Immo Sennewald: Abend

Ma­nu­el Sei­ten­be­cher: Mah­ler, Masch­ke & Co.: Rech­tes Den­ken in der 68er-Be­we­gung? Pa­der­born: Schö­ningh 2013. 557 Sei­ten.

1999 tra­ten drei ehe­ma­li­ge 68er, Horst Mah­ler, Gün­ter Masch­ke und Rein­hold Ober­ler­cher mit einer »Ka­no­ni­schen Er­klä­rung zur Be­we­gung von 1968« an die Öf­fent­lich­keit. Über­ra­schend pos­tu­lier­ten sie, die 68er-Be­we­gung sei in ihrem Kern eine na­tio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Be­we­gung ge­we­sen. Da alle drei in­zwi­schen auf der äus­se­ren Rech­ten ge­lan­det waren, un­ter­stell­ten sie damit der auf­rüh­re­ri­schen Neuen Lin­ken eine rechts­ge­rich­te­te Grund­li­nie.

Die ›Er­klä­rung‹ kam auf pa­ra­do­xe Weise jenen li­be­ra­len Kri­ti­kern der 68er ent­ge­gen, die wie Kurt Sont­hei­mer, Erwin K. Scheuch, Ri­chard Lö­wen­thal und auch Jür­gen Ha­ber­mas schon zur Zeit des Ju­gend­auf­ruhrs von to­ta­li­tä­ren Ten­den­zen und ›lin­kem Fa­schis­mus‹ als Merk­ma­len der 68er ge­spro­chen hat­ten. Die Fa­schis­mus­ana­lo­gie wurde spä­ter von lin­ken Kri­ti­kern (und Re­ne­ga­ten) wie Gerd Koe­nen, Götz Aly und Wolf­gang Kraus­haar wei­ter­ge­führt. Offen blieb je­doch, ob sich die Eti­ket­ten ›na­tio­nal­re­vo­lu­tio­när‹, ›fa­schis­tisch‹ und ›rechts‹ über­haupt in eins setz­ten las­sen?

Nun hat sich ein His­to­ri­ker durch diese ver­wir­ren­de Si­tua­ti­on her­aus­for­dern las­sen, das Ver­hält­nis der 68er-Be­we­gung zur na­tio­na­len Frage und zur deut­schen Rech­ten ge­nau­er zu be­leuch­ten. Er ver­sucht, den Eti­ket­ten­streit durch le­bens­ge­schicht­li­che, bio­gra­phi­sche Prä­zi­si­on zu über­win­den. Das ist ein an­spruchs­vol­les Pro­gramm, so­wohl in­halt­lich als auch me­tho­disch. Die Dis­ser­ta­ti­on von Ma­nu­el Sei­ten­be­cher wurde 2012 an der Uni­ver­si­tät Pots­dam an­ge­nom­men und mit Summa cum laude be­ur­teilt.

Bio­gra­phi­en im Wan­del

Das Vor­ge­hen der Un­ter­su­chung ist bio­gra­phisch, mit einem Blick außer auf Mah­ler, Masch­ke und Ober­ler­cher auch auf Bernd Ra­behl, Rudi Dutsch­ke und Til­man Fich­ter. Kurze Sei­ten­bli­cke auf rech­te und kon­ser­va­tiv-li­be­ra­le Kon­ver­ti­ten aus dem 68er-Feld wie Tho­mas Schmid, Rai­ner Lang­hans, Peter Schütt, Wer­ner Olles, Peter Furth und Klaus Rai­ner Röhl zei­gen, dass es sich alles in allem nicht nur um Ein­zel­fäl­le han­delt. (Dar­über hin­aus wäre es üb­ri­gens an­ge­bracht, auch an­de­re ›na­tio­na­le Linke‹ wie Gün­ter Nen­ning, Wolf­ram Ven­ohr, Se­bas­ti­an Haff­ner, Peter Brandt, Her­bert Ammon und Gün­ter Platz­dasch oder auch rech­te Kon­ver­ti­ten wie Al­fred Mech­ters­hei­mer, Rai­ner Zi­tel­mann, Rolf Stolz und Jens Lit­ten in sol­che ver­glei­chen­den Be­trach­tun­gen ein­zu­be­zie­hen.)

Ana­ly­tisch geht es, so das ein­lei­ten­de Ka­pi­tel, um drei­er­lei: An den Bio­gra­phi­en der Prot­ago­nis­ten wer­den Brü­che und Wand­lun­gen be­ob­ach­tet, aber es wird auch nach Kon­stan­ten ge­fragt. In einem zwei­ten Schritt wer­den die bio­gra­phi­schen Be­fun­de dann mit der 68er-Be­we­gung im all­ge­mei­nen ver­knüpft, zumal die Prot­ago­nis­ten als füh­ren­de Ge­stal­ten der Be­we­gung gal­ten. Und schlie­ß­lich gibt das Ma­te­ri­al Stoff zum Nach­den­ken dar­über, ob und wie weit die Ein­schät­zung der Neo-Rechts­ra­di­ka­len über das ›na­tio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re‹ 1968 zu­tref­fe, und ins­be­son­de­re über die Rolle der na­tio­na­len Frage in die­sem Zu­sam­men­hang.

Es geht also um drei­er­lei: um Bio­gra­phi­en, um die na­tio­na­le Frage und um die Be­we­gung. Dazu ar­bei­tet die Dis­ser­ta­ti­on ein rei­ches, aber un­über­sicht­li­ches Quel­len­ma­te­ri­al auf – von Sta­si-Ar­chiv­ma­te­ria­len bis hin zu In­ter­views mit ›Ehe­ma­li­gen‹. Dass sie die­ses Ma­te­ri­als Herr wird, ist ein­drucks­voll und bis­lang ein­zig­ar­tig.

Ka­pi­tel zwei ver­sucht his­to­ri­sche Be­griffs­be­stim­mun­gen und zeich­net deren kon­tro­ver­si­el­le Be­wer­tun­gen nach : Was ist unter ›1968‹, ›rechts‹ und ›links‹, ›Ex­tre­mis­mus‹ und ›Ra­di­ka­lis­mus‹ zu ver­ste­hen?

Auf dem Weg in die Be­we­gung

Ka­pi­tel drei be­schreibt die Wege der ein­zel­nen Prot­ago­nis­ten in die Neue Linke hin­ein, bevor es 1968 zur Es­ka­la­ti­on der Be­we­gung kam. Ra­behl und Dutsch­ke kamen von der Sub­ver­si­ven Ak­ti­on her und hat­ten einen Hin­ter­grund in der si­tua­tio­nis­ti­schen Ge­sell­schafts­kri­tik und der Frank­fur­ter Schu­le. Beide kamen zudem aus der DDR und er­leb­ten damit eine dop­pel­te Ent­frem­dung: ge­gen­über der DDR und der BRD. Sie be­zeich­ne­ten sich als ›Ab­hau­er‹ oder ›Ost­ler‹. Auch Masch­ke stiess, von der ver­bo­te­nen KPD und vom Os­ter­marsch her kom­mend, zur Sub­ver­si­ven Ak­ti­on. Über Frantz Fanon iden­ti­fi­zier­te man sich hier nun mit der an­ti­ko­lo­nia­len Be­we­gung in der Drit­ten Welt. Ak­ti­ons­for­men wie Sit-in und Teach-in ver­brei­te­ten sich. Fich­ter und Mah­ler stell­ten sich zu­nächst gegen die Un­ter­wan­de­rung des Ber­li­ner SDS durch die an­ti-au­to­ri­tä­ren Sub­ver­si­ven, waren aber zu­gleich fas­zi­niert. Für Un­ru­he sorg­te die Deutsch­lands­fra­ge, so­bald es zu Ge­sprä­chen zwi­schen SDS und FDJ kam: Soll­te man sich mit der na­tio­na­len Frage be­schäf­ti­gen, oder diese als ana­chro­nis­tisch an­se­hen? Eine be­son­de­re Rolle spiel­te Mah­ler, der von einer schla­gen­den Ver­bin­dung her in die SPD ein­trat, sich dann dem SDS zu­wand­te und als An­walt der Kom­mu­ne I sowie im Zu­sam­men­hang mit Drit­te-Welt-Ak­tio­nen auf­trat, in der Ku­ba­kri­se und bei der Stö­rung des ras­sis­ti­schen Films Af­ri­ca Addio.

Ka­pi­tel vier schil­dert die Haupt­jah­re der 68er Be­we­gung. Jetzt kam es zu Kon­flik­ten zwi­schen tra­di­tio­nel­len Mar­xis­ten und An­ti­au­to­ri­tä­ren. Man schul­te sich an mar­xis­ti­schen, so­zia­lis­ti­schen und an­ar­chis­ti­schen Au­to­ren (kei­nes­wegs sol­chen der ›kon­ser­va­ti­ven Re­vo­lu­ti­on‹). In der Pra­xis kam es zu Zu­sam­men­stö­ßen mit der Po­li­zei, aus deren An­lass Zei­tun­gen erst­mals Dutsch­ke als ›Füh­rer‹ her­aus­stell­ten. Das Ver­hält­nis zwi­schen den Ak­ti­vis­ten und der Be­völ­ke­rung, be­son­ders in Ber­lin, po­la­ri­sier­te sich, aber die Er­schie­ßung des Stu­den­ten Oh­ne­s­org schuf auch So­li­da­ri­tät. In Ham­burg, wo der SDS nur eine klei­ne Grup­pe aus­mach­te, trat nun Ober­ler­cher her­vor, ins­be­son­de­re als Ak­teur gegen na­zi­be­las­te­te Pro­fes­so­ren. Au­ßer­dem ent­wi­ckel­te sich ein Hap­pe­ning um die Sta­tue des Ko­lo­ni­al­for­schers Wiss­man zum Sturz des Denk­mals. Eine li­te­ra­ri­sche Szene ent­fal­te­te sich, ins­be­son­de­re um die Zeit­schrift Kon­kret.

Auf der Ideo­lo­gie-Ebe­ne stie­ßen der vol­un­ta­ris­ti­sche Ak­tio­nis­mus von Dutsch­ke und Ra­behl zu­sam­men mit Ha­ber­mas’ Vor­wurf des ›lin­ken Fa­schis­mus‹. Die Re­vo­lu­tio­nä­re ant­wor­te­ten mit einer Kri­tik am ›Theo­rie­fe­ti­schis­mus‹ der Frank­fur­ter Schu­le und be­rie­fen sich auf Mao, Che Gue­va­ra und Frantz Fanon, aber auch auf Baku­nin, Rosa Lu­xem­burg und Her­bert Mar­cu­se. Es kam zu einer brei­ten Fa­schis­mus­de­bat­te, in der ei­ner­seits die 68er und an­de­rer­seits der Bon­ner Staat als ›fa­schis­tisch‹ eti­ket­tiert wurde. Die Dis­kus­si­on hatte Be­rüh­rungs­punk­te mit einer De­mo­kra­tie­de­bat­te, in der es um ›Form­al­de­mo­kra­tie‹ und ›Kon­sum­ge­sell­schaft‹, um Kon­sens und Kon­flikt, um To­ta­li­ta­ris­mus und Rä­te­de­mo­kra­tie, um An­ti­par­la­men­ta­ris­mus und die Po­li­ti­sie­rung des Pri­va­ten, um Volk und Avant­gar­de ging.

Di­rek­ter an die na­tio­na­le Frage führ­te die Ame­ri­ka-Fra­ge heran: Ei­ner­seits so­li­da­ri­sier­te man sich mit dem ›an­de­ren Ame­ri­ka‹ der Bür­ger­recht­ler und Afro­ame­ri­ka­ner sowie der US-Stu­den­ten gegen den Viet­nam­krieg und über­nahm auch Ele­men­te der ame­ri­ka­ni­schen Pro­test­be­we­gung wie Sit-in, Teach-in und Pro­test­songs. Aber an­de­rer­seits waren an­ti­ame­ri­ka­ni­sche und an­ti­west­li­che Un­ter­tö­ne nicht zu über­hö­ren: ›USA – SA – SS‹. In ihrer So­li­da­ri­sie­rung mit der an­ti­ko­lo­nia­len Be­we­gung der Tri­kon­ti­nen­ta­le wi­chen die 68er zwar vor dem Na­tio­na­lis­mus kei­nes­wegs scheu zu­rück, sei es in Bezug auf Viet­nams FNL, Che Gue­va­ra, Fanon, iri­sche IRA oder bas­ki­sche ETA. Man ver­mied je­doch nach Kräf­ten, das Wort ›na­tio­nal‹ auf die deut­sche Lage an­zu­wen­den. Al­ler­dings gaben Dutsch­ke und Ra­behl unter Pseud­onym und im ver­trau­ten Kreis zu er­ken­nen, dass hier ein Pro­blem lag und spra­chen vom ›west­deut­schen Se­pa­rat­staat‹ und ›so­zia­lis­ti­scher Wie­der­ver­ei­ni­gung‹. Den­noch blieb der In­ter­na­tio­na­lis­mus eine be­herr­schen­de Er­sat­zi­den­ti­fi­ka­ti­on. Erst in den 70er Jah­ren spra­chen Linke das Pro­blem offen an, so­wohl in einer viel­be­ach­te­ten Ar­ti­kel­se­rie in Das da/avan­ti als auch in ei­ni­gen K-grup­pen.

Hier­an an­schlies­send be­leuch­tet Sei­ten­be­cher die Be­zie­hun­gen rechts-na­tio­na­ler Grup­pen zur 68er Be­we­gung. Dort war, vor allem bei NPD und Deut­scher Na­tio­nal-Zei­tung, ein wü­ten­der An­ti­kom­mu­nis­mus vor­herr­schend. Na­tio­nal­neu­tra­lis­ten wie Au­gust Haus­s­lei­ters AUD und Wolf Schen­kes Neue Po­li­tik such­ten hin­ge­gen Kon­takt, und Stu­den­ten des ›neuen Na­tio­na­lis­mus‹ be­müh­ten sich darum, ›von der Lin­ken zu ler­nen‹. Kei­nem von die­sen ge­lang es, mit den 68ern über die na­tio­na­le Frage ins Ge­spräch zu kom­men.

Zer­fall und Rechts­wen­dung

Ka­pi­tel fünf führt die bio­gra­phi­schen Li­ni­en fort in die 70er Jahre hin­ein. Die Be­we­gung zer­fiel in or­tho­do­xe K-Grup­pen, die Stadt­gue­ril­la der RAF, un­dog­ma­ti­sche Linke, und aus­ser­dem wirk­te Willy Brandts SPD an­zie­hend. Ra­behl zog sich in die aka­de­mi­sche Be­rufs­lauf­bahn zu­rück und schuf sich Feind­schaf­ten rings­um. Mah­ler ging in den be­waff­ne­ten Kampf, brach dann aber mit der RAF und wand­te sich der KPD zu. Masch­ke kon­ver­tier­te in sei­nem Exil in Kuba vom Le­ni­nis­ten zum Re­ne­ga­ten und wand­te sich Carl Schmitt, der an­ti­de­mo­kra­ti­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on und der fa­schis­ti­schen Rech­ten zu. Bei ihnen allen spiel­te die na­tio­na­le Frage – im Ge­gen­satz zu Dutsch­ke – keine Rolle. In einem aus­führ­li­chen Un­ter­ka­pi­tel wirft Sei­ten­be­cher einen Blick auf die wi­der­sprüch­li­chen Hal­tun­gen der Neuen Lin­ken zu Is­ra­el – von der Kri­tik des Na­zi-An­ti­se­mi­tis­mus über die Selbst­sti­li­sie­rung als Opfer des Fa­schis­mus, die die Ver­nich­tung der Juden ten­den­zi­ell ver­klei­ner­te, bis hin zu einem An­ti­zio­nis­mus mit an­ti­se­mi­ti­schen Un­ter­tö­nen.

Ka­pi­tel sechs be­schreibt die 80er Jahre mit den neuen Be­we­gungs­for­men der Al­ter­na­tiv-, Öko­lo­gie- und Frie­dens­be­we­gung. In der Frie­dens­be­we­gung kamen na­tio­nal­pa­zi­fis­ti­sche Hal­tun­gen zum Aus­druck. Til­man Fi­scher trat in die SPD ein und wurde Lei­ter der Par­tei­schu­le. Er blieb je­doch mit sei­nem deutsch­lands­po­li­ti­schen En­ga­ge­ment ein­fluss­los. Mah­ler nä­her­te sich nach sei­ner Haft­ent­las­sung dem FDP-Mi­lieu und er­klär­te mit Hegel den Staat zur Wur­zel des mensch­li­chen Seins. Er schien end­lich im bür­ger­li­chen Leben ›an­ge­kom­men‹ zu sein und zog sich auf sei­nen Beruf als An­walt zu­rück.

Ka­pi­tel sie­ben zeich­net dann für die Zeit seit den 90er Jah­ren die An­nä­he­rung ei­ni­ger die­ser Bio­gra­phi­en an die Rech­te nach. Fich­ter ge­riet durch seine Nähe zu den deutsch-na­tio­na­len Jusos des ›Hof­geis­ma­rer Krei­ses‹ zwar ins Ge­re­de, blieb aber der So­zi­al­de­mo­kra­tie treu. Ra­behl er­reg­te 1998 Auf­se­hen durch eine Rede vor der Bur­schen­schaft Da­nu­bia, in der er vor einer ›Über­frem­dung‹ Deutsch­lands warn­te. Das ging in der Fol­ge­zeit ein­her mit per­sön­li­cher Ver­bit­te­rung, Rund­um-Ver­fein­dung und Ver­schwö­rungs­theo­ri­en. Er pu­bli­zier­te nun im Mi­lieu der jung­kon­ser­va­ti­ven Rech­ten und trat in Ver­an­stal­tun­gen der NPD auf. 2009 er­klär­te er sich sogar be­reit, für NPD und DVU als Bun­des­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat an­zu­tre­ten, zeig­te sich je­doch bald auch von die­ser Ver­bin­dung ent­täuscht. Mah­ler glitt über eine he­ge­lia­ni­sche Lau­da­tio für den rechts­kon­ser­va­ti­ven Phi­lo­so­phen Gün­ter Rohr­mo­ser 1997 und das Mi­lieu der neu-rech­ten Zeit­schrif­ten Junge Frei­heit, Sleip­nir und Staats­brie­fe mit ein­wan­de­rer­feind­li­chen Bei­trä­gen wei­ter zur äu­ße­ren Rech­ten. Im Jahr 2000 wurde er Mit­glied der NPD, ver­tei­dig­te die Par­tei er­folg­reich gegen einen Ver­bots­an­trag und äu­ßer­te sich in der Fol­ge­zeit mehr und mehr ju­den­feind­lich. Ober­ler­cher ge­riet als Pri­vat­ge­lehr­ter und selbst­er­klär­ter ›Na­tio­nal­mar­xist‹ in die Iso­lie­rung und wand­te sich eben­falls der Aus­län­der­the­ma­tik zu. Mit an­ti­se­mi­ti­schen Äus­se­run­gen, einem Ver­fas­sungs­ent­wurf für ein ›Vier­tes Reich‹, dem Auf­ruf zum ›Ras­sen­krieg‹ und an­de­ren ex­tre­mis­ti­schen Ap­pel­len iso­lier­te er sich auch in rech­ten Krei­sen, kan­di­dier­te je­doch 2005 für die NPD.

Sei­ten­be­cher schlie­ßt die­ses Ka­pi­tel ab mit einer Über­sicht über ideo­lo­gi­sche Mus­ter zwi­schen den 68ern und den neuen Rechts­ge­wen­de­ten. Er er­ör­tert die Feind­schaft gegen die par­la­men­ta­ri­sche De­mo­kra­tie, An­ti­ka­pi­ta­lis­mus, An­ti­ame­ri­ka­nis­mus und An­ti­se­mi­tis­mus sowie das Ver­hält­nis zur Na­zi­ver­gan­gen­heit. Jen­seits des Ideo­lo­gi­schen gibt die ost­deut­sche bzw. schle­si­sche Her­kunft von Mah­ler, Masch­ke, Ober­ler­cher, Ra­behl, Dutsch­ke und Krahl zu wei­te­ren In­ter­pre­ta­tio­nen An­lass: Hier such­ten Men­schen nach Iden­ti­tät. In einer Schluss­be­trach­tung un­ter­streicht der Ver­fas­ser die He­te­ro­ge­ni­tät der Be­we­gung, wie sie aus den Bio­gra­phi­en zu­ta­ge tritt, sowie das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hält­nis von Bruch und Kon­ti­nui­tät.

Zur Phä­no­me­no­lo­gie der Be­we­gung

Ein Sprich­wort sagt, der Kopf sei rund, damit die Ge­dan­ken ihre Rich­tung wech­seln könn­ten. So ein­fach und ›na­tür­lich‹ waren die in die­ser Dis­ser­ta­ti­on be­schrie­be­nen Rich­tungs­wech­sel je­doch kei­nes­wegs. Sie fan­den näm­lich nicht nur in ein­zel­nen Köp­fen statt, son­dern be­tra­fen auch so­zia­le Zu­sam­men­hän­ge, dar­un­ter so­zia­le und po­li­ti­sche Be­we­gun­gen.

Was aber ist Be­we­gung? Die Be­we­gungs­for­schung wird bis­lang von einem engen Zu­gang be­herrscht, dem es vor allem oder aus­schlie­ß­lich um Or­ga­ni­sa­ti­on und Ideen geht, ins­be­son­de­re um Ide­en­ge­schich­te und Ideo­lo­gie­kri­tik, um Vor­stel­lun­gen, Ziele und Mei­nun­gen. Sei­ten­be­chers Stu­die ist davon nicht ganz frei, sie weist aber nicht zu­letzt auf­grund ihres bio­gra­phie­ge­schicht­li­chen An­sat­zes über diese Be­gren­zun­gen hin­aus.

Der Be­griff der Be­we­gung ist sprach­lich viel­deu­tig, und zwar in vie­len (oder sämt­li­chen?) eu­ro­päi­schen Spra­chen. ›Be­we­gung‹, mo­ve­ment, le mou­ve­ment, movimen­to, bevægelse, rör­el­se etc. be­zeich­nen so­wohl so­zia­le als auch emo­tio­na­le und kör­per­li­che Be­we­gun­gen. Diese Mehr­schich­tig­keit ist be­deut­sam, wurde in der For­schung aber bis­her kaum oder gar nicht zum Ge­gen­stand ge­macht. Be­sagt die Spra­che mit ihrer an­ony­men Tiefe und Weis­heit viel­leicht etwas über einen Zu­sam­men­hang, den das aka­de­mi­sche Den­ken nor­ma­ler­wei­se über­sieht?

Men­schen be­we­gen sich kör­per­lich, und sol­che Be­we­gung ge­hört zu ihrem Leben. Diese Be­we­gun­gen kön­nen un­will­kür­lich sein wie At­mung und Ticks, sie kön­nen kul­tu­rell struk­tu­riert wer­den als Ges­ti­ku­la­ti­on und Mimik, oder wei­ter aus­ge­formt als Spiel, Kampf, Tanz, Me­di­ta­ti­on, Sport, Frei­luft­ak­ti­vi­tät oder Ar­beits­be­we­gung.

Men­schen wer­den von Stim­mun­gen und Ge­füh­len be­wegt. ›Ich bin be­wegt‹, sagt man. Fas­zi­na­ti­on, Be­geis­te­rung, Zorn, Angst, Schmerz und Ge­läch­ter ge­hö­ren zu die­ser Be­we­gungs­welt.

Und Men­schen neh­men teil an Ver­ge­sell­schaf­tun­gen, die wir eben­falls Be­we­gun­gen nen­nen. So­zia­le Be­we­gun­gen, po­li­ti­sche, kul­tu­rel­le und re­li­giö­se Be­we­gun­gen ma­chen zu­sam­men mit Freun­des­grup­pen, Ver­ei­nen und Ver­bän­den die Zi­vil­ge­sell­schaft aus.

Über jeden die­ser Le­bens­be­rei­che gibt es spe­zia­li­sier­te Un­ter­su­chun­gen, aber diese blen­den meist die even­tu­ell vor­han­de­nen Zu­sam­men­hän­ge aus. So kann man in Hand­bü­chern über so­zia­le Be­we­gun­gen viel über Or­ga­ni­sa­tio­nen und Ideen fin­den, kaum oder gar nichts je­doch über kör­per­li­che Pra­xis­for­men und Emo­tio­nen. Der bio­gra­phi­sche Zu­gang, den Sei­ten­be­cher ge­wählt hat, öff­net hier einen wei­te­ren Blick, da in der Bio­gra­phie so­zia­le Be­we­gung, emo­tio­na­le Be­wegt­heit und kör­per­li­che Be­we­gungs­for­men zu­sam­men­hän­gen.

Emo­tio­na­le und kör­per­li­che Be­we­gung 1968

Zur emo­tio­na­len Be­we­gung zi­tiert Sei­ten­be­cher den SDS-Vor­sit­zen­den von 1967. Rei­mut Rei­che sagte da­mals über den uni­ver­si­tä­ren Streik, des­sen kon­kre­ter In­halt – 30 Pfen­nig Men­sa­zu­schuss – sei zwar mar­xis­tisch ge­se­hen schwach­sin­nig, aber »er hält Emo­tio­nen wach, bringt Mas­sen in Be­we­gung, genau wie Viet­nam, der Not­stand, der Os­ter­marsch« (121).

Zur emo­tio­na­len Be­we­gung ge­hör­te das Ge­mein­schafts­ge­fühl, die Iden­ti­tät eines neuen Wir. Von ›We shall over­co­me‹ über den Sprech­chor ›Bür­ger, wir stin­ken!‹ bis hin zu jenem ›Wir sind das Volk!‹, mit dem 1968 im Jahre 1989 einen Nach­klang er­fuhr. Zu­gleich voll­zog sich in der An­re­de­form der Über­gang vom ›Sie‹ zum ›du‹.

Der Aus­druck von Iden­ti­tät hatte in der Be­we­gung je­doch auch ein kon­tras­tie­ren­des Ge­gen­über: Wir sind die an­de­ren. Das be­zeich­ne­te eine Ab­gren­zung gegen ›den Bür­ger›‹, aber zu­gleich mehr: Iden­ti­tät gegen Ent­frem­dung. Rudi Dutsch­ke be­zeich­ne­te die Dy­na­mik des Auf­ruhrs als »exis­ten­zi­el­len Ekel« vor einer Ge­sell­schaft, die von Frei­heit rede, die Men­schen und Völ­ker aber sub­til und bru­tal un­ter­drü­cke (165).

Der Auf­ruhr konn­te durch­aus iro­ni­sche Un­ter­tö­ne haben: ›An­ar­chie ist mach­bar, Herr Nach­bar!‹ Aber es war auch oft ein un­iro­ni­scher Mach­bar­keits­wahn im Spiel: Die Welt zu ver­än­dern er­schien als ein Avant­gar­de-Pro­jekt. ›Ge­schich­te ist mach­bar‹. Che wurde dafür zi­tiert: »Die Pflicht eines Re­vo­lu­tio­närs ist es, die Re­vo­lu­ti­on zu ma­chen« (123). Die­ses Ma­chen schei­ter­te be­kannt­lich. Mah­ler und Ober­ler­cher je­doch hiel­ten an der nai­ven Über­heb­lich­keit fest, vom SDS bis hin zur NPD.

Bei al­le­dem – Re­vo­lu­ti­ons­stim­mung, Wir-Ge­fühl, Du-Be­zie­hung, Iden­ti­tät und Ent­frem­dung, Mach­bar­keits­pro­jekt – han­delt es sich ge­wiss um un­hand­greif­li­che Di­men­sio­nen mensch­li­chen Han­delns. Sie wer­den al­ler­dings von der So­zio­lo­gie Schritt für Schritt ent­deckt. Und in der Tat kön­nen sie für eine ma­te­ria­lis­ti­sche Ge­schichts­schrei­bung weit be­deut­sa­mer sein als die Über­bauphä­no­me­ne, auf die sich die üb­li­che Ide­en­ge­schich­te bis­lang kon­zen­triert hat. Die 68er Be­we­gung war in­so­fern nicht zu­letzt ein Phä­no­men von Stim­mung, At­mo­sphä­re, En­er­gie – Aura. Als sol­ches war­tet sie noch auf wei­te­re Un­ter­su­chung.

Ähn­lich un­ter­be­lich­tet ist die kör­per­li­che Be­we­gung, die zwi­schen­mensch­li­che Pra­xis als Basis po­li­ti­scher Be­we­gung. Dazu ge­hört das Sin­gen, ins­be­son­de­re der Ge­mein­schafts­ge­sang. 1968 war cha­rak­te­ri­siert durch die Sing­treffs auf der Burg Wal­deck und die Re­zep­ti­on und Neu­ent­wick­lung des Folk, durch eine po­li­ti­sche Rock­mu­sik, rote Lie­der und Pro­test­songs. Man mag all das ver­ste­hen als einen Bruch mit der ›skep­ti­schen Ge­ne­ra­ti­on‹, wie sie noch 1957 der So­zio­lo­ge Schels­ky kon­sta­tier­te: nüch­tern, ideo­lo­gisch des­il­lu­sio­niert – und nicht sin­gend.

Zu den Be­we­gungs­for­men ge­hör­ten der Os­ter­marsch, der ei­ni­gen His­to­ri­kern als erste neue so­zia­le Be­we­gung gilt, und auf den sich Rei­che 1967 be­rief. De­mons­tra­ti­ons­mär­sche grif­fen diese Art der (Fort-) Be­we­gung auf und dy­na­mi­sier­ten sie mit Spring­pro­zes­sio­nen. Dabei kehr­ten Fah­nen, die nach 1945 in West­deutsch­land – auch in Ab­gren­zung zur DDR – ver­femt wor­den waren, in neuem Zu­sam­men­hang wie­der, ob rot, schwarz oder mit Spon­ti-Blüm­chen.

Hap­pe­nings waren ein wich­ti­ges Ele­ment der Be­we­gungs­pra­xis – im­pro­vi­sier­te Er­eig­nis­se, bei denen z.B. Ge­gen­stän­de ins Pu­bli­kum ge­wor­fen wur­den. Hap­pe­nings waren das Pud­ding-At­ten­tat der Kom­mu­ne I gegen den US-Vi­ze­prä­si­den­ten Hum­phrey 1967 und die Oben-oh­ne-Ak­ti­on von Stu­den­tin­nen gegen Ador­no 1969. Ex­pe­ri­men­tal­thea­ter wie das Li­ving Thea­t­re und Stra­ßen­thea­ter wand­ten eine Art von Si­tua­tio­nis­mus an. Pla­kat­gra­phik und Wand­ma­le­rei­en ent­wi­ckel­ten neue For­men zwi­schen Flower Power und Graf­fi­ti. Si­tua­tio­nis­ti­sche Ver­spielt­heit fand sich bei den Sub­ver­si­ven als ein Traum vom »homo lu­dens« im Kon­trast zum Kon­sum­bür­ger (44). Aus Ka­li­for­ni­en kamen mit der Hip­pie­kul­tur die New Games, al­ter­na­ti­ve Sport­ver­ei­ne wur­den ge­grün­det, und eine gegen das Leis­tungs­prin­zip ge­rich­te­te Sport­kri­tik ver­brei­te­te sich. Dass all die­ses nicht ein­fach ›mach­bar‹ war, zeig­te sich, als Mah­ler 1999 mit sei­ner ›Bür­ger­be­we­gung für Unser Land‹ zu Mon­tags­de­mons­tra­tio­nen auf­rief und nur mit Mühe eine Hand­voll Men­schen sam­meln konn­te. Und von Ver­spielt­heit konn­te nun je­den­falls nicht mehr die Rede sein.

So­zia­le, psy­chi­sche und kör­per­li­che Be­we­gung bil­de­ten in der 68er Be­we­gung eine Ganz­heit. Die­ses Ganze war durch­aus wi­der­sprüch­lich, aber mach­te eben doch ein Zu­sam­men­hang aus. Es war der Zu­sam­men­hang einer Er­we­ckungs­be­we­gung.

Sei­ten­be­chers Stu­die geht auf die emo­tio­na­len und kör­per­li­chen As­pek­te der Be­wegt­heit nicht im ein­zel­nen ein. Aber er öff­net über den bio­gra­phi­schen Zu­gang den Blick dar­auf. Denn Bio­gra­phi­en han­deln nicht von Ideen, die sich se­kun­där über ›In­di­vi­du­en‹ aus­drü­cken, son­dern von le­ben­den Men­schen in Be­we­gung.

Die hier be­ar­bei­te­ten Bio­gra­phi­en zei­gen, wie die 68er Be­we­gung durch­aus ver­schie­de­ne Ha­bi­tus anzog oder her­vor­brach­te: In­fra­ge­stel­ler, Quer­den­ker und Bes­ser­wis­ser. Über letz­te­ren schrieb Erich Fried in der RAF-Zeit: »Du hast ganz und gar recht … Nur ein Mensch, der ganz und gar recht hat, macht mir immer ein wenig Angst. Und glaub­test du nicht schon frü­her, als du ganz und gar un­recht hat­test, du ha­best ganz und gar recht?« Sei­ten­be­cher nennt das eine »idea­le ly­ri­sche Bio­gra­phie Mah­lers« (259).

Den­noch gibt die Stu­die nicht der Ver­su­chung nach, so etwas wie einen ex­tre­mis­ti­schen Cha­rak­ter mit so­zi­al­pa­tho­lo­gi­schen Zügen zu re­kon­stru­ie­ren. Ge­ra­de im Falle Mah­lers würde man sonst auf das Pa­ra­dox jenes Mah­ler sto­ßen, der in den 80er Jah­ren vor­über­ge­hend der FDP nahe stand. Sind Li­be­ra­le ex­tre­mis­tisch – und warum ei­gent­lich nicht?

Viel­mehr trägt die Stu­die zur Phä­no­me­no­lo­gie einer Be­we­gung bei, deren Fun­da­men­tal­kri­tik sich gegen er­leb­te Ent­frem­dung rich­te­te. In der Er­we­ckungs­be­we­gung kam ein ge­sell­schaft­li­cher Zorn zum Aus­druck, den man im Zu­sam­men­hang mit Peter Slo­ter­di­jks Zorn und Zeit (2006) ver­ste­hen kann. An­ders leben, darum ging es. Aber warum ge­ra­de in den 60er Jah­ren? Und ist das Thema in­zwi­schen etwa ob­so­let ge­wor­den? (Doch wohl kaum.) Eine Ant­wort dar­auf soll­te man hier nicht er­war­ten. Sei­ten­be­cher ist kein Bes­ser­wis­ser. Er regt eher zu wei­te­rer Suche an, und diese führt in einen Zwi­schen­raum zwi­schen der Po­li­tik (wir ma­chen das!) und der Kul­tur (es ge­schieht mit uns).

Zur dif­fe­ren­ti­el­len Phä­no­me­no­lo­gie des Na­tio­na­lis­mus

Eine ähn­li­che Nach­denk­lich­keit stif­tet die Stu­die in Bezug auf die na­tio­na­le Frage. Die Dis­ser­ta­ti­on ist ja dar­auf aus­ge­rich­tet, die These der drei neo-rechts­ra­di­ka­len Ex-68er zu über­prü­fen, wo­nach 1968 im Kern eine na­tio­na­lis­ti­sche Be­we­gung ge­we­sen sei. Aber Na­tio­na­lis­mus ist nicht nur einer. Er ist, wie Sei­ten­be­cher ver­schie­dent­lich an­deu­tet, ein dif­fe­ren­ti­el­les Phä­no­men. Diese Phä­no­me­no­lo­gie kann man wei­ter­den­ken.

Es las­sen sich dabei wohl min­des­tens drei un­ter­schied­li­che Typen un­ter­schei­den. Da ist der Be­frei­ungs­na­tio­na­lis­mus, wie er ty­pisch durch die an­ti­ko­lo­nia­len Be­frei­ungs­be­we­gun­gen in Afri­ka, Asien und La­tein­ame­ri­ka, aber auch in Ir­land, Grön­land und im Link­szio­nis­mus re­prä­sen­tiert wurde. Der Be­we­gungs­na­tio­na­lis­mus war über­wie­gend links. In der le­ni­nis­ti­schen Tra­di­ti­on sprach man von der ›na­tio­na­len an­ti­ko­lo­nia­len Frage‹. Die Be­frei­ung rich­te­te sich gegen den Feind ›drau­ßen‹, ty­pisch die ko­lo­nia­le Be­sat­zungs­macht. Der iri­sche So­zia­lis­ten­füh­rer James Con­nol­ly re­prä­sen­tier­te diese Hal­tung, spä­ter dann der Tri­kont-Na­tio­na­lis­mus der San­di­nis­ten, Gad­da­fis, Man­de­las und des Viet­kong. Der ge­dach­te Ak­teur war hier das Volk als eine auf­rüh­re­ri­sche Be­we­gung.

Ganz an­ders ver­fährt der Be­dro­hungs­na­tio­na­lis­mus, ty­pisch re­prä­sen­tiert durch die frem­den­feind­li­chen rechts-po­pu­lis­ti­schen Be­we­gun­gen un­se­rer Tage. Frü­her rich­te­te der Be­dro­hungs­na­tio­na­lis­mus sich oft gegen ›den Juden‹, heute gegen den Islam. Hier sah und sieht man den Feind also im In­ne­ren, zum Bei­spiel in Ge­stalt eth­ni­scher Min­der­hei­ten. Ein durch­ge­hen­des Feind­bild sind dabei au­ßer­dem die Lin­ken, in­so­fern als sie die Be­dro­hung an­geb­lich be­güns­ti­gen. Im fa­schis­ti­schen An­ti­bol­sche­wis­mus dien­ten die Lin­ken ›dem Juden‹, in der Zeit des Kal­ten Kriegs ›dem Rus­sen‹. Be­zugs­grö­ße des Be­dro­hungs­na­tio­na­lis­mus war ei­ner­seits in der Zeit des Kal­ten Kriegs die ›Freie Welt‹, sonst aber meist das ›bio­lo­gi­sche‹ Volk, das in sei­ner Sub­stanz durch die ›Frem­den‹ be­droht werde.

Eine äl­te­re Tra­di­ti­on hat der Staats­na­tio­na­lis­mus. Ihn kul­ti­vier­ten ver­schie­de­ne Re­gime der Mo­der­ne. Das reich­te von den fa­schis­ti­schen Staa­ten (Mus­so­li­nis Na­tio­nal­fa­schis­mus, Fran­cos Staats­fa­lan­gis­mus) über de­mo­kra­ti­sche (das ja­ko­bi­ni­sche Frank­reich, das im­pe­ria­lis­ti­sche Eng­land, die pa­ra­no­iden USA unter Ge­or­ge W. Bush) bis hin zu kom­mu­nis­ti­schen Staa­ten (Al­ba­ni­en, Nord­ko­rea, VR China). Hier mo­bi­li­sier­te man gegen den Feind drin­nen und drau­ßen und nann­te dies ty­pi­scher­wei­se ›Pa­trio­tis­mus‹. In Russ­land ging eine va­ter­län­di­sche Linie von Sta­lin zu Putin. In Deutsch­land hat der Staats­na­tio­na­lis­mus eine rech­te He­ge­mo­nie und bezog sich auf Preu­ßen und Hegel, auf Bis­marck und Hin­den­burg. Aber pa­ra­do­xer­wei­se trug auch die DDR staats­na­tio­na­lis­ti­sche Züge. Und Ha­ber­mas war mit sei­ner Idee vom ›Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus‹ nicht gar so weit davon ent­fernt. Neu­er­dings er­scheint Eu­ro­pa als Su­per­staat und Groß­na­ti­on, die sich dem Glo­ba­li­sie­rungs­dis­kurs zu­fol­ge im Wett­be­werb mit USA, Russ­land und China be­fin­de. Be­zugs­grö­ße die­ses Na­tio­na­lis­mus ist stets der Staat mit sei­ner Be­völ­ke­rung, wie sie von oben, von den In­sti­tu­tio­nen her de­fi­niert wird – das Staats­volk.

Wie ver­hielt sich die 68er Be­we­gung zu die­sen un­ter­schied­li­chen Na­tio­na­lis­men? 1968 als eine deut­sche Be­we­gung stell­te einen be­mer­kens­wer­ten Son­der­fall dar. Das Na­tio­na­lis­mus­ver­ständ­nis in Deutsch­land war durch die NS-Er­fah­rung staats­na­tio­na­lis­tisch ge­prägt, ge­ra­de auch in der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on. In die­sem Sinne konn­te die 68er Be­we­gung nur an­ti­na­tio­na­lis­tisch und an­ti­pa­trio­tisch sein. Va­ter­land war ein Un-Be­griff ge­wor­den und ir­gend­wo zwi­schen CSU und Deut­scher Na­tio­nal-Zei­tung an­ge­sie­delt. Aber auf die Dauer ist die­ser Typus durch­aus nicht ana­chro­nis­tisch: Der Kon­kur­renz­staat unter den Be­din­gun­gen der Glo­ba­li­sie­rung und der glo­ba­len Kon­kur­renz lässt neue Staats­na­tio­na­lis­men am Ho­ri­zont er­schei­nen.

Heute tre­ten rechts­na­tio­na­lis­ti­sche Strö­mun­gen je­doch in ers­ter Linie mit frem­den­feind­li­chen Pro­gram­men an. Auch mit sol­chem Be­dro­hungs­na­tio­na­lis­mus hatte 1968 nichts zu tun. Die Be­dro­hungs­stim­mung unter rech­ten ›Na­tio­na­len‹ rich­te­te sich da­mals – im Kal­ten Krieg und ins­be­son­de­re nach dem Mau­er­bau – in ers­ter Linie gegen ›die Kom­mu­nis­ten‹. Das präg­te den Kon­flikt zwi­schen der an­ti­kom­mu­nis­ti­schen Rech­ten und der an­ti-an­ti­kom­mu­nis­ti­schen 68er Be­we­gung. Die Ein­wan­de­rungs­fra­ge stand nicht auf der Ta­ges­ord­nung. Und sie war auch noch weit ent­fernt, als fran­zö­si­sche 68er in So­li­da­ri­tät mit Da­ni­el Cohn-Ben­dit skan­dier­ten: ›Nous som­mes tous des juifs al­le­man­ds!‹ (Wir sind alle deut­sche Juden!). In die­ser Be­zie­hung ar­gu­men­tie­ren Mah­ler, Ober­ler­cher und Ra­behl ana­chro­nis­tisch, wenn sie ver­su­chen, 1968 für die ›Über­frem­dungs‹-Sa­che mit ihren an­ti­se­mi­ti­schen, an­ti­is­la­mi­schen oder ein­wan­de­rer­feind­li­chen Be­zü­gen zu ver­ein­nah­men.

An­de­rer­seits aber er­hielt die 68er Be­we­gung ihren be­son­de­ren An­trieb aus dem Pro­test gegen den ame­ri­ka­ni­schen Viet­nam­krieg. Dar­aus er­ga­ben sich an­ti­ame­ri­ka­ni­sche Un­ter­tö­ne. Dar­über hin­aus such­te die Be­we­gung sich ihre po­si­ti­ven Be­zü­ge bei den an­ti­ko­lo­nia­len und be­frei­ungs­na­tio­na­lis­ti­schen Be­we­gun­gen – in Süd­afri­ka, La­tein­ame­ri­ka, Pa­läs­ti­na, bei der Black Power-Be­we­gung und dem Ame­ri­can In­dian Mo­ve­ment in den USA, dann auch in Ir­land und im Bas­ken­land. Wenn man mit Che sagte: ›So­li­da­ri­tät ist die Zärt­lich­keit der Völ­ker‹, ging es durch­aus um Völ­ker, aber eben um Völ­ker in auf­rüh­re­ri­scher Be­we­gung. Von die­sem Bezug her und unter den Be­din­gun­gen der ame­ri­ka­ni­schen und so­wje­ti­schen Be­set­zung und Spal­tung Deutsch­lands kann man im Auf­ruhr von 1968 in der Tat be­frei­ungs­na­tio­na­lis­ti­sche und in­so­fern na­tio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Di­men­sio­nen er­ken­nen. Al­ler­dings waren die 68er sich, aus ver­ständ­li­chen Grün­den, die­ser na­tio­na­len Kom­po­nen­te nicht be­wusst. Und ge­ra­de Mah­ler, Masch­ke, Ober­ler­cher und an­de­re spä­te­re Rechts­wen­der hat­ten sei­ner­zeit davon keine Ah­nung.

In­so­fern ist die Ein­schät­zung der Be­zie­hung zwi­schen 1968 und ›na­tio­na­ler Frage‹ kom­plex. Und in die­sem Sinne trägt Sei­ten­be­chers Stu­die dazu bei, den deut­schen Son­der­weg noch ein­mal neu zu durch­den­ken.

Die Dis­ser­ta­ti­on ist also mehr als nur flei­ßig und mehr als nur ›nu­an­ciert‹, wie ver­schie­de­ne Re­zen­sen­ten be­merkt haben. Sie führt weg von einem sim­plen Er­klä­ren und hin zu einem kom­ple­xen Ver­ste­hen. »Mir scheint, die Kin­der des nächs­ten Jahr­hun­derts wer­den das Jahr 1968 mal so ken­nen wie wir das Jahr 1848«, schrieb Han­nah Ah­rendt 1968 (431). Sei­ten­be­chers Dis­ser­ta­ti­on stützt diese Vor­aus­sa­ge und weist zu­gleich Wege zu neuer Er­kennt­nis über die Be­we­gung.

Aber es gibt kei­nen Grund zu Il­lu­sio­nen: Der Eti­ket­ten­streit wird wei­ter­ge­hen. Das zei­gen auch man­che der Re­zen­sio­nen zu Sei­ten­be­chers Stu­die. Der rei­ße­ri­sche – viel­leicht allzu rei­ße­ri­sche? – Titel des Buchs mag dazu bei­tra­gen. Je­den­falls folg­ten so man­che Re­zen­sen­ten brav den alten Mus­tern: 1968 – rechts oder links? Ex­tre­mis­tisch oder gut de­mo­kra­tisch? Na­tio­na­lis­tisch oder in­ter­na­tio­na­lis­tisch? Wenn man so nach Eti­ket­ten fragt, braucht man sich über die Be­we­gun­gen in der De­mo­kra­tie und über die na­tio­na­le Frage keine wei­te­ren Ge­dan­ken zu ma­chen.

 

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