Immo Sennewald: Abend

Peter Brandt und Detlef Lehnert: »Mehr Demokratie wagen«. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin: vorwärts buch Verlag 2013, 299 Seiten

Im Um­feld des 150. Jah­res­tags der Grün­dung des All­ge­mei­nen Deut­schen Ar­bei­ter­ver­eins am 23. Mai 2013 gab es eine Reihe von Pu­bli­ka­tio­nen zur So­zi­al­de­mo­kra­tie in Deutsch­land. Eine der be­mer­kens­wer­tes­ten ist die von Peter Brandt und Det­lef Leh­nert, Hoch­schul­leh­rer an der Fern­Uni­ver­si­tät Hagen bzw. an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin. Das Buch spannt den Bogen von den ers­ten Ele­men­ten einer de­zi­diert lin­ken so­zia­len und de­mo­kra­ti­schen Be­we­gung in Deutsch­land und im Exil nach 1830 bis in die jüngs­te Ver­gan­gen­heit. Die Pu­bli­ka­ti­on in der vor­wärts buch Ver­lags­ge­sell­schaft der SPD ver­leiht ihr zu­sätz­li­che Au­to­ri­tät. Eine par­tei­of­fi­zi­el­le Ge­schich­te der SPD ist sie damit aber nicht.

Diese Dar­stel­lung der So­zi­al­de­mo­kra­tie in Deutsch­land kann unter drei As­pek­ten ge­le­sen wer­den. Ers­tens ist es eine au­ßer­or­dent­lich dich­te, über­sicht­li­che, gut ge­glie­der­te und le­ben­dig ge­schrie­be­ne his­to­ri­sche Dar­stel­lung. Sie ver­liert sich nicht in De­tails, bleibt aber auch nicht in den gro­ßen Li­ni­en ste­cken. Sie ent­wi­ckelt ge­nü­gend Em­pa­thie für die Ak­teu­re der So­zi­al­de­mo­kra­tie wie auch ihres lin­ken Flü­gels und ist doch hin­rei­chend ob­jek­tiv. Dies alles macht das Buch zu einer sehr le­sens­wer­ten Ein­füh­rung.

Rich­tig ist, bis in die Zeit nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on 1830 zu­rück­zu­ge­hen, als die Re­stau­ra­ti­ons­re­gime in die Krise ge­rie­ten und sich neben den er­star­ken­den bür­ger­li­chen Be­we­gun­gen auch in Deutsch­land bzw. der Emi­gra­ti­on erste so­zia­lis­ti­sche, kom­mu­nis­ti­sche und so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Grup­pen bil­de­ten. In der Öf­fent­lich­keit fast ver­ges­sen im Schat­ten der gro­ßen He­ro­en der deut­schen Ar­bei­ter­be­we­gung von Las­sal­le über Marx, Bebel und Lieb­knecht ist der große Auf­bruch des Jah­res 1848. Und es hat die hun­dert Jahre da­nach ge­prägt, wohl bis heute, dass es zu kei­nem wir­kungs­vol­len Bünd­nis des Li­be­ra­lis­mus und den Kräf­ten der so­zia­len De­mo­kra­tie ge­kom­men ist, weil in den Mo­na­ten der Ent­schei­dung der Li­be­ra­lis­mus bis auf sei­nen allzu schwa­chen lin­ken Flü­gel der Re­pu­bli­ka­ner und De­mo­kra­ten die ›Ord­nung‹ der Re­vo­lu­ti­on vor­zog. Man soll­te die fol­gen­de Be­mer­kung der Au­to­ren nicht un­be­dingt als Sach­zwang, son­dern als sys­te­ma­ti­sches Ver­sa­gen eines he­ge­mo­nie­un­fä­hi­gen Bür­ger­tums lesen: »Die ent­ste­hen­de Bour­geoi­sie konn­te ihre öko­no­mi­schen In­ter­es­sen letzt­lich eher mit einem zur halb­au­to­ri­tä­ren Mo­der­ni­sie­rung be­rei­ten Ob­rig­keits­staat als mit selb­stän­di­gen Bau­ern und Hand­wer­kern in Ein­klang brin­gen, die unter der In­dus­tria­li­sie­rung lit­ten.«

Das von den Au­to­ren an Hand der »Ar­bei­ter­ver­brü­de­rung« und des Wir­kens von Ste­phan Born dar­ge­stell­te Selbst­be­wusst­sein der jun­gen Ar­bei­ter­be­we­gung nö­tigt höchs­ten Re­spekt ab. Selbst­hil­fe, Selbst­ver­wal­tung, Wirt­schafts­de­mo­kra­tie, eine In­klu­si­on des weib­li­chen Pro­le­ta­ri­ats, ent­wi­ckel­te De­mo­kra­tie und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on zeich­ne­ten sie aus. Es hat viele Jahr­zehn­te ge­dau­ert, bis die Ar­bei­ter­be­we­gung Deutsch­lands wie­der auf die­sem Ni­veau war. Die Zei­tung Ver­brü­de­rung, in Leip­zig her­aus­ge­ge­ben, ist heute noch ein un­ge­heu­er le­ben­di­ges Zeug­nis die­ser Zeit.

In Zei­ten der Läh­mung ist es auch wich­tig, sich jenes Auf­bruchs zu er­in­nern, der nach 1860 ein­setz­te und eng mit der Neu­grün­dung von lo­ka­len und re­gio­na­len Grup­pen der Ar­bei­ter­be­we­gung ei­ner­seits und mit dem Wir­ken von Las­sal­le an­de­rer­seits ver­bun­den ist. Aus die­ser sich ver­bin­den­den Dop­pel­be­we­gung von unten wie von oben ent­stand schritt­wei­se eine au­to­no­me, po­li­tisch ei­gen­stän­dig or­ga­ni­sier­te Par­tei der Ar­bei­ter und im wei­te­ren einer so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Volks­be­we­gung. Ist es nur Nost­al­gie oder aber viel­leicht doch auch Auf­for­de­rung, wenn man die von Peter Brandt und Det­lef Leh­nert zi­tier­ten Worte von Lieb­knecht mit höchs­ter An­teil­nah­me liest: »Weil die so­zia­le und po­li­ti­sche Frage un­trenn­bar sind, er­heischt das In­ter­es­se der Ar­bei­ter, dass sie sich von ihren so­zia­len Geg­nern auch po­li­tisch tren­nen.« – Von links wird aber das heu­ti­ge fi­nanz­markt­ka­pi­ta­lis­ti­sche Kri­sen­ma­nage­ment bis­her nicht wirk­lich in brei­ter Front in Frage ge­stellt, son­dern eher der Schul­ter­schluss mit den Kri­sen­ver­ur­sa­chern ge­sucht, ›um die Märk­te zu be­ru­hi­gen‹.

Zwei­tens wird das Buch His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker her­aus­for­dern, was diese oder jene Wer­tung oder auch die Ge­samt­ein­schät­zung be­trifft. So fas­zi­niert die Deu­tung des Ver­sa­gens der SPD vor dem Ers­ten Welt­krieg und bei sei­nem Be­ginn, weil sehr plas­tisch ge­zeigt wird, dass die wich­tigs­te Dif­fe­renz nicht zwi­schen Lu­xem­burg und Bern­stein, nicht zwi­schen ideo­lo­gisch ›lin­ken‹ und ›rech­ten‹ Auf­fas­sun­gen war. Der fa­ta­le Haupt­kon­flikt be­stand vor allem zwi­schen stra­te­gisch ori­en­tier­ten Ak­teu­ren in der SPD, so­weit sie das ›Volk‹, die ›Ar­bei­ter‹ als Kraft an­er­kann­ten, ei­ner­seits und jenen wie Ebert, Schei­de­mann und vie­len an­de­ren, die vor allem die Be­wah­rung der Or­ga­ni­sa­ti­ons­macht der SPD an sich im Auge und pa­ni­sche Angst vor jedem nur mög­li­chen ›au­ßer­par­la­men­ta­ri­schen‹ Han­deln hat­ten. Die of­fe­nen stra­te­gi­schen Kon­flik­te, kul­tur­voll aus­ge­tra­gen, kön­nen nüt­zen, sie er­mög­li­chen Lern­pro­zes­se, er­lau­ben es, sich in Si­tua­tio­nen schnel­ler Ver­än­de­rung zu öff­nen. Die Fi­xie­rung auf das eng­ge­führ­te Ei­gen­in­ter­es­se der Or­ga­ni­sa­ti­on, die Furcht vor jedem Schritt ins Un­ge­wis­se, nicht Vor­her­zu­be­rech­nen­de da­ge­gen ist der Tod jeder lin­ken Po­li­tik. Brandt und Leh­nert zei­gen, wie auch am Ende der Wei­ma­rer Re­pu­blik der Mut zum ent­schie­de­nen Wi­der­stand fehl­te, als er noch mög­lich war – bei der Aus­schal­tung der Er­set­zung der SPD-ge­führ­ten Re­gie­rung Preu­ßens durch einen von Reichs­kanz­ler Papen ein­ge­setz­ten Staats­kom­mis­sar mit dik­ta­to­ri­schen Voll­mach­ten. ›Mehr De­mo­kra­tie wagen‹ heißt eben auch, mehr de­mo­kra­ti­sches Han­deln wagen. Die Nie­der­la­ge im Kampf ist auf jeden Fall hun­dert Mal mehr wert als die Schmach, sich nicht ge­wehrt zu haben. Und die Quel­le der De­mo­kra­tie liegt nun ein­mal nicht im Par­la­ment, so wich­tig es ist, son­dern im Volk!

Es ge­lingt den Au­to­ren, trotz oder auch wegen der Kürze ihrer Dar­stel­lung der kon­flikt­rei­chen Ge­schich­te der deut­schen So­zi­al­de­mo­kra­tie, sich auf den As­pekt des Ler­nen die­ser Or­ga­ni­sa­ti­on zu kon­zen­trie­ren. Be­son­ders ge­lun­gen ist dies in jenen Tei­len, wo dies auch am leich­tes­ten ist – bis 1945. Span­nend ist es, wenn den ge­gen­sätz­li­chen trei­ben­den Kräf­ten nach­ge­gan­gen wird, die sich aus der Logik der Mit­glie­der­par­tei und ihrer Iden­ti­tät, dem Stre­ben nach Aus­wei­tung der par­la­men­ta­ri­schen Macht­ba­sis und aus der in­sti­tu­tio­nel­len Logik des po­li­ti­schen Sys­tems selbst, sei es des Kai­ser­reichs, sei es der Wei­ma­rer Re­pu­blik, sei es Nach­kriegs­west­deutsch­lands, er­ga­ben. Die reale Po­li­tik war immer die Re­sul­tan­te aller drei Kräf­te.

Drit­tens ist die­ses Buch eine Selbst­be­fra­gung der Ge­schich­te der SPD vom Stand­punkt be­ken­nen­der So­zi­al­de­mo­kra­ten. In die­ser Ei­gen­schaft ist es für jene, die selbst mit der Lin­ken in Deutsch­land ver­bun­den sind, be­son­ders in­ter­es­sant. Dabei steht die Frage von so­zia­ler Frage und De­mo­kra­tie im Vor­der­grund, oder, wie es im Pra­ger Ma­ni­fest der Exil-SPD von 1933 hieß: »Durch Frei­heit zum So­zia­lis­mus, durch So­zia­lis­mus zur Frei­heit!« Die­ser An­spruch ist un­ein­ge­löst.

Die Au­to­ren be­gin­nen ihr Buch mit vol­lem Recht mit dem Satz: »Die So­zi­al­de­mo­kra­tie ent­stand aus der Ziel­set­zung, die Frei­heits­be­we­gun­gen des 19. Jahr­hun­derts auf de­mo­kra­ti­scher Basis fort­zu­füh­ren und mit Gleich­heits­for­de­run­gen zu ver­bin­den.« Und sie fügen hinzu: »›Links und frei‹ ge­hö­ren in der Ge­schich­te der So­zi­al­de­mo­kra­tie … un­trenn­bar zu­sam­men.«

Ge­mes­sen an dem An­spruch der Ver­bin­dung von De­mo­kra­tie und so­zia­ler Frage ist die jün­ge­re Bi­lanz der SPD, kri­tisch zu sehen, womit sich die Au­to­ren de­tail­liert aus­ein­an­der­set­zen. Unter ak­ti­ver Mit­wir­kung der SPD in Re­gie­rungs­ver­ant­wor­tung wur­den zwi­schen 1998 und 2009 die Rea­li­sie­rungs­be­din­gun­gen des neo­li­be­ra­len Fi­nanz­markt-Ka­pi­ta­lis­mus ge­stärkt, eine Po­li­tik um­ge­setzt, die zur heu­ti­gen Krise in der Eu­ro­päi­schen Union we­sent­lich bei­ge­tra­gen hat und die von den Au­to­ren auf­merk­sam ana­ly­sier­te Spal­tung der Ge­sell­schaft ver­schärft. Wie sie schrei­ben, hat­ten nun ge­ra­de die un­te­ren ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen in der SPD keine ver­läss­li­che Ver­tre­tung mehr. An­ge­sichts der Fol­gen, die der Ko­so­vo-Krieg für das Völ­ker­recht hatte (Irak, Li­by­en und nun Sy­ri­en sind ohne die­ses ›Vor­bild‹ nicht ver­ständ­lich), so sei hin­zu­ge­fügt, ist auch die Frie­dens­ori­en­tie­rung der SPD frag­wür­dig ge­wor­den.

Der in­ter­na­tio­na­le Ver­gleich, der im Buch mei­nes Er­ach­tens zu kurz kommt, zeigt, dass die Pro­ble­me der deut­schen So­zi­al­de­mo­kra­tie no­to­ri­sche Pro­ble­me aller so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en sind. Hin und her ge­ris­sen zwi­schen staats­tra­gen­der Rolle und so­zia­lem An­spruch, zwi­schen För­de­rung einer ka­pi­tal­do­mi­nier­ten Wirt­schafts­wei­se und Ge­rech­tig­keits- wie Teil­ha­be­for­de­run­gen der mehr oder min­der be­droh­ten Lohn­ab­hän­gi­gen, der Ju­gend, der Rent­ne­rin­nen und Rent­ner ist die Er­war­tung, eine so­zia­le De­mo­kra­tie durch­zu­set­zen, nicht auf­ge­gan­gen. Die grund­le­gen­den Macht­ver­hält­nis­se blo­ckie­ren bis­her wei­ter­ge­hen­de De­mo­kra­ti­sie­rung. Es feh­len aber auch die Stra­te­gi­en, diese Macht­ver­hält­nis­se dau­er­haft zu öff­nen.

Auch die kurze Re­gie­rungs­zeit Willy Brandts legt davon Zeug­nis ab. Es blieb bei einem zeit­wei­se so­zi­al ein­ge­heg­ten Ka­pi­ta­lis­mus; und der Bei­trag der So­zi­al­de­mo­kra­tie be­stand vor allem in der de­mo­kra­ti­schen wie frei­heit­li­che­ren Ge­stal­tung die­ses Ka­pi­ta­lis­mus. Ver­sagt haben an die­sem An­spruch auch alle Par­tei­en links von der So­zi­al­de­mo­kra­tie. Teil­wei­se war es ein Bünd­nis nach rechts wie 1918/19, dass eine ra­di­ka­le­re Um­ge­stal­tung der Ei­gen­tums­ver­hält­nis­se blo­ckier­te. Auch die Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen SPD und einer sich an der so­wje­ti­schen Par­tei­dik­ta­tur ori­en­tie­ren­den KPD der Wei­ma­rer Re­pu­blik stand einer lin­ken Wende hin zu Wirt­schafts­de­mo­kra­tie im Wege. Fatal wirk­te sich auch die Spal­tung Deutsch­lands aus.

Es kön­nen aber fast zu viele Ur­sa­chen dafür auf­ge­zählt wer­den, dass es nie ge­lang, eine Trans­for­ma­ti­on ein­zu­lei­ten, die über eine ka­pi­tal­do­mi­nier­te Wirt­schafts­wei­se hin­aus zeigt. Was mit so vie­len guten Grün­den er­klärt wer­den kann, muss ent­we­der als un­er­füll­bar be­trach­tet wer­den oder be­darf einer grund­sätz­lich neuen Klä­rung. Unter den Be­din­gun­gen des Fi­nanz­markt-Ka­pi­ta­lis­mus zu­min­dest hieße ›Mehr De­mo­kra­tie wagen‹ vor allem: ›Mehr so­zia­le De­mo­kra­tie wagen!‹. Ohne deut­lich ›we­ni­ger Ka­pi­ta­lis­mus‹ geht dies nicht. Die so­zia­le, öko­lo­gi­sche und de­mo­kra­ti­sche Ver­än­de­rung von Ei­gen­tums- und Macht­ver­hält­nis­sen steht damit auf der Ta­ges­ord­nung. Dies aber ist dann nicht mehr Teil der Ge­schich­te der So­zi­al­de­mo­kra­tie bis 2010, son­dern stellt die Zu­kunfts­fra­ge der Lin­ken ins­ge­samt neu. Wie­der geht es ums Ganze: um neue so­li­da­ri­sche Ver­hält­nis­se in Deutsch­land, Eu­ro­pa und der Welt, unter dem As­pekt so­zia­ler Ge­rech­tig­keit und so­zi­al­öko­lo­gi­scher Um­ge­stal­tung, für Frie­den durch eine völ­lig neue Art ge­mein­sa­mer Ent­wick­lung. Die ak­tu­el­le Krise ist dafür mehr als nur ein An­lass. Dar­über mit­ein­an­der offen zu spre­chen, kann die­ses auf­klä­ren­de Buch von Peter Brandt und Det­lef Leh­nert hel­fen. Die For­mel ›Durch Frei­heit zum So­zia­lis­mus, durch So­zia­lis­mus zur Frei­heit!‹ aber ist ak­tu­ell. Hic Rho­dus, hic salta!

 

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