1. Language Emancipation
Das ist der Titel eines 2011 im International Journal of the Sociology of Language erschienenen Aufsatzes der beiden skandinavischen Linguistinnen Leena Huss (Universität Uppsala) und Anna-Riitta Lindgren (Universität Tromsö). Er soll im folgenden seines Übersichtscharakters und seiner interessanten Anregungen wegen als Orientierung dienen.
Language emancipation heißt im Grunde, dass Sprache aus einem negativen (unterdrückten, stigmatisierten) in einen positiveren Status verbessert wird. Von großer Bedeutung ist nun, dass bezüglich der Initianten dieser Emanzipation zwei Interpretationen möglich sind:
a) Die Sprecher einer Sprache engagieren sich aktiv dafür, den Status ihrer Sprache zu verbessern: die Sprecher emanzipieren sozusagen ihre Sprache ›von unten‹.
b) Eine Sprache /Sprachform wird von einer äußeren Instanz in ihrer Bedeutung und ihrem Status angehoben. Die unterdrückte Sprache wird ›von außen‹, bzw. ›von oben‹ emanzipiert, z.B. von einer Regierung. Diese beiden Aspekte werden von den Autorinnen ausführlich erörtert. Es ist nicht unwichtig, dass die Vokabeln Emancipation oder emancipate durchaus in der Fachliteratur Verwendung fanden und finden, dies aber eher nicht in einem technisch-terminologischen Sinne.
Hier aber sollte language emancipation von den beiden Autorinnen als neue Begrifflichkeit eingeführt werden.
Im Folgenden sollen die soeben in die Fälle a) und b) unterschiedenen Erscheinungsformen der language emancipation getrennt erläutert werden und dabei zeigt sich, dass besonders der unter b) skizzierte Fall in den letzten Jahren sehr aktuell geworden ist, insofern durch die Auflösung größerer Staatsgebilde (Vielvölkerstaaten) im Zuge eines neu aufkommenden Nationalismus ›von oben‹, d.h. staatlicherseits, ehemals dominierende Sprachen ins zweite Glied und die einstmals unterdrückten Sprache der jeweiligen Ethnien in den Vordergrund gerückt werden.
2. Wie man seine unterdrückte Sprache emanzipiert
2.1 Stationen der Emanzipation
Der aktive Prozess der Emanzipation aus der Sicht von Minderheiten wurde schon in IABLIS 2009 unter dem Titel Selbstbehauptung: das Überleben sprachlicher Minderheiten beschrieben. Mit einigen Beispielen lässt sich zeigen, wie es in leider zu wenigen Weltgegenden gelungen ist/gelingt, ins Hintertreffen geratene Minoritätensprachen zu revitalisieren, so etwa in den USA (Navajo), Neuseeland (Maori), Mittelamerika (besonders Maya), Europa (besonders Skandinavien: Saamisch). Die Strategien, mit denen sich Minoritäten Gehör verschaffen und ihren Status verbessern, sind vielfältig:
a) Man erreicht, dass die unterprivilegierte Sprache in staatlichen Schulen neben der ›Hauptsprache‹ unterrichtet wird.
b) Alternativ dazu: Man gründet selbst Schulen, in denen die Minoritätensprache unterrichtet wird (Beispiel: Navajo (neben Englisch) in der Rock Point Community School/Arizona).
c) Man verfasst im Zuge dessen Lehrbücher und Grammatiken.
d) Man nutzt alle zugänglichen Medien: Presse, Radio, TV, Internet.
e) Man lanciert Vertreter im politischem Kontext: kommunal, überregional, bis hin zu einer parlamentarischen Repräsentation, so dass Aktionen in diesen Bereichen zur Propagierung der eigenen kulturellen und sprachlichen Belange genutzt werden können.
Eine wesentliche Beobachtung ist hier am Platze: Huss/Lindgren weisen explizit darauf hin, dass die unterdrückten Sprachen nicht unbedingt vom Aussterben bedroht sein müssen (2011:8). Eine Sprache kann durchaus über eine große Sprecherzahl verfügen, ist damit nicht in ihrer Existenz bedroht, kann aber stigmatisiert sein, so wie das Finnische oder Norwegische im 19. Jahrhundert. Emanzipation ist somit nicht gleichbedeutend mit Revitalisierung.
2.2 Emanzipation in der Sprachpraxis
Es ist hinlänglich bekannt, dass mitten in Europa (und dies keineswegs im Kontext bedrohter Minderheitensprachen) Bestrebungen im Gange sind, Sprachen von englischsprachigen Einflüssen zu ›befreien‹ und abzuschirmen. Dies geschieht unter anderem seit einiger Zeit in Deutschland und besonders auffällig in Frankreich: man ersetze also z.B. ›Computer‹ durch ›Rechner‹ oder ›Ordinateur‹. In den Sprachen Nordeuropas, besonders im Isländischen, ist dieser Prozess sehr gut zu beobachten.
Das Ganze wird gerne mit dem Etikett ›Purismus‹ versehen. Dabei muss die oben von Huss und Lindgren getroffene Definition zur language emancipation etwas gelockert werden: Wenn im Deutschen oder Französischen der Ausschluss englischer Wörter gefordert wird, so ist dies nicht unbedingt eine ›Verbesserung eines negativeren Status in einen positiveren‹, aber man könnte hier dennoch ohne weiteres von gewissen ›Emanzipationsbestrebungen‹ sprechen.
Um so mehr kommt dieser den Wortschatz einer Sprache betreffende Emanzipationsfaktor bei der Revitalisierung von bedrohten Sprachen zum Tragen, und hier hat er einen wesentlich wichtigeren Stellenwert, denn er symbolisiert die ›Verbannung‹ des durch Kolonialmächte hinein getragenen Vokabulars und stellt in diesem Kontext schon eher eine ›Befreiung‹ und ›Nach-/Ver-besserung‹ dar. Im Folgenden geben wir einige Beispiele für diesen ›lexikalischen‹ Emanzipationsprozess. Dieser betrifft in allen Fällen Ethnien innerhalb eines Landes mit multilingualem Hintergrund. Es müssen allerdings zwei Fälle unterschieden werden:
a) im gängigen Wortschatz der Sprache befinden sich Lehnwörter (Englisch, Spanisch etc.), die entweder der phonologischen Form der Sprache angepasst sind oder unverändert übernommen sind. In beiden Fällen können diese Wörter dann durch Neologismen aus dem ›eigenen‹ Sprachmaterial ersetzt werden.
b) neue Konzepte, die noch nicht in irgendeiner Form im Vokabular vertreten waren, können ebenso durch Neologismen versprachlicht werden.
2.2.1 Mayasprachen
Im Aufsatz zur Selbstbehauptung von Minoritäten (IABLIS 2009) wurde insbesondere die Situation in Mittelamerika (Mexiko und Guatemala) erwähnt. Dort ist man seit einiger Zeit bemüht, diverse Maya-Sprachen wiederzubeleben. Im Zusammenhang mit den intensiven Anstrengungen, diese Sprachen an Schulen und Universitäten zu unterrichten (mit der dazu nötigen Erstellung von Lehrmaterialien), ist die Reform des Vokabulars zu erwähnen.
Ein guatemaltekisches Gremium unter der Leitung von Tuyuc Sucuc, R.O. Camposeco und M. Ventura hat unter dem Original-Kiche’-Titel: K’AK TÄQ TZIJ RE KICHE‘ TZIJ ein umfangreiches Werk veröffentlicht – mit dem spanischen Untertitel Actualizacion lexical idioma Maya Kiche. Hier wird explizit das internationale (= europäische, d.h. auch aus dem Altgriechischen stammende, zumeist aber lateinisch-spanische) Lehnwort-Vokabular durch genuine Maya-Pendants ersetzt. Man betrachte:
Spanisches Lehnwort |
Maya-Entsprechung |
|
Numero (Zahl) |
ajila---------b’äl zählen----INSTRUMENT |
»das Zählinstrument« |
Garaje (Garage) |
k’ol-------------b’äl------------chich‘ aufbewahren—LOKATION—Auto |
»Autoaufbewahrungsort« |
Crater (Vulkan-Krater) |
u------------------chi‘--------xkanul POSSESSIV----Mund ----Vulkan |
»Mund des Vulkans« |
Bei Tätigkeitsbezeichnungen wird gerne ein sog. AGENS-Präfix mit einem Basisverb verbunden, was durchaus mit Bildungen aus dem Deutschen auf -er (für das Agens) vergleichbar ist: docente (was ja aufgrund seines lateinischen Ursprungs eine Partizipialform von docere (lehren) ist und so ins Spanische und Maya kam), wird ersetzt durch:
aj -------- --------tij | > ajtij »der Lehrende« |
Agenspräfix- lehren |
Exkurs:
In der Linguistik unterscheidet man im Rahmen der Nomination (der Benennung von Personen und Gegenständen) etikettierende und deskriptive Verfahren: eine Bildung wie LEHRER ist deskriptiv insofern, als sie direkt analysierbar ist in ein eine Tätigkeit bezeichnendes Verb und den Exponenten dieser Tätigkeit. Ein Wort wie ›Arzt‹ jedoch ist zunächst nicht transparent, ist ein einfaches Etikett. Im Mayabeispiel AJTIJ liegt also eine deskriptive Form vor, und dieses Prinzip wird beim Ersetzen fremdsprachiger Wörter durch autochthone Formen zirkumglobal praktiziert, sei es durch Ableitungen (Derivation) wie bei ›Lehr-er‹ oder Komposita (wie etwa in ›Rasenmäher‹) oder auch in satzartigen Konstruktionen z.B. bei der Namengebung à la ›dances with wolf‹ (der mit dem Wolf tanzt) statt ›Kevin‹.
2.2.2 Navajo
Auch für den Erhalt des Navajo (New Mexico) werden seit Jahren immense Anstrengungen geleistet. Einen Meilenstein bei der Revitalisierung dieser Sprache ist die Gründung der Rock-Point-Community-School. Obwohl es keine offizielle Stelle zur Sprachnormierung (inkl. Kreation von Neologismen) gibt,ist es dennoch den Bemühungen von Einzelpersonen zu verdanken, sei es durch mündliche Propaganda oder auch vereinzelte Publikationen, dass anglophone Termini durch Navajo-Pendants ersetzt wurden und werden. Zu den bekanntesten Beispielen gehören die Navajo-Varianten für Autoteile. Hier werden auf der Basis des des Lexems chidi (car) Komposita gebildet:
Englisch: | Navajo: |
headlights | chidi binaa |
(Frontscheinwerfer) | car(s) eyes |
Englisch: |
Navajo: |
tire | chidi bikee |
(Reifen) | car(s) foot |
Der Bestandteil chidi (car ) taucht dann auch bei der Variante für Flugzeug auf:
airplane | = chidi naat’a’i | car flying |
Etwas komplexer – und noch etwas deskriptiver, da satzartig daherkommend – ist der Ausdruck für Telefon, der selbst wiederum in der Navajo-Gemeinde in unterschiedlichen Varianten diskutiert wurde. Durchgesetzt hat sich wohl:
beesh | bee | hane’i | apparatus through which one tells |
Instrument | mit | sprechen |
3.2.3 Maori
Schon lange sind in Neuseeland Aktivitäten rund ums Maori im Gange. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Wörterbücher erstellt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wacht eine MAORI LANGUAGE COMMISSION über den Erhalt der Sprache. Dazu gehören, wie im bereits erwähnten Aufsatz (IABLIS 2009) ausgeführt, das Durchsetzen von in Maori abgehaltenem Schulunterricht, universitäre Aktivitäten, Pressepublikationen, Rundfunk, Fernsehen, Internet – alles dies in Maori.
Das Entfernen englischsprachiger Wörter und deren Ersatz durch Maori-Bildungen mag auch hier als Emanzipationsstrategie gewertet werden. Man vergleiche:
Engl. Lehnwort |
Maori-Pendant |
Ink (Tinte) | wai mangu |
water black |
|
Mathematics | panga----------ran |
relationship---many | |
Auch an Kalenderbezeichnungen hat man sich herangewagt, wobei – und das gilt für alle hier erwähnten Sprachen – gewisse Generationskonflikte nicht auszuschließen sind. Dies bedeutet, dass die ältere Generation sich mit den Neologismen nicht so ohne weiteres anfreunden kann. So hat man die Bezeichnungen der Wochentage, die ursprünglich englisch waren, ins Maori umgesetzt:
Monday | ra----hina |
etymologisch: moon-day, wird dabeiwörtlich übersetzt: | day---moon |
2.2.4 Hawaiianisch
Kimura und Counceller (2009) geben einen detaillierten Überblick über die Wortneuschöpfungen im Hawaiianischen und Aleutischen (Alaska). Wir greifen hier die erstgenannte Sprache heraus. Dabei drängt sich ein Vergleich mit den Maya-Sprachen und dem Maori auf, denn auch hier existiert ein Gremium, das die lexikalischen Erneuerungen kontrolliert, das HAWAIIAN LEXICON COMMITTEE. Die Ergebnisse sind im Internet unter dem Label Mamaka Kaiao (www.ulukau.org) allgemein zugänglich.
Während ›in früheren Zeiten‹ in vielen Fällen das englische Vokabular in den hawaiianischen Redefluss eingebaut wurde, versucht man nun – wie in den oben genannten Sprachen – komplexere Ausdrücke aus dem Fundus der Muttersprache zu konstruieren. Es ist zu beobachten, dass das klassische Wörterbuch des Hawaiianischen, Pukui/Elbert (1.Auflage schon 1957) in einigen Fällen englische Originalausdrücke für moderne technische Phänomene beibehält, in anderen jedoch bereits genuin-hawaiianische Bildungen angibt. Nun kommt es im Vergleich des Wörterbuchs mit der neueren Mamaka Kaiao-Version zu interessanten Fällen:
a) Das Wörterbuch von 1957 gibt für englisch radio als unveränderte Übernahme radio an.
b) In der neueren Fassung erscheint dann der Neologismus
Englisch: | Hawaiianisch: | |
radio | pahu ho’olele | leo |
box send out | voice |
c) Interessant ist, dass die hawaiianische Version für Glühbirne im Lexikon von 1957 als:
aniani kukui | uila | |
glas lamp | electric | |
komponiert wird. Dies wird offensichtlich in der neueren Version ersetzt durch
light bulb = | ’opu’u kukui | |
bud illuminate |
2.2.5 Ein kurzer Blick nach Australien
Die ursprüngliche Zahl der ›lebenden‹ australischen Sprachen ist mit der Zeit erheblich geschrumpft. Aus diesem Grund sind viele Aktivitäten zur Restaurierung und Revitalisierung im Gange. Von Seiten der Linguistik wurden in den letzten Jahren in beachtlichem Umfang Grammatiken, Wörterbücher und Textsammlungen zu manchen Sprachen erstellt, doch bleibt immer noch eine beträchtliche Zahl von Sprachen, die ein Mauerblümchendasein führt. Wenn es darum geht, diese etwas im Verborgenen blühenden Sprachen aufzupäppeln, so muss also zuerst in einer Art Bestandsaufnahme festgestellt werden, was aus früheren Quellen vorliegt.
Die betroffenen Sprecher müssen mit Sicherheit größtenteils wieder an ihre ›alte‹ Sprache herangeführt werden. Selbst wenn einige noch über rudimentäre Kenntnisse verfügen, so wird ihre Verständigungsform ein ›code-mixing‹ aus australischer Muttersprache und Englisch sein. (vgl. zu den Zwischenstufen unten Tatarisch). Also muss zunächst die Originalsprache revitalisiert werden und dann geht man – so wie das oben für die einzelnen Sprachen demonstriert wurde – daran, die vermeintlich ›fremd anmutenden‹ Lehnwörter durch Neologismen zu ersetzen. Schöne Beispiele, die strukturell denen aus den bisher genannten Sprachen entsprechen, finden sich bei Amery 2009:90 zum Kaurna, einer südaustralischen Sprache:
Europäisches Lehnwort | Kaurna –Neologismen |
computer | mukarndo mukamuka = Gehirn, karndo =Blitz |
telephone | warraityatti warra= Stimme, kaiya= senden, --tti = Ding |
pizza | kurimai kuri = Kreis, mai= Essen |
microwave | tukuwingkura tuku= klein/mikro, wingkura= Welle |
Emanzipation erfolgt also in zwei Schritten: zuerst ist die in Frage kommende Sprache als solche von anderen (sie u.U. unterdrückenden) abzugrenzen, zum Beispiel als eigenständige Form, wobei Minoritäten sich häufig gegen plumpe Vorurteile zur Wehr setzen müssen, sie sprächen ja nur einen unbedeutenden ›Dialekt‹. D.h. die Sprache ist intern mit ihrem eigenen Vokabular und ihrer eigenen Grammatik zu erfassen. In einem weiteren Emanzipationsschritt kann dann, wie oben gezeigt, der fremdsprachige Einfluss zurückgedrängt werden, eben durch Neologismen aus der eigenen Sprache.
3. Nationalismus und sprachliche Emanzipation
Hiermit kommen wir zur oben unter b) skizzierten Form der language emancipation. Im Zuge politischer Veränderungen der letzten 30 Jahre ist besonders deutlich geworden, dass die Aufspaltung ehemals größerer politischer Blöcke in ihre ›Einzelteile‹ zu verstärkten Restaurationstendenzen geführt hat, die auch auf sprachlichem Sektor ihre Auswirkungen haben. Dies betrifft im eurasischen Raum besonders die alte Sowjetunion und das ehemalige Jugoslawien.
3.1 De-Serbianisierung
Ein klassisches Beispiel für Umstrukturierungen im Rahmen der Sprachpolitik liefert die Auflösung Jugoslawiens in seine alten Teilrepubliken. Es war schon immer in der Diskussion, welchen Status denn nun ein sogenanntes Serbo-Kroatisch eigentlich habe: Ist es eine Sprache, eine Hauptsprache (Serbisch) mit einem Dialekt (Kroatisch) oder etwas drittes? – dabei ganz zu schweigen von den diese beiden ›Sprachen‹ weiter differenzierenden Untervarianten.
So avancierte die sogenannte ›De-Serbianisierung‹ nach 1989 zu einem äußerst wichtigen Politikum. In Bosnien mit seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung hat man ›Orientalismen‹ (letztlich Wörter arabischen, persischen oder türkischen Ursprungs) ›wiederbelebt‹, so dass sich in vielen Fällen eine lexikalische Opposition bosnisch vs. serbisch/kroatisch ergibt:
Bosnisch |
Serbisch und Kroatisch (mit slavischer Etymologie) |
|
krank | hasta (*türkisch) | bolestan |
Nachricht | haber(*arabisch) | vijest |
Sitte | adet (*arabisch) | obicaj |
Die Trennung zwischen Kroatisch und Serbisch ist wesentlich dramatischer. Diese ›Re-Kroatisierung‹ wird besonders in den Medien propagiert (Stichwort: Novogovor = Neue Sprache) und stützt sich zum größten Teil auf slavisch basierte Neologismen – im Gegensatz zu nicht-slavischen Lehnwörtern, die noch im Serbischen gebraucht werden.
›Neu-Kroatisch‹ |
Serbisch |
|
Pass | putovnica | pasos |
Karte | zemljovid (›Erd-Blick‹) | mapa |
Ausweis | domovnica | licna karta (persönliche Karte) |
Botschafter | veleposlan | ambassador |
3.2. De-Russifizierung
Der unter dem Schlagwort ›De-Russifizierung‹ erfasste Prozess des Zurückdrängens russischer Einflüsse aus ethnisch nicht rein russischen Gebieten erfolgte in einer ersten Welle schon nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Mit dem Erstarken der Sowjetunion kam wiederum der gegenläufige Prozess in Gang, also eine Russifizierung. Nach der Auflösung dieses Vielvölkerstaates drehte sich das Blatt, denn seit 1989 ist erneut eine De-Russifizierung festzustellen. Diese verläuft in sehr unterschiedlicher Weise. In den neu entstandenen souveränen Staaten mit einer eindeutigen russischen Minderheit konnte die jeweilige Regierung die bis dahin neben dem Russischen bestehende Sprache relativ problemlos zur Staatssprache deklarieren, so etwa in Litauen, das über eine russisch sprechende Minorität von nur 5 Prozent verfügt.
Eine wesentlich kompliziertere Lage existiert in Kasachstan. Dort liegt der Anteil von Kasachen zu Russen (bezogen auf die Gesamtbevölkerung) in einem Verhältnis von 40 zu 30 Prozent vor, und dies hat in den letzten Jahren zu einem ständigen Hin und Her in der Sprachpolitik geführt. Während nun mehr als die Hälfte der Kasachen Russisch sprechen kann, ergibt sich eine eklatante Asymmetrie, insofern nur um die 2 Prozent der Russen über eine kasachische Kompetenz verfügt, so dass die Forderungen seitens der Regierungsstellen, der russische Bevölkerungsteil müsse sich anpassen und Kasachisch lernen, auf große Schwierigkeiten und Widerstände trifft. Man kann die jetzige Situation als unentschieden bezeichnen, denn Kasachisch (eine Turksprache) und das Russische besetzen jeweils gleichermaßen wichtige Bereiche des öffentlichen Lebens: Das Kasachische neuerdings im politischen und medialen Bereich, das Russische traditionellerweise im wirtschaftlichen Kontext. Der Kompromiss: Beide Sprachen koexistieren und das Russische erhält den Status einer Sprache für die ›interethnische Kommunikation‹. Hier kann also nicht von einer kompletten Emanzipation des Kasachischen gesprochen werden – im Gegensatz zur Situation des Litauischen.
Die Tatsache, dass Regierungen über den Status von Sprachen befinden, ist von entscheidender Bedeutung. Denn hier gilt – wie einleitend vorausgeschickt – die b-Variante der language emancipation: Die ›Obrigkeit‹ emanzipiert in diesem Falle die bis dahin marginalisierte Sprache und nicht unbedingt Aktivisten ›von unten aus dem einfachen Volk‹.
Ein weiterer Aspekt der staatlich verordneten Emanzipation ergibt sich durch die Ersetzung der kyrillischen Schrift durch die lateinische. Dies wurde z.B. in den turksprachigen Republiken Turkmenistan und Usbekistan durchgeführt. Dabei zeichnen sich weitere Trends ab: Während Usbekistan eine pro-westliche Orientierung praktiziert, tritt die Affinität der Turkmenen zu ihren türkei-türkischen Nachbarn immer stärker zum Vorschein. (Wir wollen hier allerdings nicht näher über die immer noch virulenten Ideen des Panturkismus eingehen).
Als übertriebene Version der Emanzipation allerdings gilt – in den Augen von Amnesty International – die Sprachpolitik in Estland. Es wird berichtet, dass Russischsprecher aufgrund ihrer schlechten oder nicht vorhandenen Estnischkenntnisse (Estnisch ist eine finno-ugrische Sprache) bei der Suche nach Anstellungen diskriminiert würden.
Ebenfalls zu den oben genannten Turksprachen gehört das Tatarische. Allerdings liegt hier der Fall etwas anders, denn das politische Gebilde Tatarstan ist nicht wie Turkmenistan oder Azerbajdschan ein selbstständiger Staat, sondern eine autonome Teilrepublik der Russischen Föderation mit der Hauptstadt Kazan. Hier wurde (wie in Turkmenistan und Usbekistan) zunächst die kyrillische Schrift zugunsten der lateinischen abgeschafft (1999), doch 2004 wurde das Ganze wieder zurückgeschraubt und die kyrillische Schrift wieder eingeführt. Trotz dieses Hin und Her können emanzipatorische Bemühungen dingfest gemacht werden, besonders im Vokabular.
Wertheim (2002) beschreibt die Intentionen der tatarischen Sprachplaner im Detail. Dabei zeigt sich, dass hier, wie in vielen anderen Weltgegenden, bei der Emanzipation einer Erstsprache immer wieder Parallelen auftreten: Man versucht, Lehnwörter auszumerzen, besonders russische, und durch Neologismen zu ersetzen.
Im Tatarischen kommt jedoch hinzu, dass man, des kulturellen Erbes wegen, durchaus nicht auf ältere arabische oder persische Wörter verzichten will. Trotz allem ist das angestrebte ›reine Tatarische‹ aufgrund der langen Durchdringung von Russisch und Tatarisch letztendlich nur eine von sechs möglichen Sprachformen. Wertheim (ebd:21) unterscheidet neben der reinen, vom Russischen völlig unbeeinflussten Form a) noch:
b) einen tatarischen Stil mit wenigen russischen Elementen (z.B. Konjunktionen)
c) eine überwiegend tatarische Form mit relativ vielen russischen Einsprengseln
d) eine russisch basierte Form mit gleich vielen tatarischen Elementen
e) eine russisch basierte Form mit wenigen tatarischen Formen
d) reines Russisch.
Die hier vorgenommene detaillierte Differenzierung kann durchaus gewisse Stationen von sprachlicher Emanzipation wiedergeben:
Die Aktivisten, die eine sprachliche Emanzipation propagieren, könnten gewisse ›Zwischenerfolge‹ erzielen: Man kommt vom reinen Russischen (bei einem ethnischen Tataren) über ›ein wenig‹ Tatarisch über ›mehr Tatarisch‹ zum ›reinen Tatarischen‹.
Die Sprecher könnten also, je nach ihrem jeweiligen Idiolekt, diesen unterschiedlichen Stationen zugeordnet werden und könnten sich von Position zu Position hin zum ›reinen Tatarischen‹ verbessern.
Bei der Spezialliteratur zu allen oben genannten Sprachen fällt immer wieder auf, dass sich diese Sichtweise durchaus als zutreffend erweist: Dann gibt es z.B. ethnische Navajo, die ihre Sprache überhaupt nicht beherrschen, solche, die English mit wenig Navajo mischen, solche, die immer noch über viele englische Vokabel in ihrem Navajo verfügen und solche, die im Idealfall reines Navajo sprechen: Manche sind ein wenig emanzipiert, manche mehr und einige völlig.
3.3. Neuere Entwicklungen
Am 9.7.2011 wurde die Unabhängigkeit des Südsudans ausgerufen. Betrachtet man die sprachliche Situation dort, so sollte man nicht sonderlich überrascht sein: Hier und in vielen anderen afrikanischen Staaten ist eine große Zahl verschiedener Sprachen aus unterschiedlichen Sprachfamilien anzutreffen. Man geht von 50 – 60 Sprachen aus. (Man hüte sich davor, hier und in Afrika generell von Dialekten zu sprechen. Dies ist eine hartnäckige falsche Einschätzung).
Angesichts der großen Zahl dieser Sprachen hatte man – bereits als ehemaliger Teil des Sudans – Englisch neben Arabisch in den Status der lingua franca erhoben. Kaum war dieser neue Staat jedoch vier Wochen ›alt‹, da – so offenbar nur über einen Wikipedia-Link erfahrbar – soll der südsudanische für Kenia zuständige Botschafter verkündet haben, dass man das Arabische durch das Swahili als lingua franca ersetzen wolle in der Absicht, sich vom nordafrikanisch-arabischen Einfluss zu lösen und sich den südöstlichen Nachbarn (Kenia, Uganda) anzunähern. Auch dies mag als Akt der Emanzipation verstanden werden.
4. Antagonismen und mögliche Sackgassen
Wenn im ersten Teil dieser Ausführungen von den Aktivitäten einiger Minoritäten die Rede war, so darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass die Protagonisten der Revitalisierung, wie zu erwarten, nicht selten Widerständen seitens der Staaten und ihrer Behörden ausgesetzt sind. Als weiterer Faktor der Irritation erweist sich u.a. auch, dass innerhalb der Ethnien im Detail oft Kontroversen entstehen, wenn es um die Akzeptanz von Neologismen geht: während ein Teil der Ethnie die Kreativität bei der ›Erfindung‹ von Neologismen zu schätzen weiß, insbesondere bei der Namengebung für moderne Errungenschaften der Technik, pochen andere wiederum darauf, man solle auf diese neuen Vokabeln verzichten, weil sie Gegenstände oder Institutionen bezeichnen, die der eigenen Kultur fremd sind.
In einer hier aus Platzgründen nicht komprimierbaren Fülle von Spezialaufsätzen zur Sprachpolitik rund um den Globus wird explizit (Land für Land, Region für Region) diskutiert, welche Politik staatlicherseits zu beobachten ist. Es geht dabei u.a. nicht nur darum, wie in Kap. 3 geschildert, dass nach der Auflösung größerer politischer Blöcke bestimmte Einzelstaaten per Gesetz Sprachen primären oder sekundären Status einräumen, es geht auch darum, welche Probleme existierende Vielvölkerstaaten noch immer mit sich ›herumschleppen‹.
5. Vielvölkerstaaten und ›offizielle Sprachen‹
Die Sowjetunion WAR ein Vielvölkerstaat. Gleiches gilt aber auch aktuell für die Nachfolgerepubliken, wie oben gezeigt, denn auch in diesen kleineren politischen Gebilden ist immer noch eine ethnische Vielfalt zu beobachten. Dies gilt insbesondere für Kasachstan, denn dort – und das wurde oben nicht erwähnt – leben auch Usbeken und Tadschiken und einige andere Ethnien. Wie verhält es sich nun mit anderen Staaten in ähnlicher Situation?
5.1 Indien
Die Angaben zur Zahl der Sprachen in Indien schwankt erheblich. Hier bereitet die leidige Frage, was Einzelsprache und was Dialekt sei, große Probleme. Selbst wenn man sich auf die niedrigste Zahl beschränkt, also um die 500, so wird dennoch klar, wie kompliziert eine Sprachpolitik in diesem Land sein muss.
Neuere Angaben notieren etwa 30 Sprachen mit mehr als 1 Million Sprechern (die größte Gruppe ist das indogermanische Hindi mit über 400 Millionen Sprechern. Dem folgen – ebenfalls indogermanischen Ursprungs – Bengali mit 85 Millionen und Gujarati mit knapp unter 50 Millionen Sprechern. Die nicht zu den indogermanischen gehörenden dravidischen Sprachen (insgesamt über 200 Millionen) nehmen ebenfalls einen breiten Raum ein: Telugu an die 75 Millionen, Tamil um die 60 Millionen, Kannada um die 40 Millionen und Malayalam um die 35 Millionen.
Den nächsten Block bilden weitere 30 Sprachen mit 100.000 bis 1 Million Sprechern, gefolgt von weiteren etwa 60 Sprachen mit 10.000 bis 100.000 Sprechern. An die 200 Sprachen weisen Stärken zwischen 1000 und 10.000 auf, während um die 150 Sprachen unter 1000 Sprechern liegen.
Ein Problem ergibt sich beim Blick auf die als offiziell ausgezeichneten Sprachen. Deren Status sollte sich nach der Zahl der Sprecher richten, wobei man eigentlich, bezogen auf eine Basis von 1 Million, von 30 ausgehen sollte. De facto aber sind es nur 22. Zu den nicht ›berücksichtigten‹, also nicht als offiziell anerkannten, gehören u.a. Bhili (3-4 Mill. Sprecher) und u.a. auch Garwhali (3 Mill. Sprecher). Diese beiden Sprachen werden in ihrem Status nicht unbedingt als bedroht eingestuft, obwohl im Falle des Garwhali – im Gegensatz zum Bhili – gewisse Anzeichen für eine allmähliche Verschlechterung sprechen.
Nichtsdestoweniger wäre es nicht verwunderlich, wenn im Falle des Bhili Aktivitäten aufkämen, für die Sprache einen offiziellen Status zu fordern und im Falle des Garwhali ist der Ruf nach ›Rettungsbestrebungen‹ laut geworden.
5.2 Nigeria, Papua Neuguinea, Indonesien
In Nigeria werden ungefähr 500 veschiedene Sprachen registriert. Amtssprachen sind neben Englisch Hausa, Yoruba, Edo, Efik, Ful, Idoma, Igbo und Kanuri. Diese Sprachen sind sehr verschiedenen Sprachfamilien zuzuordnen. Dass sie offiziellen Status haben, liegt auch hier prinzipiell an der hohen Zahl der Sprecher.
Wenn nun für Papua Neuguinea die enorme Zahl von 800 Sprachen angegeben wird, so sollte man wissen, dass diese Sprachen allesamt im Schnitt wenige bis sehr wenige Sprecherzahlen aufweisen. Einen offiziellen Sprachstatus nimmt keine dieser Sprachen ein. Dieser obliegt neben dem Englischen dem Tok Pisin, also der auf dem Englischen und einem austronesischen Mix bestehenden Pidgin.
Wenn für Indonesien über 700 Sprachen angegeben werden, so sollte man bedenken, dass das Gros dieser Sprachen zum Zweig des Westlichen Malayo–Polynesischen des Austronesischen gehört, d.h. diese Sprachen sind im Gegensatz zu denen in Papua-Neuguinea oder Nigeria sehr eng miteinander verwandt, so dass die einzelnen Ethnien aus diesem Grund möglicherweise wesentlich weniger Widerstände gegen den offiziellen Status des Indonesischen anzumelden haben und auch kaum emanzipatorische Gelüste verspüren. Es mag sein, dass sie im einen oder anderen Falle ihre eigene Sprache schon fast wie einen Dialekt des Indonesischen empfinden – obwohl dies aus neutraler linguistischer Sicht nicht zutrifft.
Literatur
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HILL,P, »Post-1989 Lexical Changes in Slavonic Languages«, ASEES,20,1/2, 2006, S. 173-193
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SIMPSON, A., Language and national identity in Asia, 2007, Oxford University Press
TUYUC SUCUC, R.O: CAMPOSECO & M. VENTURA, K’ak ‘TÄQ TZIJ RE KICHE ‘TZIJ (Actualizacion Lexical Idioma Maya K’iche’, Academia de Lenguas Mayas de Guatemala, 2003 ( kann unter Idioma Ki’che ›gegoogelt‹ werden)
WERTHEIM, S., Language »Purity« and the De-Russification of Tatar, Berkeley Program in Post-Soviet Studies, 2002, University of Berkeley
Haw. Wörterbuch online