präsident der Oberforstdirektion in Regensburg. Von dort aus knüpfte er bereits in den 1960er Jahren Kontakte zu seinem aus Brandeis und Neudek bekannten tschechischen Kollegen Kadeřábek. 1968 meldete sich Dr. Kaspzryk aus Warschau. Auf einer Anfang der 1970er Jahre unternommenen Reise nach Polen erfuhr Linhart die herzliche Dankbarkeit von Angehörigen seiner einstigen Schützlinge in Bilgoraj.
Christliche Wurzeln menschlicher Selbstbehauptung
Die Biographie Linharts nötigt zu den eingangs aufgeworfenen Fragen. Linhart, ab 1940 auch NSDAP-Mitglied, kam anscheinend nie auf den Gedanken zu aktivem Widerstand gegen das NS-Regime. Am 20. Juli 1944, als noch am Abend eine Parteiversammlung einberufen wurde und der Gouverneur des Distrikts Lublin, ein Dr. Wendler, das Attentat auf Hitler bekanntgab, kommentierte er dessen Scheitern, anders als die Mehrheit in vertrautem Kreise, nicht mit Bedauern. Seiner Erinnerung nach sprach er von der Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende im Falle des Gelingens ( S.109).
Was Linhart von anderen unterschied, war, dass er die in Österreich – und unter Sudetendeutschen – verbreiteten radikalen, politisch verhängnisvollen Ausprägungen seiner ›nationalen‹ Sozialisation in Jugendjahren anscheinend nicht vorbehaltlos teilte. Vor rabiatem Nationalismus war er dank seiner weiteren Lebenserfahrungen gefeit.
Aus welchen Quellen speiste sich seine mit Mut und List bewiesene Menschlichkeit? Aufschluss gibt seine Notiz über eine Zufallsbegegnung mit einem jungen Weißrussen polnischer Herkunft auf einem Bahnhof südlich von Gomel im November 1942. Auf die Frage des katholisch getauften jungen Mannes, Sohn eines zaristischen Offiziers, ob »der Herr Offizier an Gott glaube«, antwortete Linhart: »Ja, ich glaube und Sie?« (S.82). Die Wurzeln seiner Humanität lagen im offenbar nie erschütterten katholisch-christlichen Glauben. Linhart fügt eine schlichte Erklärung hinzu: »Wahrscheinlich habe ich manches getan, was nicht zulässig war und unter strenger Strafe stand. Wenn man aber selbst fast täglich in Lebensgefahr ist und dankbar für jede Hilfe, fragt man nicht, ob die Bitte des anderen berechtigt ist oder nicht« (S.114).
Ein ungerühmter Mann aus Zwittau
Friedrich Linhart stammte aus Zwittau. Aus derselben Stadt kam der dank Steven Spielbergs Film zu Berühmtheit gelangte Oskar Schindler, der als »Gerechter unter den Völkern« seine Grabstätte in Jerusalem gefunden hat. Der Name Schindler steht exemplarisch für moralische Paradoxien in der Biographie eines Mannes. Unter Sudetendeutschen genoss der Judenretter nicht allein wegen seines anrüchigen Lebenswandels keinen guten Ruf. Es war bekannt, dass Schindler nach der Annexion des Sudetenlandes in eine bewaffnete ›Aktion‹ in den jenseits der Demarkationslinie gelegenen Nachbarorten Mährisch-Chrostau (Moravská Chrastova) und Roßrain (Rozhraní) involviert war. Zuvor, im Juli 1938, war Schindler wegen staatsfeindlicher Tätigkeiten im Dienste der deutschen Abwehr (Amt Canaris) verhaftet, nach dem Münchner Abkommen wieder freigelassen worden. Danach operierte er weiter für die Abwehr, so vor der Besetzung der ›Resttschechei‹ sowie in der unmittelbaren Vorphase des Angriffs auf Polen. Unter Verweis auf derlei Aktivitäten gründet die tschechische Historikerin Jitka Gruntová (»Die Wahrheit über Oskar Schindler: Weshalb es Legenden über ›gute Nazis‹ gibt«, Berlin [Edition Ost], 2010), ehedem kommunistische Abgeordnete im Prager Parlament, ihre vehemente Opposition gegen Ehrungen Schindlers (Gruntová; Mostýn).
In Svitavy (Zwittau) steht seit 1994 eine Gedenktafel für Schindler. Für Linhart, einen Mann, der viele Polen vor Lagerqualen und möglichem Tod bewahrt hat, existiert außer seinem hier vorgestellten Lebenszeugnis, welches die Möglichkeit zu Menschlichkeit in »sehr schrecklichen Zeiten« (Kasprzyk an Buchholz, S. 149) dokumentiert, kein öffentliches Angedenken. Von der zuständigen Dienststelle in Warschau wurde Dr. Kasprzyks Brief an den Staatschef Jabłonski seinerzeit abschlägig beantwortet.
Literatur:
I. Quellenmaterial
Für die Auswertung des Buches stellte mir Prof. Dr. Peter Linhart folgende kopierte Schriftstücke aus dem Nachlass seines Vaters zur Verfügung:
TAGEBUCH-Auszug (F. Linhart) 9.7.1943 – 21.7.1944 (Auszug aus dem anhand des erhaltenen Kriegstagebuchs vom 05.09.1941-19.02.1945 erstellten Typoskript [Auskunft Peter Linhart, e-mail 11.10.2013]) , S. 26-27, 40, 47.
BEMERKUNG zur umseitigen Lageskizze vom Juni 1981 (von Friedrich. Linhart)
BRIEFE:
Dr. Ing. Stanislaw Kasprzyk an den Vorsitzenden des Staatsrat der PRL (Volksrepublik Polen) Prof. Henry Jablonski v. 15. März 1978 (in deutscher Übersetzung)
Stanisław Kasprzyk an Dipl.Ing Friedrich Linhart v. 1. August 1978
Prof. Dr. Józef Broda an Prof. Dr. Peter Linhart v. 20. November 2002 mit Rezension Brodas (s.u,.) in der Anlage (Brief Broda)
II. Weiterführende Literatur
BRODA,JÓZEF: Recenzja. Friedrich Linhart: Ein Mann aus Zittau. Leben zwischen slavischen (sic) Völkern in Frieden und Krieg, in: Sylvan CXLVI (2002), Nr. 8, S. 89-92 (Text auch in deutscher Übersetzung)
DHM: Kolonisierung und Vertreibung in Polen (as), http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/vertreibungpolen/index.html (Aufruf 13.09.2013)
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